Читать книгу Reiterhof Dreililien 10 - Wege in Schatten und Licht - Ursula Isbel - Страница 6

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Am Nachmittag ritten wir zusammen aus, Jörn und ich. Vielleicht, so dachte ich, war dies der letzte unbeschwerte Tag bis zum Sommer, denn morgen mußte Jörn wieder im Krankenhaus arbeiten. Und was mich betraf, so drückten mich Unbehagen und schlechtes Gewissen wegen Schule und Abi immer mehr.

„Warum redest du nicht offen mit deinem Vater?“ fragte Jörn, als wir auf dem Pfad zwischen zwei Waldstücken Seite an Seite ritten; er auf der Schimmelstute Katama, ich auf Hazel. Das Geißblatt hing schon in üppigen grünen Ranken von den Bäumen und streifte unsere Köpfe.

„Ich kann nicht“, sagte ich. „Ich kann ihm nicht klarmachen, daß es mir nicht wichtig ist, zu studieren. Er würde nur sagen, daß man in meinem Alter noch nicht wissen kann, was wichtig für einen ist. Solche Gespräche laufen bei uns immer gleich ab. Wir reden aneinander vorbei.“

Am Bach machten wir halt und ließen die Pferde trinken. „Das kenn ich“, erwiderte Jörn. „So geht es mir mit meinem Vater, so lange ich denken kann. Es ist, als würden wir zwei verschiedene Sprachen sprechen. Aber ich dachte immer, zwischen dir und deinem Vater wär das anders.“

Ich beugte mich vor und streichelte erst Hazels Ohren, dann Katamas Hals. „Im Grunde schon. Er ist lieb und gibt sich Mühe, mich zu verstehen, und ich kann mit vielem zu ihm kommen. Aber wenn’s um Schule und Ausbildung geht, haben wir völlig verschiedene Ansichten. Irgendwie geraten wir uns dann jedesmal in die Haare, obwohl das keiner von uns will.“

„Und Kirsty? Kann sie deinem Vater nicht klarmachen, worum es dir geht?“

„Kirsty möchte ich da nicht hineinziehen. Das ist meine Sache; ich muß selbst damit klarkommen und darf es nicht auf sie abwälzen.“

Vom Gebirge her kamen riesige Wolken gezogen, die sich über dem Land auftürmten wie die Überreste einer antiken Stadt, Säulen und Wällen und Gewölben aus weißem Marmor gleich. Sie jagten Licht und Schatten über die Wälder und Matten und Wiesen. Im Dickicht sangen Rotkehlchen. Diana lief ein paar Schritte voraus; sie wilderte nicht und folgte Jörn aufs Wort, sonst hätten wir sie auf unseren Ausritten durch die Wälder nicht mitnehmen können.

Wir schlugen den Weg zum Weiher ein, wo wir im Sommer so gern badeten. Bergprimeln und Trollblumen blühten auf den Feuchtwiesen, und an versteckten Stellen auch einheimische Orchideen, Knabenkraut und Frauenschuh. Schon zirpte eine einsame Grille zwischen den Grashalmen.

Der Weiher lag unter den dramatisch aufgetürmten Wolken, verträumt wie auf einem Bild aus der Romantik, umrahmt von Wäldern und Bergen. Die Frösche verstummten bei der lautlosen Erschütterung, die Hazels und Katamas Hufe auf dem weichen Boden verursachten. Ein Vogel, von dem Jörn behauptete, es wäre ein Teichrohrsänger, sang im Schilf.

Wir stiegen ab und ließen die Stuten grasen. Sie liebten das saure Gras der Feuchtwiesen und brauchten es ab und zu auch für ihren Darm, wie Mikesch behauptete. Dann saßen wir auf Jörns Pullover, während Diana zu unseren Füßen lag und mit gespitzten Ohren auf die Wasserfläche sah, wo Wasserläufer und allerlei Insekten zwischen der Entengrütze sprangen und paddelten, Beute suchten und Eier ablegten, fraßen und gefressen wurden wie seit Urzeiten schon.

