Читать книгу Flucht von Burg Ravensmoor - Ursula Isbel-Dotzler - Страница 7
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Оглавление»Und was machen wir jetzt?«
Ratlos sahen wir uns an. Stevie Trelawny war nicht zu Hause. Vielleicht führte er gerade die Hunde aus, denn sie bellten nicht, als wir den Klingelzug betätigten und das Scheppern der Glocke erklang. Nur die Rabenkrähen krächzten auf dem Dach des weiß gekalkten Wohnhauses und die Pferde wieherten von der Koppel herüber.
Kringle war kaum zu bändigen. Er wieherte schrill zurück, machte einen langen Hals und scharrte mit den Hufen, während Flora schnaubte und nervös tänzelte.
»Dann warte ich eben, bis er kommt«, sagte Kim. »Findest du den Weg allein zurück?«
Ich war nicht sicher. Auf dem letzten Drittel der Strecke hatte Kim mehrere Abkürzungen durch ein Dickicht und einen Hohlweg genommen, weg von der Küste. Wir waren durch ein Wäldchen geritten, in dem wilde Hortensien blühten und schwarzgrüne Eiben den Blick auf den Himmel versperrten.
Ich sah auf die Uhr; es war halb sechs. In spätestens einer Stunde sollte ich zu Hause sein. Das war sowieso nicht zu schaffen, auch nicht, wenn ich sämtliche Abkürzungen nahm, die es gab.
»Und wie willst du später nach Ravensmoor kommen?«, fragte ich.
»Zu Fuß, ist doch klar.«
»Aber du kannst unmöglich in der Dunkelheit den langen Weg über den Klippenpfad nach Hause gehen.«
»Wieso nicht? Ich kenne mich aus, ich bin schließlich hier aufgewachsen. Und wir haben Vollmond. Zur Not schlafe ich bei Stevie im Stall, falls er erst spät zurückkommt.«
»Dann alarmieren deine Eltern die Polizei, wenn du die ganze Nacht wegbleibst.«
»Ach, die merken überhaupt nicht, dass ich nicht da bin. Ich esse oft nicht mit ihnen zu Abend, nehme mir nur ein Brot und verschwinde in mein Zimmer. Das ist kein Problem.« Sie stockte und fügte dann hinzu: »Duncan wird allerdings sehen, dass Flora nicht im Stall steht, und Alarm schlagen. Dann ist die Kacke am Dampfend.«
Unschlüssig sahen wir uns an. Kringle, der offensichtlich beschlossen hatte, dass es jetzt mit dem Gerede reichte und dass er zu seinem Futtereimer zurückkehren wollte, drehte sich um und versuchte loszutraben.
Auf dem Hofplatz von Little Eden saßen drei Katzen und beobachteten uns. Eine einbeinige Möwe bewachte die Türschwelle.
Kim sagte: »Ich weiß, was ich mache. Wenn Stevie erst so spät auftaucht, dass ich hierbleiben muss, rufe ich von seinem Telefon aus zu Hause an.«
»Was willst du sagen?«
»Dass ich erst morgen früh zurückkomme und dass ich Flora in Sicherheit gebracht habe.«
»Sie werden fragen, wo du bist.«
»Das können sie nicht, weil ich sofort wieder auflege.«
Ich seufzte. »Okay, dann reite ich jetzt mal los. Mach’s gut, Kim.«
Ich setzte einen Fuß in den Steigbügel und dachte dabei, dass ich Robin Hood nun doch nicht sehen würde.
Kim sagte: »Hoffentlich findest du dich zurecht. Nimm lieber nicht die Abkürzungen, sonst landest du womöglich irgendwo in der Pampa. Warte, ich beschreibe dir das erste Stück.«
Jetzt saß ich im Sattel und hatte Mühe, Kringle zu zügeln.
»Also, erst reitest du mal am alten Seemannsfriedhof vorbei«, begann Kim. »Und am Kreuzweg, wo die Landstraße anfängt, hältst du dich links. Scharf links, verstehst du? Nicht die asphaltierte Straße, die führt nach St. Mary’s, der Kapelle, und endet dort. Dann sitzt du mitten in der Schoko … « Sie verstummte. In der Ferne erklang Gebell.
Manchmal liest man in Romanen von einem »freudigen Schreck«, der einem in die Glieder fährt. Genau das passierte mir in diesem Moment. Er kommt!, dachte ich. Er kommt doch noch!
