Читать книгу Reiterhof Dreililien 10 - Wege in Schatten und Licht - Ursula Isbel - Страница 5

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Es war ein Glück, zu Hause zu erwachen. Friedliche, paradiesische Geräusche wie Vogelstimmen und das Säuseln des Windes in den Fichten und Tannen kamen durchs Fenster. In der Toskana ballerten seit Beginn der Jagdsaison schon in aller Herrgottsfrühe die „Hobbyjäger“ herum, die in ihrer teuren Jagdausrüstung scharenweise übers Land streiften und wie ein Todeskommando auf alles schossen, was sich bewegte. So gab es dort kaum noch ein Kaninchen oder einen Fasan, von größerem Wild ganz zu schweigen. Rebhühner waren so gut wie ausgerottet, so wie bei uns auch. Die Landschaft war ausgestorben wie eine Stadt ohne Bewohner; und die Vögel, die es geschafft hatten, den Leimruten und Netzen zu entgehen, verbargen sich vor den Menschen und waren in ständiger Fluchtbereitschaft – angstvolle Bewohner in einem feindlichen Land.

Ich mußte an die Füchsin denken, die ich einst an einem Sommertag hier im Wald in einem Tellereisen gefunden hatte. Das war während eines Ausritts mit Hazel gewesen. Auch bei uns gibt es Menschen, die grausam sind, und für die das Töten eines Tieres ein Sport ist. Es gibt Leute, und zwar nicht nur Millionäre, denen Jäger das Wild vor die Flinte treiben, damit sie es bequem und leicht abschießen und sich hinterher mit ihrem „Jagdglück“ brüsten können.

Erst vor kurzem war im Bayerischen Landtag ein Gesetzesentwurf zum Verbot der grausamen Schlagfallen abgelehnt worden. Beim Gedanken an die Leiden der Tiere, die oft tagelang in solchen Fallen steckten, bis sie qualvoll verendeten, an die Muttertiere, die sich selbst verstümmelten, sich Gliedmaßen abbissen, um sich zu befreien und zu ihren Jungen zu kommen, verflog das Glücksgefühl des Erwachens und machte einer dumpfen Bedrückung Platz.

Ich stieg aus dem Bett und trat ans Fenster. Ein rosiger Schimmer lag über den Baumwipfeln und Dreililiens Dächern. Meine Stallkleidung muffelte in einem unordentlichen Haufen in der Truhe vor sich hin, so, wie ich sie vor elf Tagen hineingestopft hatte. Ich zog sie an und ging die Treppe hinunter, leise, um Vater, Kathrinchen und Kirsty nicht zu stören.

In der Küche lag Herr Alois in seinem Korb. Er sah schläfrig zu mir hoch und klopfte mit dem Schwanz auf das karierte Kissen. Ich kraulte seine Ohren, was ihm einen seligen Seufzer entlockte, nahm mir eine Banane und einen Apfel, schlüpfte in den Anorak und verließ das Haus.

An diesem Morgen war ich besonders früh aufgestanden. Ich wollte als erste im Stall sein, in dem heimeligen Gewölbe, wo die Schwalben ihre Nester unter die Decke geklebt hatten und auf ihren Eiern brüteten wie in jedem Frühjahr, und die Pferde mir mit ihren schimmernden Augen über die Trennwände der Boxen entgegensahen. Doch als ich zu Hazel ging, merkte ich, daß Michl schon in Solveigs Box stand und ihr verklebtes Hinterteil striegelte.

Er duckte sich, als er mich sah, aber ich ging zu ihm und sagte: „Hallo, Michl, wie geht’s dir? Ich freu mich so, wieder zu Hause zu sein!“

Er gab ein undeutliches Gebrumm von sich. Inzwischen war ich daran gewöhnt, daß sich die Gespräche mit Michl einseitig und mühsam gestalteten; man redete drauflos, ohne je eine richtige Antwort zu bekommen. So fügte ich etwas hilflos hinzu: „Du, ich hab dir was aus Italien mitgebracht. Ein Geschenk. Du kriegst es später, nach der Stallarbeit.“

Er verschwand noch tiefer in der Box und erwiderte gar nichts. Doch zwischen der Holzwand und Solveigs Flanke sah ich ein Stück seiner Stirn und Wange unter dem semmelblonden Haar und merkte, daß er rot geworden war, so, als sei er zutiefst verlegen oder erschrocken.