Mein Kopf lag an Jörns Schulter. Ich versuchte den Augenblick zu genießen und nicht an morgen oder übermorgen zu denken. Doch auch Jörns Stimmung war nicht sorglos. Eine Welle der Unruhe schien von ihm auszugehen.

„Was ist los mit dir?“ fragte ich nach einer Weile leise, und er schwieg lange und erwiderte dann ebenso leise: „Ich glaube, meinem Vater geht es ziemlich schlecht, Nell. Irgendwie hab ich das Gefühl, daß ... daß er nicht mehr lange leben wird.“

Die Sonne war nun ganz hinter den Wolkengebirgen verschwunden, und das Land lag in tiefem Schatten. Der Kuckuck rief – es war wohl der erste in diesem Jahr. Kuk-kuck, sag mir doch, wie viel Jahre leb ich noch ...?

Ich konnte nicht sofort antworten. So vieles ging mir durch den Sinn. Es gibt Menschen, bei denen der Gedanke an den Tod kaum Gefühle auslöst, weil sie ihm in ihrem Leben noch nicht begegnet sind. Ich aber kannte und fürchtete ihn – seit meine Mutter gestorben war, seit Jörn den schweren Autounfall gehabt hatte, seit Nell eingeschläfert werden mußte und Helge von einer Fahrt nach Passau nicht zurückgekehrt war.

„Hat er mit dir darüber gesprochen?“ fragte ich schließlich mit gepreßter Stimme.

Jörn schüttelte den Kopf. Seine Hand in der meinen war kalt. „Darüber reden? Mit mir? Das würde er nie tun. Er zwingt sich, herumzuhinken und seiner Arbeit nachzugehen, aber ich merke ihm an, daß er’s kaum noch schafft.“

Er stockte und streichelte Dianas gefleckte Stirn. „Und Matty hat mir erzählt, daß während der Osterferien mehrmals der Arzt kommen mußte, so schlimm waren die Herzbeschwerden. Mikesch meint, Vater müßte längst ins Krankenhaus, aber er weigert sich hartnäckig.“

„Aber warum denn? Warum läßt er sich nicht helfen?“

„Er denkt wohl, daß es sowieso keine Hilfe für ihn gibt. Ich erinnere mich, daß er einmal gesagt hat, es wäre ein Fehler gewesen, damals nach seinem Unfall in die Klinik zu gehen und sich zusammenflicken zu lassen. Seiner Meinung nach gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder man ist gesund und stark und leistungsfähig, oder man fällt sich selbst und anderen zur Last; dann ist es besser, man macht sich davon, wie er das nennt.“

Hazel kam, um nach uns zu sehen. Sie war grün um die Nüstern und sabberte mir den Arm voll. „So ein Schwachsinn!“ sagte ich. „Dann dürfte es doch überhaupt keine kranken Menschen auf der Welt geben. Und keine Krankenpflege!“

Jörn schüttelte den Kopf. Er hatte es längst aufgegeben, seinen Vater ändern zu wollen; doch ich wußte, daß er immer unter dieser schlechten Beziehung gelitten hatte, unter der Unmöglichkeit, seinem Vater näherzukommen und von ihm geliebt und respektiert zu werden.

„Aber vielleicht“, sagte er in meine Gedanken hinein, „hat er irgendwo auch recht, wenn er nicht ins Krankenhaus will. Er spürt vielleicht, daß sein Herz schon sehr schwach ist, daß es keine Heilung mehr für ihn gibt. Wenn ich die todkranken Patienten in der Klinik sehe, wie sie an Schläuchen hängen und Wochen und Monate künstlich am Leben erhalten werden – das finde ich schlimm und unwürdig. Oft würden solche Menschen, wenn sie zu Hause wären, auf natürliche Weise sterben, und es ginge alles leichter und schneller für sie, so, wie es von der Natur und vom Schicksal vorgesehen ist. Aber wir müssen der Natur ja überall dreinpfuschen, weil wir meinen, daß wir alles besser wissen und können ...“

Ich versuchte mich in Herrn Mobergs Lage zu versetzen, mir vorzustellen, was ich tun würde, wenn ich todkrank wäre. Würde ich an mir herumexperimentieren und tausend Prozeduren über mich ergehen lassen, anstatt zu akzeptieren, daß meine Zeit abgelaufen war?

