Читать книгу Reiterhof Dreililien 5 - Alte Lieder singt der Wind - Ursula Isbel - Страница 5

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Ich hatte zu früh geschworen. Am Spätnachmittag mußte Dr. Hofbauer geholt werden, um nach Nofret zu sehen. Er stellte fest, daß das Fohlen verkehrt lag. Das bedeutete, daß er einen Eingriff vornehmen mußte, und zwar schnell. Matty sollte ihm dabei zur Hand gehen, weil Herr Moberg seit zwei Tagen wegen einer Narbenentzündung am Bein im Bett lag.

Helge wäre also mit Abendfütterung und Stallarbeit allein gewesen, denn Sepp, unser Teilzeit-Stallknecht, war zu einer Familienfeier nach Salzburg gefahren. Obwohl keiner ein Wort zu mir sagte, wußte ich genau, daß nur ich einspringen konnte. Doch wenn ich das tat, erreichte ich den Bus nach Rosenheim nicht mehr rechtzeitig.

Ich rief auf dem Bergerhof an, um Carmen zu bitten, nach Dreililien zu kommen und Helge zu helfen, doch sie war nicht da. Es war wie verhext. Als ich das Wohnhaus verließ und über den Innenhof ging, hörte ich Nofrets angstvolles, gepeinigtes Wiehern und wäre am liebsten davongelaufen.

Solche Augenblicke waren selten, denn ich liebte Dreililien und die Pferde und hätte mein Leben hier nicht gegen das verlockendste Luxusdasein eingetauscht. Es war auch schön, gebraucht zu werden – nur an diesem Samstag wäre es mir ausnahmsweise einmal lieber gewesen, keiner hätte mich gebraucht.

Rasch ging ich nach Hause, um meine Stallkleidung anzuziehen. Danach rief ich Jörn im Krankenhaus an.

Es dauerte einige Zeit, bis er an den Apparat geholt wurde. Seine Stimme klang müde und bedrückt, als er sich meldete.

„Oh, verdammt!“ murmelte er nur, als ich ihm erklärte, was passiert war. „Geht’s Nofret schlecht? Was hat Dr. Hofbauer gesagt?“

„Nicht viel. Er hat nur gemeint, es wäre besser gewesen, wenn wir ihn früher gerufen hätten.“

Jörn schwieg eine Weile. „Ich komme nach Hause, sobald ich hier fertig bin“, sagte er dann.

Ich konnte noch nicht einhängen. „Jörn“, sagte ich, „was ist los? Hast du Ärger gehabt?“

„Ärger? Nein. Aber hier sind heute nachmittag zwei Leute eingeliefert worden... Motorradunfall. Das kannst du dir gar nicht vorstellen, Nell. Wenn man so was sieht, vergeht einem die Lust, sich irgendwann im Leben auf so eine Kiste zu setzen. Und falls es den Ärzten gelingt, aus diesen beiden armen Teufeln jemals wieder so etwas wie Menschen zu machen, dann ist das wirklich mehr als ein Wunder.“

Betroffen legte ich den Hörer auf. Das Gefühl, um einen schönen Abend betrogen worden zu sein, war verflogen. Ich fragte mich plötzlich nicht mehr nur, wie ich Jörns lange Abwesenheiten ertragen sollte, sondern überlegte, wie er die langen Tage und Nächte im Krankenhaus ertragen würde, und wie er es schaffen sollte, mit der Erfahrung von Leid, Hilflosigkeit und Tod fertigzuwerden. Ich hatte diese Erfahrung schon gemacht – in den langen und quälenden Monaten der Krankheit meiner Mutter; und ich hatte davon eine Furcht vor Krankenhäusern zurückbehalten, die sehr tief saß. Jetzt sollte Jörn all das erleben, wieder und wieder, wenn auch nicht bei Menschen, die er liebte. Das machte es vielleicht erträglicher. Aber es blieb noch immer schlimm genug.