Als Erstes preschten die drei Hunde heran – ein Dalmatiner, ein zweiter, der wie ein Braunbär aussah, und einer, der über und über voller Dreadlocks war wie ein großes Schaf. Kringle wich an den Zaun zurück und legte die Ohren an. Flora machte einen Satz zur Seite. Doch Kim war darauf vorbereitet und hielt sie am kurzen Zügel.
Ein scharfer Pfiff durchschnitt die Luft. Die Hunde blieben sofort stehen. Auf der Hügelkuppe erschien eine Gestalt im flatternden schwarzen Umhang, umflossen vom Licht des Spätnachmittags. Heute trug Robin Hood einen Schlapphut, der sein Gesicht verdeckte. Eine gebogene Feder steckte darin. Er sah aus wie in dem Traum, den ich vor Kurzem von ihm und mir geträumt hatte.
Die Hunde warteten auf ihn und gingen dann dicht neben ihm her, obwohl er sie nicht an die Leine nahm. Kim war vollauf damit beschäftigt, Flora zu beruhigen. Ich schwang mich wieder aus dem Sattel.
»Hi, Stevie!«, sagte Kim.
»Hi.« Sein Ton klang nicht besonders begeistert. Seine Augen unter der Hutkrempe sagten deutlicher als Worte: Was wollt ihr denn hier?
Wenigstens der Hund mit den Dreadlocks begrüßte uns freundlich. Er erkannte mich offenbar wieder, kam auf mich zu und drückte seinen Kopf gegen meine Knie. Das nahm Kringle ihm übel. Er riss sich los und trabte ein Stück am Zaun entlang, blieb dann stehen und schnaubte wütend.
Ich streichelte »Dreadlocks«, wie ich ihn insgeheim nannte, weil ich seinen Namen noch nicht kannte, und sah zu Stevie hoch. Kim ließ sich nicht weiter von seinem abweisenden Ton beeindrucken.
»Ich brauche deine Hilfe«, sagte sie ohne lange Vorreden. »Es geht um Flora, meine Stute. Ich muss sie in Sicherheit bringen.«
Sein Blick veränderte sich. »Kommt rein!«, sagte er kurz und öffnete die Gartenpforte.
Ich band Kringle am Torpfosten fest, während Kim ihre Stute auf den Hofplatz führte. Zögernd folgte ich ihr. Eigentlich ging es ja nicht um mich; vielleicht wollte mich Stevie nicht dabeihaben. Außerdem war es schon spät. Ich hätte längst auf dem Heimweg sein müssen.
Die Katzen verschwanden und die einbeinige Möwe flatterte auf einen Holzstoß. Vor dem Haus blieben wir stehen. Stevie sagte: »Wartet einen Augenblick, ich muss erst die Hunde füttern. Bin gleich wieder da.«
»Meinst du, ich kann mal meine Eltern anrufen?«, flüsterte ich Kim zu.
Sie nickte. »Sicher, warum nicht? Und du brauchst nicht zu flüstern. Stevie ist ganz in Ordnung, nur ein bisschen menschenscheu. Aber man kann sich voll auf ihn verlassen, wenn’s um Tiere geht.«
Als er wieder erschien, saß Daisy, das junge Eichhörnchen, auf seiner Schulter und klammerte sich an seinem Hemdkragen fest. Daisy war ein Stück gewachsen, seit ich sie zum letzten Mal gesehen hatte, und ihr Schwanz war buschiger geworden. Sekundenlang beäugte sie uns, flitzte dann Stevies Arm hinunter, sprang von seiner Hand auf den Boden und verschwand wie ein grauer Blitz im Haus.
»Kann ich Flora bei dir lassen?«, fragte Kim. »Schlimmstenfalls zwei oder drei Wochen, bis die Ferien vorbei sind. Aber du müsstest sie verstecken … «
»Was ist passiert?«
Rasch erzählte sie ihm die Geschichte von Duncan, seiner Brutalität Flora gegenüber und von seinem Freund mit dem Motorrad, während ich schweigend danebenstand. Stevies Gesicht verfinsterte sich zusehends, doch er sagte kein Wort, bis sie geendet hatte. Dann fragte er: »Was sagen deine Eltern dazu?«
»Mein Vater kümmert sich nur um seinen eigenen Kram und meine Mutter findet alles perfekt, was Duncan macht.« Kim fuhr sich mit den gespreizten Fingern durch ihr kurz geschnittenes rotbraunes Haar, bis es in alle Richtungen abstand. »Du brauchst keine Angst zu haben, ich übernehme für alles die volle Verantwortung. Falls sie dahinterkommen, sagst du einfach, ich hätte Flora bei dir untergestellt und du hättest von nichts eine Ahnung gehabt.«
»Ich hab keine Angst! Allerdings muss Flora erst mal im Stall bleiben. Wenn sie auf einer der Koppeln steht, könnte man sie von der Straße aus sehen.«
»Und wenn Duncan kommt und im Stall nachsehen will?«, fragte ich.