Jörn sah traurig aus. „Ich wollte, wir könnten endlich miteinander reden – ich wollte, Vater würde versuchen, liebevoll und offen mit mir zu sein, wenigstens ein einziges Mal. Wenn er nur nicht so verhärtet und verbittert wäre!“

„Versuch du es“, riet ich ihm, ganz wie auch er mir am Anfang unseres Ausritts geraten hatte. „Versuch es immer wieder. Damit du später nicht das Gefühl hast, etwas versäumt zu haben.“

Wir sahen uns an, und ich wußte, daß auch er an Helge dachte. Für kurze Zeit tauchte die Sonne zwischen den Wolkengebilden auf. Dankbar spürte ich ihre Wärme auf meiner Haut.

Unsere Hinterteile und Jörns Pulli waren feucht, als wir aufstanden. Der unermüdliche Vogel im Schilf begann wieder seine Strophe zu singen. Die Töne waren klar wie Perlen, aufgereiht an einer Schnur. Angesichts der Schönheit dieser Vogelstimme und des Weihers im wechselnden Licht, mit dem sachten Wind und dem Duft des Wassers und des Schilfs, fragte ich mich, ob es vielleicht in jenem anderen Leben, das nach dem Tod folgt, so schön sein würde wie hier, ob man sich dann ständig in diesem Zustand von Frieden und Harmonie und Glück befand, wie ich es an diesem Ort für Augenblicke erlebte. Wenn es so war, gab es keinen Grund mehr, Angst vor dem Tod zu haben oder traurig zu sein, wenn jemand starb.

Als wir zurückkamen, war der Hufschmied auf Dreililiens Hofplatz, um drei Reitschulpferde zu beschlagen. Jörn und ich rieben Hazel und Katama trocken und brachten sie auf die Koppel. Dann ging ich nach Hause und setzte mich mit meinen Arbeitsunterlagen ans Fenster. An diesem Nachmittag wenigstens fiel es mir nicht schwer, mich zu konzentrieren; und ich lernte, bis es Zeit war, nach Dreililien zu gehen und die Pferde in den Stall zu holen.

Am nächsten Tag war’s vorbei mit dem Frieden. Die Samstagsreiter kamen – bis auf Mücke, Charly und Roddy lauter Jugendliche, die ich noch kaum kannte. Auch Hopfi war wieder da und putzte die Fenster im Erdgeschoß des Gutshauses auf einer gefährlich wackligen Trittleiter.

Ich holte meinen und Jörns Schlafsack aus Roddys Auto. Dann ratschte ich eine Weile mit Mücke und Charly, bis die beiden mit Roddy und Maja in den Wald ritten, während Mikesch auf der Schwammerlwiese die Reitstunde abhielt.

Gemeinsam schoben Matty und ich das alte Pferdefuhrwerk aus der Remise, spannten Vroni davor und tuckerten nach Mariabrunn, um die bestellten Lebensmittel für Dreililien und das Kavaliershäusl abzuholen. Auch Milch und Eier vom Bergerhof standen auf unserer Liste.

„Warum hast du das Kathrinchen nicht mitgebracht?“ fragte Matty, als ich mich neben ihn auf den Kutschbock schwang. „Sie fährt doch so gern mit dem Pferdeauto!“

„Die hat Mumps“, sagte ich. „Sie liegt mit einem Schal um den Kopf im Bett und sieht aus wie ein kranker Osterhase. Daß wir fahren, hab ich ihr gar nicht gesagt, sonst wär sie bestimmt total durchgedreht.“

„Armes Leberecht Hühnchen!“ sagte Matty mitfühlend. So nannte er meine kleine Schwester in letzter Zeit, wobei keiner wußte, warum. Matty wiederum war für Kathrinchen nur noch der „Pumuckl“ wegen seiner gesträubten punkähnlichen Haare; und sie lachte sich jedesmal halbtot, wenn er so tat, als würde er sich mordsmäßig über diesen Spitznamen aufregen.