Ich ging nicht in den ehemaligen Schafstall, wohin wir Nofret zum Abfohlen gebracht hatten. Irgendwie konnte ich an diesem Abend einfach nicht sehen, was mit ihr geschah.

Helge hatte schon angefangen, die Pferde zu füttern. Er hob den Kopf nicht, als ich in den Stall kam. Da mir ebenfalls nicht nach langen Gesprächen zumute war, übernahm ich schweigend meinen Teil der Arbeit und sagte nur manchmal leise ein zärtliches Wort zu einer der Stuten, wie sie es gewohnt waren.

Als Jörn gegen acht Uhr nach Hause kam, machte sich Dr. Hofbauer gerade auf den Heimweg. Der Eingriff war zu spät gekommen. Nofrets Fohlen hatte die Geburt nicht überlebt.

„Und Nofret?“ sagte Jörn. Er sah müde aus. Sie sahen beide müde aus, er und der Tierarzt.

„Sie ist ziemlich schwach. Ihr müßt sie heute nacht im Auge behalten. Wenn sie Fieber bekommt, ruft mich sofort an. Sorgt dafür, daß sie liegenbleibt. Matty weiß Bescheid, was sonst noch zu tun ist. Das Fohlen müßt ihr gleich morgen in die Tierkörperverwertungsanstalt bringen.“

Ich schluckte. Solange ich hier lebte, waren auf Dreililien immer gesunde Fohlen zur Welt gekommen. Nun lag irgendwo auf dem Hof ein totes kleines Pferd, das „beseitigt“ werden mußte.

Mit Jörn zusammen ging ich in den alten Schafstall. Es war, als hätte ich mehr Mut, wenn er bei mir war.

Die Stute lag auf frischer, sauberer Streu. Ihre Flanke bewegte sich matt unter den Atemzügen, die Augen waren halb geschlossen und öffneten sich auch nicht, als wir näher traten. Ihr Fell wirkte ungewohnt struppig.

Matty saß auf einem umgestülpten Eimer in der Nähe von Nofrets Kopf. Er sagte gar nichts, nickte uns nur zu, und Jörn fragte leise: „War’s schlimm?“

„Scheußlich“, sagte Matty mit belegter Stimme.

„Wohin habt ihr es gebracht?“

Matty deutete mit dem Daumen nach hinten, wo eine Verbindungstür zur Gerätekammer führte.

Ich sagte: „Geh jetzt ins Haus und ruh dich aus, Matty. Ich paß schon auf Nofret auf. Du brauchst mir nur zu sagen, was ich tun soll und worauf ich achten muß.“

Einen Augenblick lang musterte er mich schweigend. Es war, als überlegte er, ob er mir diese schwierige Aufgabe anvertrauen konnte. Da mischte sich Jörn ein. „Wir bleiben zusammen hier, Nell und ich“, sagte er. „Ich gehe nur rasch in die Küche und mach mir ein Brot zurecht. In fünf Minuten bin ich wieder zurück.“

Leise und vorsichtig ließ ich mich im Stroh nieder. Wenn Jörn zurückkam, wollte ich noch kurz nach Hause laufen und Vater und Kirsty Bescheid sagen, daß ich Nachtwache halten würde. Im Hinausgehen hörte ich Matty zu Jörn sagen: „Ihr müßt aufpassen, daß sie liegenbleibt. Das Fieberthermometer hab ich in ein Glas getan und aufs Fensterbrett gestellt...“

Ich sah Nofret an. Sie atmete kurz und flach. Jetzt hatte sie die Augen geöffnet; sie waren matt und glanzlos. Die Stute wirkte unendlich erschöpft. Ich dachte, daß sie vielleicht auch traurig war, denn sie hatte ja gefühlt, daß sie ein Fohlen bekam. Nun war alle Quälerei umsonst gewesen.

Gern hätte ich sie gestreichelt, doch ich wußte, es war besser, sie in Ruhe zu lassen. Eine Fliege summte hartnäkkig um ihren Schweif, doch Nofret tat nichts, um sie abzuwehren.

