Читать книгу Reiterhof Dreililien 4 - Der Sommer im Tal - Ursula Isbel - Страница 5

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Kathrinchen bekam Zähne und schrie täglich stundenlang in den jämmerlichsten Tönen. Kirsty und Vater konnten kaum noch schlafen, und ich löste das Problem, indem ich mir nachts Watte in die Ohren steckte.

„Der Mensch ist ein geplagtes Tier“, sagte Frau Hopfwieser philosophisch, die jetzt zweimal wöchentlich ins Kavaliershäusl kam, um Kirsty im Haushalt zu helfen. „Zuerst plagen einen die Zähne, wenn sie kommen, und dann plagen sie einen, bis sie wieder draußen sind.“ Und sie sah mit einem tiefsinnigen Seufzer ins Abwaschwasser.

Ich fragte: „Sie kommen doch in den Pfingstferien wieder nach Dreililien und versorgen die Reitschüler, Hopfi?“

„Ja, freilich. Hab’s schon mit dem Herrn Mikesch ausgemacht.“ Sie warf Kirsty, die im Schaukelstuhl saß und Kathrinchen stillte, einen besorgten Blick zu. „Hoffentlich können’s die zwei Wochen ohne mich auskommen.“

„Es wird schon gehen“, sagte Kirsty. „Dann ist’s eben mal nicht so sauber bei uns. Herr Alois wird selig sein, wenn er seine Knochen wieder einige Zeit unter dem Teppich vergraben kann, ohne daß sie gleich jemand findet.“

Herr Alois, Kirstys wuscheliger brauner Hund, kam unter dem Tisch hervor, als er seinen Namen hörte. Er machte ein unschuldiges Gesicht; so, als wüßte er überhaupt nicht, was ein Knochen ist, und als wäre ihm die Möglichkeit völlig fremd, irgend etwas unter einem Teppich zu verstecken.

Ich mußte lachen. „Wenn sie zu stinken anfangen, merken wir’s schon“, sagte ich.

Hopfi rümpfte die Nase. „Hunde gehören nicht ins Haus“, predigte sie. Aber keiner achtete darauf, weil sie das immer mindestens fünfmal sagte, wenn sie bei uns war. Plötzlich hörte Kathrinchen zu trinken auf, verzog das Gesicht und begann zu heulen. Ihre rechte Backe war feuerrot. Sie schrie so jämmerlich, daß es einen richtig fertigmachen konnte.

„Das arme Geisterl“, sagte Frau Hopfwieser, als Kathrinchen eine kurze Pause einlegte. Sie nannte Kinder oft „die kleinen Geisterl“. Herr Alois kratzte an der Küchentür. Wahrscheinlich wollte er in den Garten, um seine Ohren zu schonen.

Ich ließ ihn hinaus, setzte mich für eine Weile auf die Treppe vor der Haustür, Kathrinchens Jammergeschrei in den Ohren, und ließ mir die Sonne aufs Gesicht scheinen. Die Klematissterne blühten unglaublich blau an der Hauswand wie auf dem Bild eines alten Poesiealbums, und der Wind rauschte und flüsterte in der Eiche. Von Ferne schrie der Kuckuck; die Lerchen schwirrten wieder über den Koppeln wie im vergangenen Jahr. Der Sommer stand vor der Tür, mit seinem ganzen Reichtum, seiner Fülle.

Ich dehnte mich und hatte mit einemmal das Gefühl, daß dieser Sommer wie ein unermeßliches Geschenk, wie eine Kiste voller Schätze vor mir lag; mit Jörn und Matty und Mikesch, den Pferden, mit dem Heu auf den Wiesen, dem warmen Wasser des Waldteichs, den Lesestunden in der Hängematte.

Ich schleuderte meine Sandalen von den Füßen und ging barfuß durch das Gras des Gartens, das noch naß vom Morgentau war. Die erste Grille zirpte eindringlich zwischen den Apfelbäumen, und die Knospen des Kletterrosenstrauches, der sich bis zu meinem Fenster emporrankte, wurden schon dicker.