Auf dem Bergerhof war Carmen gerade dabei, Niobe aus dem Stall zu führen, ihre isabellfarbene Stute. Auf Carmens pausbäckigem Gesicht lag ein finsterer Ausdruck, was bei ihr meist ein Zeichen von Traurigkeit war.

„Ich wollte gerade zu euch reiten. Sie holen heute unsere Jungstiere ab und bringen sie zum Schlachthof. Da kann ich nicht dabei sein, das halt ich nicht aus“, sagte sie, während sich Vroni und Niobe zur Begrüßung die Hälse beknabberten.

Wir ließen uns von Carmens Mutter Milch und Eier geben und fuhren möglichst schnell wieder los, denn auch wir wollten nicht zusehen, wie die armen Jungstiere aus dem heimatlichen Stall geführt und in den Lastwagen geladen wurden.

„Das einzige, was ich für sie noch tun konnte, war, dafür zu sorgen, daß sie nur nach Traunstein in den Schlachthof müssen“, sagte Carmen unglücklich. „Und das ist schon schlimm genug, denn sie ahnen natürlich, was auf sie wartet, und spüren die Angst der anderen Tiere, wissen, daß der Geruch nach Blut den Tod bedeutet. Aber die elende Quälerei mit den weiten Schlachttransporten durch ganz Europa, das lasse ich nicht zu, da könnte ich nicht mehr schlafen. Es ist so ein verdammtes Unrecht, was sie da mit den Tieren machen! Tag und Nacht werden sie unter schlimmsten Bedingungen durch die Gegend gekarrt, ohne Futter und Wasser, und so eng zusammengepfercht, daß sie halbtot sind, wenn sie endlich ankommen. Es wäre ein Gnadenakt, wenn man sie vorher töten würde. Aber Lebendtransporte bringen mehr Geld, und das allein zählt. Welche Torturen die Tiere dabei aushalten müssen, ist den Leuten doch egal, die ihren Profit mit ihnen machen!“

„Es müssen endlich andere Gesetze erlassen werden“, sagte ich. „Bis jetzt kann jeder ein Tier quälen oder töten, und das zählt vor Gericht nur als Sachbeschädigung. Das muß man sich mal vorstellen! Als hätten Tiere nicht das gleiche Recht auf Leben wie wir, als wären sie nicht genauso fähig, Schmerz und Angst zu spüren! Diese Transporte sind einwandfrei schlimmste Tierquälerei, und doch verstoßen sie nicht gegen unser Gesetz.“

„Ja – die Tiere können sich nicht wehren, und die Tierschützer haben nicht genug Macht, um Druck auf unsere Politiker auszuüben, so wie’s beispielsweise die Großindustrie macht. Die Industrie hat jede Menge Einfluß bei uns, die kann ihre Ziele durchsetzen. Aber wenn es um das Recht der Tiere geht, rührt doch in unserer Regierung keiner einen Finger!“

Carmens Stimme klang bitter. Auch in mir regte sich der alte Zorn. Die Schlachttransporte, nicht nur von Pferden, sondern auch von Rindern, Schafen, Geflügel und Schweinen, waren ein Thema, das mich und meine Freunde immer wieder beschäftigte. Wir hatten schon mehrere Briefe an den Hochkommissar für Landwirtschaft in der Rue de la Loi 200 in Brüssel geschrieben mit der Aufforderung, den Lebendtransport zu verbieten; ebenso an den deutschen Landwirtschaftsminister im Bundeshaus Bonn; doch das Gefühl der Machtlosigkeit einem ungeheuren Unrecht gegenüber blieb. Mir fiel ein Spruch von Schopenhauer ein, den ich vor kurzem gelesen hatte: Nicht nur Mitleid, sondern Gerechtigkeit sind wir den Tieren schuldig. Aber wer hielt sich schon daran?