Stevies schmales Gesicht verzog sich zu einem ziemlich grimmigen Lächeln. Wieder fiel mir auf, wie schön sein Mund geformt war. Der Schimmer seiner Augen erinnerte mich an ein wildes Tier oder einen Vogel.
»Der kommt mir nicht aufs Grundstück! Ich werde das Tor verschließen. Und wenn er über den Zaun zu klettern versucht, kriegt er’s mit den Hunden zu tun … «
Kim atmete tief durch. »Mann, ich bin so froh! Ich weiß echt nicht, wie ich dir danken soll, Stevie.«
»Dann lass es bleiben.«
Ich wusste schon, dass er es nicht mochte, wenn man sich bei ihm bedankte.
Verlegen fügte Kim hinzu: »Nur … ehrlich gesagt kann ich dir nichts dafür geben. Ich hab kein Geld.« An der Art, wie ihre Kinnmuskeln sich spannten, erriet ich, wie schwer es ihr fiel, das einzugestehen. »Aber ich bringe Hafer und Karotten vorbei«, fügte sie hinzu. »Auf dem Fahrrad, heimlich. Das geht schon irgendwie.«
Sie musterten sich wie zwei Indianer, die zu stolz sind, um Geschenke voneinander anzunehmen.« Ich will kein Geld!«, erwiderte Stevie. »Aber das mit dem Hafer ist okay.«
»Natürlich komm ich jeden Tag und versorge Flora. Und ich kann dir auch mit deinen Pferden helfen.«
»Ich komme schon klar.«
Sie verstummten. In das Schweigen hinein murmelte ich: »Könnte ich mal telefonieren? Meine Eltern warten auf mich und ich schaff’s nicht, rechtzeitig zum Abendessen in Ravensnest zu sein. Sie machen sich sonst Sorgen.«
Stevie zögerte einen Augenblick. Dann deutete er mit einer Kopfbewegung zur Tür. »Das Telefon steht in der Halle, gleich links.«
Im Haus herrschte ein wildes Durcheinander. Es roch wie in einem Raubtierkäfig. Der Flur, den Stevie »Halle« nannte, war lang und düster und total überfüllt mit Möbeln, Stiefeln, Decken, Hundekörben, Katzenkörben, Eimern, Kartons, Truhen, aus denen Klamotten hervorquollen, vollen und halb vollen Säcken. An den Wänden hingen Pferdegeschirre, Sättel, Regenmäntel, Hüte und Overalls.
Es war nicht leicht, in dem Durcheinander das Telefon zu finden, das zwischen einem Stapel Zeitungen, Arbeitshandschuhen, einer aufgeplatzten Tüte mit Äpfeln und einer Tube Ohrensalbe für Hunde auf einem wackligen Tischchen stand.
Während ich den Hörer abnahm und die Nummer von Ravensnest wählte, kletterte eine graue Katze aus der Kleidertruhe, starrte mich erschrocken an und verschwand durch eine angelehnte Tür. Dann tauchte Daisy unter einem Polstersessel auf, sprang über einen Pappkarton und kletterte am Vorhang hoch, ließ sich auf der Vorhangstange nieder, hob ihre Vorderpfötchen und begann an einer Nuss zu nagen.
Ich hielt mich nicht lange mit Erklärungen auf. »Es wird später«, sagte ich zu meiner Mutter, die das Telefon abnahm. »Wartet nicht mit dem Essen auf mich.«
»Wo bist du?«
»In Little Eden, bei Stevie Trelawny. Kim hat Flora zu ihm gebracht. Warum, erklär ich dir später. Ihre Familie darf nichts davon wissen.«
»Aha. Soll ich euch holen?«
»Nein, aber es wird einige Zeit dauern. Kim ist zu Fuß. Wir nehmen den Klippenpfad. Ich führe Kringle am Zügel. Er ist ja nicht an so lange Ritte gewöhnt.«
Mama sagte: »Wartet auf mich. Ich komme mit dem Hänger und hole euch ab.«
Ich wollte erst wieder Nein sagen, doch dann fiel mir etwas ein. »Okay, danke, Mama. Und bringst du bitte etwas Futter für die Pferde mit? Kim muss sonst alles mit dem Fahrrad hierher transportieren.«
Als ich aus dem Haus trat, war der Hofplatz leer. Aus dem niedrigen Stallgebäude, das an die Giebelwand des Hauses angebaut war, hörte ich Gepolter und dazwischen Kims helle Stimme.