Herr Alois, der gerade im Obstgarten herumstöberte, hob den Kopf und bellte. Dann raste er mit fliegenden Ohren zur Gartenpforte. Ich drehte mich um. Diana, die gefleckte Jagdhündin von Dreililien, streckte den Kopf über den Zaun.

Wo Diana war, konnte Jörn nicht weit sein. Sie folgte ihm meist wie ein Schatten. Ich lief durchs Gras und auf den Kiesweg und merkte kaum, daß sich die kleinen Steine in meine Fußsohlen bohrten. Herr Alois zwängte sich durch die Pforte; er zeigte sich von seiner nettesten Seite. Er scharwenzelte um Diana herum, warf auffordernd den Kopf zurück und scharrte mit den Hinterpfoten, daß Gras und Steine flogen, doch sie kümmerte sich gar nicht um ihn. Sie sprang zur Begrüßung an mir hoch, und da tauchte auch Jörn zwischen den Haselnußsträuchern auf.

Ich ging ihm entgegen. „Servus, Nell“, sagte er, und als wir uns umarmten, merkte ich, wie unruhig und angespannt er war. „Heute geht’s zu Hause mal wieder rund. Meine Eltern sind in Frasdorf, und die Theres muß auf eine Beerdigung. Ich hab versprochen, schnell ins Dorf zu fahren und einzukaufen. Matty hilft Mikesch bei den Reitstunden. Kommst du mit?“

Ich hatte fast vergessen gehabt, daß heute Samstag war; an den Wochenenden gab es auf Dreililien wegen der Reitschüler immer doppelte Arbeit. Jörn hatte heute lernen wollen, das wußte ich, aber irgendwie kam fast immer etwas dazwischen, was ihn davon abhielt.

„Kann ich nicht mit dem Fahrrad fahren und für euch einkaufen?“ fragte ich hastig.

Er legte den Arm um meine Schultern. „Das ist lieb von dir“, erwiderte er, „aber du hast ja keine Ahnung, welche Riesenmengen wir brauchen. Du würdest das Zeug gar nicht aufs Fahrrad bringen. Außerdem muß ich noch schnell beim Lagerhaus vorbeischauen und fragen, ob das Kraftfutter schon geliefert worden ist. Am besten nehmen wir den Traktor und den Anhänger, dann können wir die Säcke gleich mitnehmen, falls sie da sind.“

Ich sagte: „Du, wir teilen uns die Arbeit, dann geht’s rascher. Ich kaufe ein, während du zum Lagerhaus fährst. Dann holst du mich beim Laden ab. In Ordnung?“

„Damit könnten wir eine halbe Stunde sparen, ja.“ Jörn sah sich seufzend um. „Die Erlenwiese müßte dringend gemäht werden. Hoffentlich kommt der Sepp heute noch. Im Moment hat er allerdings wohl mit seiner eigenen Heuarbeit genug zu tun.“

Sepp half auf Dreililien stundenweise als Stallknecht aus. Er hatte in der Nähe seinen eigenen kleinen Bauernhof, der jedoch nicht genug einbrachte, daß er und seine Familie davon leben konnten.

Überall nichts als Arbeit – man weiß gar nicht, wo man anfangen soll!“ sagte Jörn düster. Zuwenig Geld und zuviel Arbeit – das war das ewige Problem auf Dreililien, auch jetzt, wo das Gestüt zur Reitschule erweitert worden war. Da die Pferdezucht nicht mehr genug abwarf, hatte Herr Moberg vor fast einem Jahr beschlossen, die Pferde zu verkaufen; und um das zu verhindern, war die Idee mit der Reitschule entstanden . Nun kam regelmäßig jeden Samstag und Sonntag ein ganzer Schwung junger Leute zum Reitunterricht nach Dreililien. Diese regelmäßigen Einnahmen von den Wochenend-Reitstunden und den Reiterferien brachten gerade so viel ein, daß man auf Dreililien jetzt einigermaßen um die Runden kam. Reichtümer ließen sich dabei allerdings nicht verdienen. Es reichte nach wie vor nur für ein winziges Gehalt für Mikesch, und die längst fälligen Reparaturen an den Gebäuden mußten immer wieder verschoben werden.