Später kauerten wir zusammen in der Streu, Jörn und ich. Im Flüsterton erzählte er vom Krankenhaus – wie er Patienten in ihren Betten durch die Gänge schob, zu langen Untersuchungen, und wie froh sie oft über ein freundliches Wort, eine menschliche Geste waren.

„Die, die schwer krank sind und wissen, daß sie sterben müssen – ich habe keine Ahnung, wie sie damit fertig werden“, sagte er leise. „Ich glaube, man hilft ihnen am meisten, wenn man sich mal für eine Weile an ihr Bett setzt und einfach ihre Hand hält. Du weißt doch, daß es in Amerika Experimente mit Sterbekliniken gibt, in denen man es sich zur Aufgabe macht, Todkranke in einer guten Atmosphäre, in Würde und Menschlichkeit sterben zu lassen. Wo Pflegepersonal da ist, das Zeit für sie hat, wo man liebevoll und aufrichtig zu ihnen ist und ihnen die Chance gibt, sich auf ihr Ende vorzubereiten, statt ihnen irgendwelche ,gnädigenʻ Lügen aufzutischen, die sie sowieso nicht glauben. Aber soweit sind wir hier in Deutschland noch lange nicht. Die Sterbenden werden oft in ein Kämmerchen abgeschoben und allein gelassen. Dabei brauchen sie gerade in den letzten Tagen und Stunden ihres Lebens besonders viel Wärme und Anteilnahme.“

Gedankenverloren streichelte er meinen Handrücken. „In technischer Hinsicht hat unsere Medizin ja rasende Fortschritte gemacht – aber manchmal kommt’s mir vor, als wäre die Menschlichkeit dabei auf der Strecke gebheben.“

Hinter den staubigen kleinen Fenstern färbte sich der Himmel langsam tief violett und wurde dann dunkel. Die blasse Mondsichel tauchte auf, und im Garten zirpten die Grillen. Nofret bewegte gelegentlich den Kopf oder zuckte mit den Hinterhufen. Manchmal wurden ihre Atemzüge lauter und klangen wie unterdrücktes Stöhnen.

Als die Mondsichel aus dem Fensterviereck verschwand, stand Jörn auf, holte das Fieberthermometer und ging damit zu Nofret. Leise und beruhigend sprach er zu ihr, ehe er das Thermometer einführte. Sie ließ es mit sich geschehen, ohne sich zu wehren, öffnete jedoch die Augen und starrte mit trübem Blick vor sich hin.

Nach zwei Minuten zog Jörn das Thermometer wieder heraus und trug es unter die Glühbirne. „Nur leicht erhöhte Temperatur“, sagte er. „Ein Glück. In einer Stunde kriegt sie Fencheltee.“

Dann lagen wir nebeneinander im Stroh und hielten uns im Arm. Jörn schlief bald ein. Ich bewegte mich nicht, um ihn nicht zu stören. Er hatte einen langen, anstrengenden Tag hinter sich und mußte müde sein. Sein Gesicht war dicht vor dem meinen; im Schlaf wirkte es gelöst und irgendwie kindlich. Ich konnte mir vorstellen, wie er als kleiner Junge ausgesehen haben mußte.

Es fiel mir nicht schwer, wachzubleiben. Ich lauschte auf Jörns Atemzüge, auf das seufzende Atmen der Stute, dachte an meine erste Nachtwache auf Dreililien zurück, als Marnie ihr Fohlen Nell zur Welt gebracht hatte. Damals hatte ich auch mit Jörn im Stall gesessen; etwas mehr als ein Jahr war es nun her.

Viel war seitdem geschehen, und manches hatte sich verändert. Neue Menschen waren nach Dreililien gekommen – Mikesch, ganze Scharen von Reitschülern, Helge -, neue Fohlen waren zur Welt gekommen, Pferde waren verkauft worden. Ich hatte eine kleine Schwester bekommen, der verfallene Gutshof war renoviert worden, weil Mikesch Geld geerbt hatte, Jörn hatte seine Schulausbildung abgeschlossen ...