Ich wollte noch etwas sagen, aber mir fiel nichts mehr ein. So ging ich in die Futterkammer und begann die Haferportionen abzumessen. Über der Truhe hing ein großer Zettel, auf dem in roten Buchstaben stand: 3 x wöchentlich Kleietrank für Joringel und Laurin. Der Jährling und das Hengstfohlen waren vor kurzem krank gewesen und mußten erst wieder richtig aufgepäppelt werden.

Über mir hörte ich Jörn auf dem ehemaligen Dörrboden rumoren. Dann tauchte Mikesch im Türrahmen auf. „Dacht ich’s mir doch, daß du heute die erste im Stall bist“, sagte er.

„Nicht die erste“, erwiderte ich. „Michl war vor mir da!“

Mikesch nickte. „Ich glaube, er schläft manchmal im Stall“, sagte er halblaut. „Vielleicht tut’s ihm gut, nicht allein zu sein; und vor Tieren hat er keine Angst.“

Nein, vor Tieren nicht, dachte ich, aber vor den Menschen. Gemeinsam machten wir uns an die Arbeit, und es traf sich gut, daß wir beide, Mikesch und ich, morgens nicht viel reden mochten. Wir waren auch wunderbar aufeinander eingespielt; jeder wußte, was zu tun war, und wie er dem anderen zur Hand gehen konnte.

Eine Viertelstunde später herrschte das gewohnte Leben im Stall – das Geklapper von Eimern, das Knirschen und Mahlen von Pferdezähnen, ungeduldiges Hufgestampfe, Wassergeplätscher und Mattys leises Pfeifen.

Diana wuselte um Jörn herum, offenbar fest entschlossen, ihn keine Sekunde mehr aus den Augen zu lassen. Wir führten Mutterstuten und ihre Fohlen hinaus, über den Stallhof und zur Koppel am Bach, wo das Gras schon dicht und üppig war und wo sich eine Wasseramsel wie ein Tiefseetaucher in den klaren Bach stürzte. Schlüsselblumen blühten am Ufer zwischen Moos und Farn und Veilchen am Waldsaum. Über den Tälern hingen Dunstschwaden, so daß es aussah, als schwebten die Berggipfel wie Eisberge über einem Polarmeer.

Die Morgensonne brachte den Tau auf den Wiesen zum Glänzen, die Birken trugen zartgrüne Schleier, und die alten Apfelbäume am Rand des Koppelpfades hatten dicke Knospen. Ein Habicht oder Falke kreiste über der Schwammerlwiese, unserer Übungsweide.

Ein paar Minuten lang beobachtete ich Jonas und Elga, die wegen ihres Milchmauls nur „Millirahmstrudel“ genannt wurde, wie sie über die Wiese sprangen, ungelenk mit ihren langen, knochigen Beinen und den großen Köpfen, struppig wie Borstentiere und rührend in ihrer Unschuld und Lebenslust. Solche Bilder brachten unsere Reitschüler immer zum Lachen, doch ich konnte den Spielen junger Pferde nie zusehen, ohne an Nell zu denken, die einst ebenso glückselig auf Dreililiens Wiesen herumgesprungen war und so früh hatte sterben müssen, weil sie Mondblindheit bekam.

Und während ich den Pfad zwischen den Koppeln hinaufging, fand ich es schön und schmerzlich zugleich, daß wir Menschen ein Wesen niemals vergessen können, das wir einmal geliebt haben; daß wir ihm also ewig treu sind, auch wenn es lange tot ist.

Ich werde Nell Wiedersehen, dachte ich; irgendwo wartet sie auf mich, genau wie meine Mutter. Und wenn ich sterbe, werden sie mir entgegenkommen – und vielleicht auch Helge. Daran glaubte ich, obwohl ich bisher mit keinem außer mit Jörn darüber gesprochen hatte.

Am Tor kam mir Maja auf dem Fahrrad entgegen. „Ich muß losdüsen“, sagte sie, „sonst erwisch ich den Bus nach Rosenheim nicht mehr. Servus, mach’s gut!“

Jörn war beim Ausmisten. Ich griff nach einer Mistgabel und half mit; es war wie immer, so, als wären wir nie fortgewesen. Nach einer Weile kamen Mikesch und Matty zurück. Sie hatten den Rest der Herde auf die Südweide und die Waldkoppel gebracht.

„Mit dem Hafer schaut’ s nicht mehr allzu üppig aus“, sagte Mikesch. „Ich fahre in zwei Stunden nach Frasdorf; die Säcke sind schon bestellt. Kommt einer von euch mit und hilft mir?“

„Ich“, sagte Jörn. „Matty muß ja fürs Abi büffeln!“

Von diesem Augenblick an war es vorbei mit meiner unbeschwerten Stimmung. Während der Osterferien hatte ich es einigermaßen erfolgreich geschafft, den Gedanken an die bevorstehende „Katastrophe“ zu verdrängen und die Bücher, die ich mit in die Toskana genommen hatte, von einer Ecke in die andere zu schieben. Doch jetzt rückte das Verhängnis bedrohlich und unausweichlich näher, denn in drei Tagen begann die Schule wieder.