Doch unser wichtigstes Ziel hatten wir erreicht: Die Pferde mußten nicht verkauft werden. Es war schlimm genug, daß Friedrich Horkheimer, der Pferdehändler, von Zeit zu Zeit auf dem Hof erschien und eines von den Fohlen mitnahm . . .

Ich murmelte: „Ich hole nur schnell meine Schuhe und sag Kirsty Bescheid. Vielleicht braucht sie auch etwas aus dem Dorf.“

Jörn nickte. „Ist gut. Ich fahre inzwischen den Traktor aus der Scheune. Wir treffen uns dann am Kreuzweg.“

Auf dem Weg nach Mariabrunn begegneten uns erst die Freundinnen Lisa und Martina auf ihren Fahrrädern. Sie kamen aus Frasdorf und schwitzten heftig, denn die Strecke nach Mariabrunn war eine einzige Berg-und-Talfahrt. Sie winkten und riefen uns etwas zu, was wir nicht verstanden. Am Dorfrand kam dann Roddy mit wildem Geknatter auf seinem Moped angefahren. Er hieß eigentlich Christian, doch wir nannten ihn wegen seiner Ähnlichkeit mit Rod Stewart nur noch Roddy.

Als er uns sah, hielt er an, hob die Klappe seines Sturzhelms und schrie: „Ich kann heute länger bleiben. Wenn’s euch recht ist, helfe ich nach der Reitstunde bei der Heuarbeit.“

Jörn stellte den Motor ab und sah zweifelnd auf ihn nieder. „Recht wär’s uns schon, aber kannst du denn überhaupt mähen?“

„Klar. Ich war früher in den Ferien immer bei einem Onkel auf dem Land und hab ihm bei der Arbeit geholfen. Vielleicht kommt Carmen auch und macht mit.“

Er fuhr wieder los und preschte so um die Kurve, daß eine Schar Hühner mit lautem Gegacker flüchtete. „Dann wäre wenigstens das Problem mit der Erlenwiese gelöst“, sagte Jörn erleichtert. „Manchmal denke ich, mir wächst alles total über den Kopf; aber dann geht’s meistens doch irgendwie.“

Ich sah ihn von der Seite an. Sein schmales, fast hageres Gesicht war ernst; ein Muskel an seinem Kinn zuckte. Ich dachte, daß er für sein Alter eigentlich schon viel zuviel um die Ohren hatte. Sein Vater war seit einigen Jahren durch einen Autounfall schwer gehbehindert, und seitdem trug Jörn eine Menge Verantwortung für den Hof–mehr, als gut für ihn war, fand ich. Durch Mikesch war das besser geworden; doch auch jetzt, wo Jörn sich eigentlich nur um sein Abitur hätte kümmern sollen, hatte er noch zu viele Pflichten.

Er setzte mich mit einer langen Einkaufsliste vor dem Supermarkt ab, der eigentlich überhaupt nicht in unser verschlafenes kleines Dorf paßte, und fuhr zum Lagerhaus weiter. Zum Glück waren noch keine Feriengäste unterwegs, so daß ich an der Kasse nicht warten mußte. Als ich wieder aus dem Laden trat, hatte Jörn den Traktor schon vor dem Gasthaus geparkt; er kam mir entgegen und schleppte einen Riesenkarton voller Lebensmittel über die Straße.