Ich wartete eine Weile. Kringle wieherte ungeduldig am Gatter. Eine der Rabenkrähen flog vom Dach, flatterte ein paar Runden über mir, versuchte sich auf meiner Schulter niederzulassen, drehte dann ab und landete auf einem Fensterbrett. Von dort beobachtete sie mich mit glitzernden Augen und schief gelegtem Kopf.
Dann kam Dreadlocks angetrottet und wollte gekrault werden. Zwischen all den verfilzten, gedrehten Locken sah ich kaum etwas von seinem Gesicht. Ich knetete seine Ohren, was ihm total gefiel, denn er schnaufte selig und stupste mich mit der Nase an, sobald ich eine Pause einlegte.
Kim sah müde aus, als sie mit Stevie aus dem Stall kam. Seufzend setzte sie sich auf den Holzstapel und schlüpfte aus ihren Gummireitstiefeln.
»Was machst du?«, fragte ich.
»Ich ziehe meine Stiefel aus, das siehst du doch. Mit diesen Dingern kann ich unmöglich die lange Strecke über den holprigen Weg gehen. Barfuß ist es besser.«
»Wir brauchen nicht zu Fuß zu gehen. Meine Mutter holt uns«, sagte ich.
Die Krähe kam wieder angeflattert und ließ sich auf Stevies Schulter nieder. Zärtlich kraulte er sie mit dem Zeigefinger zwischen dem Gefieder und sie drehte den Kopf und stieß leise knarrende und gurgelnde Geräusche aus. Sofort tauchte eine zweite Krähe aus der Luft auf, versuchte auf Stevies Kopf zu landen, rutschte ab und klammerte sich an seinen ausgestreckten Arm.
Stevie lachte. Schlagartig veränderte sich sein Gesicht, wurde weicher und sanfter und richtig schön – so schön, dass ich mich zwingen musste, ihn nicht anzustarren.
»Das sind Donald und Dagobert«, sagte er.
»Kannst du sie denn auseinanderhalten?«
»Sicher. Sie sehen zwar wie Zwillinge aus, aber wesensmäßig sind sie sehr verschieden.«
»Der Geizhals und der Loser?!«, schlug Kim vor. Dabei kicherte sie ziemlich hysterisch. Ich merkte, wie erleichtert sie darüber war, dass Flora in Sicherheit war.
»Nein. Dagobert ist mutig, richtig waghalsig.« Er deutete mit einer Bewegung seines Kinns auf die Krähe, die auf seiner Schulter saß. »Donald ist eher ängstlich und scheu.« Stevie streifte mich mit einem Blick und fügte im gleichen Atemzug hinzu: »Willst du dein Pony nicht tränken?«
Ich schämte mich, dass ich nicht selbst daran gedacht hatte. Kringle war nach dem langen Ritt sicher durstig. Wie hatte ich ihn nur so vergessen können? Eine Ahnung sagte mir, dass es mit Stevie Trelawny zu tun hatte, auch wenn mir nicht klar war, wieso.
»Dreadlocks« hieß in Wirklichkeit »Puccini«, weil er so herzzerreißend heulen konnte, wie Stevie erklärte. Puccini musste für eine Weile ins Haus, während ich Kringle auf den Hofplatz brachte und einen Eimer Wasser für ihn vom Brunnen holte.
Der Brunnen war altmodisch wie im Märchen vom Froschkönig, von einem runden Mäuerchen umgeben und gespeist von einer unterirdischen Quelle. Man schöpfte das Wasser mit Eimern an einem Strick heraus. Stevie zeigte mir alles; er war jetzt offener und freundlicher, als ich es für möglich gehalten hatte. Vielleicht lag es an Kim. Die beiden kannten sich ja, auch wenn Stevie ein paar Jahre älter war als Kim. Wirklich befreundet waren sie jedenfalls nie gewesen, das wusste ich von Kim.
Während ich Kringle tränkte, fragte ich mich, ob Stevie überhaupt einen Freund unter den Zweibeinern hatte.