„Ich muß es wenigstens versuchen“, sagte ich später zu Jörn und Matty, als wir auf dem Dörrboden miteinander frühstückten.

„Herrje!“ sagte Jörn und sah mich an. „Das klingt ja, als würdest du dich zwingen, zu deiner eigenen Hinrichtung zu gehen. Ich dachte, du hast dich entschlossen, das Abi überhaupt nicht zu machen?“

„Was ich für Blödsinn halte, wenn man schon die jahrelange Büffelei durchgestanden hat; und schließlich hast du in der Kollegstufe die Mindestpunktzahl erreicht“, warf Matty mit vollen Backen ein.

Ich legte mein Butterbrot hin. Es schmeckte mir plötzlich nicht mehr. „Ja, mit knapper Not“, murmelte ich. „Mit Hängen und Würgen.“

Matty beachtete mich nicht. „Wenn du nach Weihenstephan auf die Fachhochschule willst, brauchst du das Abi schließlich!“

„Das weiß ich alles selbst“, sagte ich. „Aber ich glaube, ich mag da nicht hin. Wie soll ich jeden Tag von hier nach Weihenstephan kommen, kannst du mir das mal verraten? Die Verbindungen sind miserabel, ich hab mir das angeschaut. Bus und Bahn und wieder Bus ... Ich müßte ungefähr dreimal umsteigen oder so, und zwischendurch mindestens eine Stunde warten. Das bring ich einfach nicht!“

„Du machst eben den Führerschein und kaufst dir ein altes Auto.“ Matty tat, als wäre das die einfachste Sache von der Welt.

„Wunderbar!“ sagte ich. „Und wer zahlt mir das alles? Mein Taschengeld brauche ich für Hazel, es reicht sowieso hinten und vorn nicht. Und du weißt ja, was ein Führerschein kostet – von den monatlichen Ausgaben für so eine Blechkiste ganz abgesehen. Außerdem ist’s ökologischer Schwachsinn, jeden Tag stundenlang mit dem Auto von einem Ort zum anderen zu rödeln.“

„Richtig!“ sagte Jörn, der bisher stumm zugehört hatte.

,,Und wenn du dir irgendwo in Weihenstephan ein Zimmer nimmst? Dein Vater würde das sicher zahlen“, meinte Matty und trank seelenruhig seine Milch. „Die Wochenenden könntest du ja dann hier verbringen.“

„Ja, vielen Dank!“ sagte ich und richtete mich auf. Langsam verlor ich die Geduld. „Die ganze Woche nicht zu Hause sein und irgendwo in einem fremden Zimmer herumhocken, und das ein paar Jahre lang! Merci dir für den konstruktiven Vorschlag!“

Matty lachte. „Beiß mich nur nicht gleich! Ich versteh ja, daß du nicht von hier weg willst. Aber irgendeine Lösung muß man ja schließlich finden.“

„Ich klappere in unserer Gegend alle Gärtnereien ab und mach ein Praktikum“, sagte ich. „So einfach ist das. Es muß ja nicht jeder studieren. So ehrgeizig bin ich nicht.“

Jörn legte den Arm um meine Schulter. „Prima“, sagte er. „Und wozu brauchst du dann überhaupt das Abi?“

Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. Mir tat der Magen weh. „Für meinen Vater“, sagte ich.

„Was?“ Matty starrte mich an.

„Weil er durchdreht, wenn ich’s nicht wenigstens versuche. Ich weiß schon gar nicht, wie ich ihm beibringen soll, daß ich nicht Gartenbau studieren will, sondern ,nur‘ eine Ausbildung in einer Gärtnerei mache. Das trifft ihn voll.“

„Du bist volljährig“, sagte Jörn. „Du kannst dich frei entscheiden.“

„Ja, ja“, erwiderte ich ungeduldig. „Ich weiß. Aber so einfach ist das nicht. Ich kann ihn doch nicht so enttäuschen!“

Sekundenlang herrschte Schweigen. Dann sagte Jörn: „Fragt sich bloß, was wichtiger ist – das, was man selbst für sich will, oder das, was andere für einen wollen.“

Das war eine typische Jörn-Bemerkung. Jörn war keiner von der redseligen Sorte und hielt auch nichts davon, anderen seine Meinung aufzudrängen, doch wenn er den Mund auftat, kamen oft bemerkenswerte Sachen heraus.