Gegen Mitternacht stand ich sehr leise auf, nahm die Taschenlampe und tappte über den dunklen Innenhof zum Wohnhaus. Die schwere Eichentür war nicht abgeschlossen – hier versperrte man nie eine Tür. Ich ging durch die

Halle, den Flur entlang und in die große, ungemütliche Küche. Dort setzte ich Wasser auf, kochte Fencheltee, füllte ihn in eine der Nuckelflaschen, wie wir sie manchmal zur Aufzucht der Fohlen verwendeten, und kehrte dann in den Schafstall zurück.

Jörn war nicht aufgewacht. Noch einmal ging ich hinaus, holte eine Decke aus der Sattelkammer und breitete sie über ihn. Dann machte ich mich ziemlich unsicher daran, Nofret den Tee einzuflößen. Ich mußte unbedingt vermeiden, daß sie aufstand; sie durfte nicht beunruhigt oder gar geängstigt werden.

Sehr langsam und vorsichtig ging ich zu ihr, kniete vor ihrem Kopf nieder, die Flasche in der Hand, und flüsterte sanft: „Sieh mal, meine Gute – feiner Fencheltee! Den mußt du jetzt trinken, er wird dir guttun. Es kommt bald alles wieder in Ordnung, du wirst es schon sehen. Nächstes Jahr kriegst du wieder ein Fohlen. Das ist dann bestimmt gesund und stark.“

Nofret rührte sich nicht. Mit zitternder Hand führte ich die Flasche an ihr Maul, hob sehr vorsichtig ihre Oberlippe und drückte ihr das Saugstück zwischen die Zähne. Sie zuckte leicht mit den Ohren, wehrte sich jedoch nicht.

Langsam floß der Fencheltee ins Pferdemaul. Ein ziemlicher Teil der Flüssigkeit sickerte gleich wieder heraus, doch als ich Nofrets Hals beobachtete, merkte ich, daß sie Schluckbewegungen machte. Dann prustete sie leicht, öffnete die Augen weiter und hob den Kopf ein kleines Stück aus der Streu.

Erschrocken zog ich die Flasche zurück und wartete. „Du mußt den Tee trinken!“ flüsterte ich beschwörend.

„Hast du gehört? Er schmeckt doch gar nicht schlecht. Ich hab ein Stück Traubenzucker hineingetan. Also trink die Flasche aus, bitte!“

Müde legte Nofret den Kopf zurück. Ich schob ihr die Flasche erneut zwischen die Lippen und summte dabei leise vor mich hin wie bei einem kranken Kind, das man in den Schlaf singt. Vieles vom Tee lief daneben, doch sie schluckte immerhin ab und zu; ihren Kopf dabei anzuheben, wagte ich nicht.

Als die Flasche leer war, holte ich eine zweite Satteldekke und deckte die Stute damit zu. Sie ließ es mit sich geschehen wie alles andere. Den Mut, Fieber zu messen, hatte ich nicht. In etwa einer halben Stunde wollte ich Jörn wecken. Dann konnte er das übernehmen.

Das Stroh knisterte leise, als ich mich wieder neben ihn legte, doch er wachte nicht auf. Unversehens überfiel auch mich die Müdigkeit. Ich mußte mich zwingen, die Augen offenzuhalten.

Der Mond stand jetzt hinter dem mittleren Fenster. Nofrets Atemzüge gingen leichter, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Aus dem Wald kamen die rastlosen Rufe der Käuzchen...

Dann mußte ich doch eingeschlafen sein, denn plötzlich schreckte ich hoch und hörte, wie die Tür geöffnet wurde. Verwirrt riß ich die Augen auf. Mikesch stand auf der Schwelle.