„Wenn es so was wie Sünde gibt“, sagte Matty, „dann ist es das Leiden, das wir anderen Lebewesen antun. Und ich bin überzeugt, daß wir alle dafür zahlen müssen. Wir tun es ja jetzt schon! Wenn wir die Natur zerstören, machen wir uns am Ende selbst kaputt, denn alles fällt auf uns zurück. Bloß kapieren das immer nur die, die kaum etwas ändern können. Die anderen, die an der Macht sind, verschließen die Augen davor, weil ihnen Profit und persönlicher Ehrgeiz wichtiger sind.“

Vroni zog unseren Wagen mit gespitzten Ohren und stolz erhobenem Kopf durchs Dorf; Carmen folgte auf Niobe, die eifrig hinter uns her klapperte. Freundlich sahen die Leute über ihre Gartenzäune und nickten uns zu. Es gab eigentlich kaum einen in Mariabrunn, der sich nicht freute, wenn wir mit den Pferden auftauchten.

„Es haben doch immer die falschen Leute das Geld“, sagte Matty unterwegs. „Wenn ich reich wäre, würde ich jede Menge Schlachtpferde aufkaufen und bei uns unterbringen. Das ist doch viel sinnvoller, als immer noch mehr Pferde zu züchten. Eigentlich sollte man sich vor allem um die kümmern, denen es schlecht geht, statt ständig neue Tiere heranzuzüchten und sie irgendwann einem ungewissen Schicksal zu überlassen. Denn viele Pferde werden nur von ehrgeizigen Leuten ausgebeutet, die eine Art nobles Sportgerät in ihnen sehen und sie gnadenlos abschieben, wenn sie nichts mehr taugen.“

Ich schwieg und nahm mir vor, endlich wieder Lotto zu spielen. Ein Hauptgewinn, dachte ich sehnsüchtig, das wär’s! Doch ich hatte im Lauf der Jahre schon mehrere Versuche gestartet und wieder aufgegeben, wenn ich immer nur die falschen Zahlen angekreuzt hatte und nicht einmal meinen Einsatz zurückbekam.

,,Vielleicht läuft uns ja mal ein Millionär über den Weg, der nicht weiß, was er mit seinem Geld anfangen soll“, sagte ich ohne große Hoffnung, und Matty meinte, so etwas gäbe es nur im Film.

Ich wandte mich nach Carmen um. Der Wind blies ihr die weizenblonden Haarsträhnen ums Gesicht. Sie und die rundliche alte Niobe mit der gelben Mähne paßten so gut zusammen, daß mir warm ums Herz wurde, wie immer, wenn ich die beiden zusammen sah.

Doch über einem Pferd, das Glück gehabt und einen liebevollen Platz für seine alten Tage bekommen hatte, durfte man die vielen anderen nicht vergessen, die ein Leben lang benutzt und ausgebeutet werden und dann nicht einmal in Frieden alt werden und sterben dürfen, sondern einen qualvollen letzten Weg hinter sich bringen müssen.

Ich holte tief Luft.

Matty sah mich von der Seite an und fragte: „Was hast du, Nell? Ist dir schlecht geworden?“

Ich erwiderte: „Ich hab an die armen Tiere denken müssen ... an die Schlachttransporte ...“

„Ja“, sagte Matty bitter. „Da kann einem wirklich übel werden. Manchmal denke ich, daß wir Menschen eine Art Fehlentwicklung sind. Kein Lebewesen ist zu solchen Greueltaten fähig wie wir. Wenn ich zu viel über all das nachdenke, pack ich’s kaum noch! Vor ein paar Tagen war in der Zeitung ein Bild von einem Äffchen in einem Versuchslabor. Ich kann seine Augen einfach nicht vergessen ... so verzweifelt und verständnislos, so anklagend: Warum tut ihr mir das an? Darunter stand ein Ausspruch von einem Professor Spaermann an der Münchner Uni, den hab ich mir gemerkt: Die absichtliche Verwandlung eines Lebewesens in ein Bündel von Leiden und stummer Verzweiflung ist ein Verbrechen – was sollte sonst ein Verbrechen sein?“

Matty stockte und schüttelte den Kopf. „Das mit den Tierversuchen bedrückt mich so, da könnte ich manchmal die Lust am Leben verlieren. Wenn ich daran denke, schäme ich mich echt, ein Mensch zu sein!“ Er tat einen Atemzug. ,,Weißt du, daß sie in solchen Labors den Versuchstieren manchmal die Stimmbänder durchschneiden, damit sie die Schreie der Tiere nicht hören müssen?“

Ich starrte ihn an. Ein Gefühl von Grauen überkam mich, gepaart mit Schmerz und Wut und Scham und ungeheurer Hilflosigkeit; und plötzlich begann ich zu weinen. Die Tränen liefen mir nur so übers Gesicht; ich hätte am liebsten die Fäuste geballt und zum Himmel geschrien, warum Gott solche Dinge zuließ, wenn es ihn gab.