Im Kavaliershäusl lag ein Zettel für mich auf dem Küchentisch. „Bin mit Kathrinchen zum Kinderarzt gefahren“, stand da. „Kann sein, daß sie Mumps hat. Heute früh hat sie ausgesehen wie eine Kreuzung zwischen A-Hörnchen und B-Hörnchen.“

Das war Kirstys Galgenhumor. Kathrinchen tat mir leid. Jetzt mußte sie wahrscheinlich Spritzen bekommen. Ich erinnerte mich noch genau daran, daß ich selbst im zarten Alter von fünf Jahren Mumps gehabt hatte und mit Spritzen traktiert worden war; damals hatte ich mir vor Angst die Hosen naß gemacht.

Herr Alois buddelte unter der Gartenbank. Wahrscheinlich hatte er dort einen seiner besonders wertvollen Knochen vergraben. Ich holte die Hängematte vom Dachboden und knüpfte sie zwischen den Apfelbäumen auf. Die Sonne sickerte warm durch die Zweige und leuchtete auf den Krokussen und Narzissen, die ums Kavaliershäusl blühten. Ein paar schöne Tage noch, und unser Tal würde ein einziges Blütenmeer sein.

Es war die erste Hängemattenstunde in diesem Jahr, doch meine Begeisterung hielt sich in Grenzen; unter mir lagen meine Schulbücher und Mappen auf einem Stuhl: Biologie, Deutsch, Englisch; dazu noch Geschichte fürs Kolloquium.

Der Wind schaukelte mich sachte in meiner Hängematte und wehte mir den Duft von Blumen und Pferden und Gras um die Nase, doch ich widerstand der Versuchung, die Augen zu schließen und den Frühlingstag zu genießen.

„Wenn du wüßtest, wie gut du’s hast!“ sagte ich zu Kater Carlo, der vor meinen Augen den Stamm des Apfelbaumes hochkletterte, dann auf vorsichtigen Pfoten am Aufhängeseil der Hängematte zu mir herüberbalancierte und sich längelang neben meinen Beinen niederließ. Daß er total schief lag, sozusagen mit Schlagseite nach oben, schien ihn nicht zu stören. „Du kannst tun und lassen, was du willst, brauchst weder zu arbeiten noch zu büffeln oder dir einen Job zu suchen!“

Meine Ansprache schien Kater Carlo nicht besonders zu interessieren, denn er öffnete nicht einmal ein Auge. Erst als ich das Biologiebuch zuklappte und ins Gras fallen ließ, zuckte er belästigt mit den Ohren. Herr Alois knurrte warnend. Wahrscheinlich dachte er, ich hätte es auf seinen alten verrotteten Knochen abgesehen, an dem er jetzt hingebungsvoll nagte.

Eine Weile ließ ich mir die Sonne ins Gesicht scheinen und genoß das weiche, sanfte Aprillüftchen, das mir die Haare aus der Stirn blies, hörte die Stare auf den Wiesen schnackeln und die Schwalben zwitschern und Sepp mit dem Traktor den Waldweg entlangtuckern.

Nach einer entspannten halben Stunde war ich bereit, mich in ein Drama von Shakespeare zu vertiefen, und hielt fast eine Stunde durch, bis Kirsty mit Kathrinchen durch die Gartentür kam. Kathrinchen sah schlimm aus, ungefähr so, als wäre sie mit dem Hals und der unteren Gesichtshälfte in einen Bienenschwarm geraten.

Ich wälzte mich aus der Hängematte und nahm sie in die Arme. Sie weinte und war total verschmiert um Augen und Nase. Kirsty, die offenbar selbst ganz fertig war, sagte erschrocken: „Nell, das ist ansteckend! Hast du schon Mumps gehabt?“

„Hab ich“, sagte ich. „Sehr sogar. Armes Kathrinchen, was haben sie bloß mit dir gemacht?“

Kathrinchen legte nur den Kopf an meine Schulter und sagte gar nichts. Daran merkte ich, daß es wirklich schlimm mit ihr stehen mußte, denn für gewöhnlich war sie in meiner Gegenwart nicht so schweigsam.

Ich trug sie ins Haus und brachte sie in ihr Bett, und nicht einmal dagegen wehrte sie sich. Dann saß ich bei ihr, bis sie einschlief, und hielt ihre kleine heiße Hand.

Reiterhof Dreililien 10 - Wege in Schatten und Licht

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