„Verdammt!“ sagte er leise und war mit ein paar Schritten bei uns. „Dacht ich’s mir doch. Sie war schon in den letzten Tagen so unruhig. Was ist passiert?“

Jörn bewegte sich im Schlaf. Ich rappelte mich auf und erwiderte: „Das Fohlen... Es ist verkehrt gelegen und bei der Geburt erstickt.“

Mikesch nickte wortlos. Er ging zu Nofret, kniete neben ihr nieder, hob ihr linkes Augenlid und sah ihr ins Auge. Dann streifte er die Decke zurück, legte die Hand auf ihre Flanke und zählte die Atemzüge.

„Hat sie Fieber?“ fragte er.

„Als Jörn sie gemessen hat, war die Temperatur nur leicht erhöht, aber... das ist schon eine Weile her“, gab ich beschämt zu. „Er ist eingeschlafen, und ich wollte ihn ein bißchen schlafen lassen. Ich hab ihr Fencheltee gegeben. Dann muß ich selbst eingedöst sein.“

Wieder nickte Mikesch nur. Ich stand auf, ging zum Fenster und brachte ihm das Thermometer. „Ihr habt geschlafen, und ich war fort“, murmelte er. „Wir brauchen uns gegenseitig keine Vorwürfe zu machen. Schließlich sind wir alle bloß Menschen. War sie schon die ganze Nacht so teilnahmslos?“

„Ja“, sagte ich.

Nach einer Weile meinte er: „Sie hat etwas Fieber, wenn es auch nicht beunruhigend hoch ist. Vielleicht geht es ihr gar nicht mal so sehr körperlich schlecht. Sie trauert wohl einfach um ihr Fohlen. Ich glaube aber, wir sollten ihr kühlende Umschläge machen. Das Gesäuge ist geschwollen. Jede Menge Milch für das Fohlen – und nichts davon wird gebraucht.“

Ich starrte Mikesch und Nofret an und hatte plötzlich einen Geistesblitz. „Jede Menge Milch...“, wiederholte ich. „Und Rapunzel hat zu wenig für ihr Fohlen! Könnten wir nicht versuchen...?“

Mikesch verstand sofort, was ich meinte, ich sah es ihm an. Wir wechselten einen Blick; dann sagte er: „Ja, versuchen könnten wir’s. Wahrscheinlich nimmt Nofret das fremde Fohlen nicht an, aber wer weiß... bei Tiermüttern erlebt man manchmal die erstaunlichsten Sachen. Am besten, wir probieren es gleich aus. Aber wir müssen Rapunzel mitnehmen, sonst macht sie Terror, wenn wir ihr Fohlen einfach so wegbringen.“

Wir hatten so laut gesprochen, daß Jörn aufgewacht war. Er setzte sich auf, sah uns verständnislos an und sagte dann: „Herrje, ich glaube, ich hab geschlafen!“

„Ja“, sagte ich. „Hast du. Du, wir haben eine Idee, wie wir Nofret vielleicht wieder auf die Beine bringen könnten.“

Jörn seufzte und fuhr sich mit den gespreizten Fingern durchs Haar. „Nicht so schnell... Mikesch, wo kommst du denn plötzlich her?“

„Aus der Stadt“, sagte Mikesch. „Geh jetzt ins Bett, Jörn. Nell und ich kommen schon allein zurecht. Du mußt ja in ein paar Stunden wieder ins Krankenhaus, zum Sonntagsdienst.“

Draußen dämmerte wirklich schon der Morgen. Zu dritt verließen wir den alten Schafstall. Der Innenhof war voll von grauen Schatten, und in der Luft lag eine Ahnung des kommenden Herbstes. Jörn verschwand im Wohnhaus, während Mikesch und ich in den Stall gingen.

Viele der Pferde waren bereits wach und sahen uns mit ihren glänzenden, freundlichen Augen entgegen. Hazel wieherte, und ich streichelte flüchtig, aber zärtlich ihre Nase, ehe ich Mikesch in Rapunzels Box folgte, die sie mit ihrem Fohlen teilte. Es war erst vor zwei Wochen geboren worden. Wir nannten es „Zwerg“, weil es so zart und schmächtig war, obwohl es einen langen und edlen Stammbaum hatte und nach seinem Vater den hochtrabenden Namen „Arbo von Trostberg“ trug.