„Entschuldige, Nell“, sagte Matty. Seine Stimme klang erschrocken, und er legte die Hand auf meinen Arm.

Ich wollte antworten, daß er nichts dafür konnte, er ganz bestimmt nicht, doch ich brachte kein Wort heraus, weinte nur und weinte, daß es mich schüttelte. Da schlossen Carmen und Niobe neben dem Pferdefuhrwerk auf, und Carmen rief: „Allmächtige Tante, was ist denn passiert?“ Als ich keine Antwort gab: „Was hat sie, Matty?“

„Ich hab ihr was erzählt“, sagte er, noch immer in diesem erschrockenen Ton. „Ich hätt’s nicht sagen sollen, es tut mir leid. Es reicht ja schon, daß ich es weiß.“

Carmen ritt eine Weile schweigend neben uns her. Ich versuchte mich zusammenzunehmen, schniefte und rieb mir die Augen und versuchte den Klang von Mattys Stimme aus meinem Kopf zu vertreiben, die sagte: „Sie schneiden ihnen die Stimmbänder durch.“ Doch es ging nicht, es ließ mich nicht los, und etwas in mir war total verzweifelt und aus der Bahn geworfen.

Die Tränen kamen immer wieder von neuem, und das Schluchzen schüttelte mich nur so. Ich drehte mich um, legte die Arme auf die Eisenstangen hinter den Sitzen und stützte die Stirn darauf. Da hielt Vroni an, und ich hörte Carmen wie aus weiter Ferne fragen: „Ist was mit Jörn?“

„Nein.“ Matty legte den Arm um mich. Da saß plötzlich auch Carmen mit auf dem Kutschbock und drückte ihre Schläfe an die meine, und Matty streichelte mich wie eine Mutter ihr Kind und sagte wieder und wieder: „Entschuldige, Nell. Bitte entschuldige!“

Ich rief undeutlich unter Tränen: „Du kannst nichts dafür, du bestimmt nicht! Du bist doch der letzte, der so was Bestialisches tun würde! Aber die anderen ... Warum machen Menschen so was? Warum, warum? Und warum läßt man sie das machen? Warum greift keiner ein?“

Ich weiß nicht, wie lange ich schluchzte. Über mir hörte ich Carmens und Mattys murmelnde Stimmen. Schließlich hielt mich Carmen in den Armen und streichelte meine Haare und meine Stirn, und auch sie weinte.

Als ich endlich meine verquollenen Augen öffnete, sah ich, daß Matty sehr blaß war und ein Gesicht machte, als hätte man ihn geschlagen. Da nahm ich mich endlich zusammen und schnaubte die drei Taschentücher voll, die ich hatte, eins von Carmen und zwei aus meiner eigenen Hosentasche; und als wieder Luft durch meine vom Weinen zugeschwollene Nase kam, murmelte ich: „Entschuldige, Matty!“

„Jetzt hört endlich auf, euch umschichtig zu entschuldigen!“ befahl Carmen. „Es ist ganz in Ordnung, daß man seinen Freunden etwas erzählt, was einen bedrückt. Und es ist genauso in Ordnung, daß man über Grausamkeiten weint. Mir geht’s eher so, daß ich vor Wut schreien und toben könnte, wenn ich so was höre. Ich könnte hingehen und Leute kaltblütig umbringen, die solche Verbrechen begehen, und das ist halt meine Reaktion. Die Frage, die sich stellt, ist bloß: Was kann man wirklich dagegen tun?“

„In ein Labor einbrechen und die Tiere befreien“, sagte Matty. „Das hab ich mir schon überlegt, ehrlich!“

„So einfach ist das aber nicht“, erwiderte Carmen. „Komm erst mal in so eine pharmazeutische Festung hinein; die sind garantiert einbruchssicher. Und dann die Tiere – was willst du mit denen machen? Die sind verletzt und krank und zutiefst gestört, verängstigt oder aggressiv. Sie trauen Menschen nicht mehr. Außerdem ist das ungesetzlich. Man wird als Einbrecher bestraft, wenn sie einen erwischen.“

„Ist mir doch egal!“ sagte Matty.

„Ja“, bestätigte ich mit meiner verheulten Stimme. „Scheißegal! Sollen sie einen doch deswegen einsperren, wenn sie sich nicht schämen. Dann sitzt man eben auf der Anklagebank, und diejenigen, die foltern und morden, haben das Gesetz auf ihrer Seite. Eine feine Gesellschaft ist das, in der wir leben, das muß ich schon sagen!“

„Zum Davonlaufen!“ sagte Carmen. „Es läßt sich auch bloß aushalten, weil man weiß, daß es noch andere Menschen gibt, die so denken wie wir, und die mit den geringen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, gegen das Unrecht ankämpfen. Sonst könnte man verzweifeln.“

Auf der letzten Strecke kamen uns ein paar der Samstagsreiter entgegen, die nach Mariabrunn zum Bus wollten. Ich merkte, daß sie mich verwundert ansahen. Bestimmt sah ich schrecklich verschwollen und verheult aus, aber es war mir gleichgültig. Auf dem Hofplatz wusch ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser aus dem Brunnen und half Matty dann, Vroni auszuspannen, den Wagen in die Remise zurückzubringen und die Lebensmittelkartons ins Haus zu tragen.

Als nächstes ging ich zu Hazel auf die Koppel, wie immer, wenn ich Kummer hatte. Sie stand mit gesenktem Kopf unter einer Gruppe von Eichen, die noch unbelaubt waren, und die Sonne lag warm auf ihrem haselnußbraunen Fell. Ich rief sie nicht, denn ich wollte sie nicht bei ihrem Nickerchen stören; doch sie mußte mich kommen gehört oder gewittert haben, denn sie hob den Kopf und wieherte leise mit ihrer hellen Stutenstimme.

Lange stand ich da, die Arme um ihren Hals geschlungen. Ich sah Carmen und Roddy in den Wald reiten, hörte das Drei-Uhr-Geläut der Dorfkirche, das samstags immer so feiertäglich klang, und das ferne Singen einer Säge. Die Welt schien in Ordnung; gerade hier in unserem Tal wirkte alles so friedlich, doch dieser Friede war trügerisch.

Ich fühlte mich seltsam leer nach meinem Tränenausbruch, nicht erleichtert, sondern eher ausgelaugt und ratlos; und ich dachte: Ich kann nie wieder so unbeschwert sein wie früher. Wie soll man unbeschwert leben können, wenn man weiß, daß die Welt um einen herum voller Schmerz und Grausamkeit ist?

„Du hast’s gut, Hazel“, murmelte ich. „Du weißt nichts von all dem. Und ich werde dafür sorgen, daß du es auch nie erfährst. Wenn du sterben mußt, sollst du ohne Angst und in Würde sterben dürfen, und ich werde bei dir sein. Ich bin dir treu, so wie du mir treu bist. Ich würde dich nie gegen ein anderes Pferd austauschen und weggeben, nur weil du nicht schön oder edel oder leistungsfähig genug bist, so wie es viele Pferdebesitzer tun. Ich werde nie zulassen, daß dir etwas Böses geschieht.“

Sie drückte ihre Stirn mit der weißen Zeichnung an meine Schulter, und ich fühlte mich getröstet, als ich ihr das versprochen hatte. Neben der dunklen Seite von Leid und Gewalt gibt es ja auch die helle; die Seite der Liebe, der Fürsorge und Treue. Und dafür lohnt es sich zu leben.

Reiterhof Dreililien 10 - Wege in Schatten und Licht

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