Arbo von Trostberg, der Zwerg, lag noch im Stroh neben seiner Mutter und döste. Wir öffneten die Boxtür, und Mikesch führte Rapunzel auf die Stallgasse. Sie folgte ihm höchst widerwillig und sah immer wieder in die Box zurück. Erst als ihr Fohlen sich auf die wackligen Beine stellte und ihr eilig nachtorkelte, war sie bereit, mitzukommen.

Wir brachten die beiden aus dem Stall. Ein paar Stuten wieherten entrüstet. Es gefiel ihnen wohl nicht, daß Rapunzel schon hinaus durfte, während sie weiter in ihren Boxen stehen mußten. Zwerg, das schmächtige braune Hengstfohlen, hielt sich dicht neben seiner Mutter.

Als wir die Tür zum Schafstall öffneten und Rapunzel hineinführten, stieß sie ein kurzes, schrilles Gewieher aus: Sie hatte Nofret gesehen.

Zum erstenmal seit vielen Stunden spitzte Nofret die Ohren. Sie antwortete mit einem kläglichen Laut, und Mikesch führte Rapunzel samt Nachwuchs langsam und vorsichtig zu ihr. Zum Glück vertrugen sich die beiden Stuten für gewöhnlich gut – was durchaus nicht bei allen der Fall war –, so daß man sie unbedenklich zusammenbringen konnte.

Wir sorgten dafür, daß das Fohlen zwischen Nofret und Rapunzel stand. Ich bekam vor Aufregung kalte Hände, während ich beobachtete, wie Nofret beim Anblick des Fohlens zu zittern begann. Plötzlich versuchte sie sich aufzurichten.

„Dr. Hofbauer hat gesagt, sie muß liegenbleiben!“ flüsterte ich Mikesch erschrocken zu. Er aber schüttelte nur den Kopf und winkte ab.

Ohne den Blick von Rapunzels Fohlen zu wenden, richtete sich Nofret auf. Ein Schauder ging über ihre Flanken, als sie das dünne kleine Wesen beschnupperte.

Unwillkürlich hielt ich den Atem an. Mikesch faßte nach meinem Handgelenk und drückte es. Da sah ich, daß Nofret das Fohlen zu belecken begann – zärtlich und mit mütterlicher Gründlichkeit. Sie hatte es angenommen! Und Rapunzel, die danebenstand und zusah, schien das ganz in Ordnung zu finden.

Wenige Minuten später hatte der Zwerg den Kopf gesenkt, stieß die Nase an Nofrets Bauch und fing an zu trinken – so, als wäre das die natürlichste und selbstverständlichste Sache der Welt. Ob das Fohlen selbst auf diesen Einfall gekommen war, oder ob ihm Nofret durch irgendein geheimes, uns Menschen verborgenes Zeichen zu verstehen gegeben hatte, daß es trinken sollte, konnte ich nicht sagen. Doch das war ja auch nicht wichtig – Hauptsache, es trank; und Nofret säugte es und vergaß darüber ihren Verlust. Hauptsache, Rapunzel ließ zu, daß ihr Fohlen eine zweite Mutter bekam, eine Art Amme. Vorerst zeigte sie jedenfalls keine Eifersucht, sondern steckte die Nase in den Hafereimer, den Helge noch am Vortag eigens für Nofret hergebracht hatte.

Nofrets Kopf war gesenkt. Doch sie sah nicht länger teilnahmslos und erbarmungswürdig aus; sie schien sich zu entspannen und das weiche Maul an ihrem Gesäuge zu genießen wie etwas, worauf sie lange gewartet hatte. Das Fohlen schmatzte glückselig, und ich dachte, daß der Zwerg bald kein Zwerg mehr sein würde, jetzt, wo er zwei Mütter hatte.

Reiterhof Dreililien 5 - Alte Lieder singt der Wind

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