„Alles in Ordnung“, sagte er. „Das Kraftfutter war da. Jetzt nichts wie nach Hause. Kann ich heute zu euch in den Garten kommen und dort lernen? Wenn ich daheim bleibe, will doch bloß ständig einer etwas von mir. Da ist’s besser, ich seile mich ab.“

„Klar“, erwiderte ich froh. „Du kannst mittags bei uns essen, und nachmittags mache ich dir dann Kaffee, wenn ich mit Hazel ausgeritten bin. Sie braucht dringend Bewegung.“

„Allerdings. Sie wird in letzter Zeit ein bißchen zu fett“, gab er zurück. „Übergewicht ist schlecht, das schadet auch ihren schwachen Gelenken. Du mußt mit dem Füttern aufpassen, Nell. Ich glaube, du gibst ihr vor lauter Liebe zu viel zu fressen.“

Ich sah ihn schuldbewußt an. „Vielleicht hast du recht. Aber . . . ich kann ihr nicht widerstehen, wenn sie mich so mild und geduldig ansieht, weißt du.“

Jörn grinste. „Die Wahrheit ist, daß du das bißchen Taschengeld, das dir im Monat noch bleibt, für Äpfel, Bananen und Karotten ausgibst, weil Hazel sie so gern frißt. Man kann’s auch übertreiben.“

„Ja, schon. Ich denke bloß immer, sie könnte vielleicht wieder krank werden, wenn sie nicht genug Vitamine bekommt.“

Hazel war mein Pferd, das liebste, gutmütigste Tier, das man sich vorstellen kann. Ich hatte sie Herrn Moberg im vergangenen Spätsommer um einen Spottpreis abgekauft, weil sie an einer schweren Hufkrankheit litt und getötet werden sollte. Jetzt konnte sie nur noch sehr vorsichtig geritten werden – doch ums Reiten ging es mir eigentlich gar nicht. Mir war es vor allem wichtig, daß Hazel auf Dreililien bleiben durfte, zusammen mit den anderen Pferden, und daß sie es gut hatte. Das hatte sie verdient.

Jörn sagte: „Bis auf die Hufrehe ist Hazel pumperlgesund. Es sei denn, du mästest sie weiter, bis sie platzt.“

„Hab schon verstanden“, sagte ich. „Du brauchst mir keine Moralpredigt zu halten. Ich werde in Zukunft besser aufpassen.“

Als wir Dreililien erreichten, waren Mikesch und Matty mit den Reitschülern ausgeritten. Sepp war nicht gekommen; vermutlich mähte er gerade eine seiner eigenen Wiesen. Doch ich war sicher, daß Carmen bald auftauchen würde, so wie jeden Samstag, wenn Roddy hier war.

Carmen kam auch wirklich kurze Zeit später angeradelt, einen gewaltigen Sonnenbrand auf der Nase und den Oberarmen. „Jedesmal, wenn’s ans Heuen geht, krieg ich einen halben Sonnenstich!“ stöhnte sie und lehnte ihr Fahrrad gegen die Stallmauer. „Wenn ich bloß so eine Haut hätte wie du, Nell! Du wirst erst rot wie eine Indianersquaw und dann richtig braun, aber ich mit meinen Sommersprossen und meiner Schweinchenhaut . . . Ich glaube, meine Eltern haben auch nicht mit einem rotblonden Blasengel gerechnet, als sie mich ausgerechnet Carmen taufen ließen!“

Jörn grinste. „Sie hätten sich’s eigentlich denken können, wo sie doch beide noch blonder und blauäugiger und pausbäckiger sind als du“, sagte er. „Hör mal, Roddy wollte übrigens heute nach der Reitstunde länger hierbleiben und unsere Erlenwiese mähen. Er meint, er könnte das mit dir zusammen machen, aber wenn du sowieso schon einen Sonnenbrand hast . . .“

„Ist egal“, erwiderte Carmen rasch. „Dann zieh ich halt ein T-Shirt mit langen Ärmeln an. Leihst du mir eins, Nell?“

Ich nickte. „Klar. Du brauchst bloß …“

Jörn faßte mich am Arm. „Seht mal“, sagte er. „Da kommt Mikesch zurück – allein und ohne Pferd.“

Wir spähten zum Waldrand, wo Mikeschs hohe Gestalt zwischen den Buchen aufgetaucht war. Die Sonne blendete uns so, daß wir zuerst nur seinen Umriß sahen. Dann sagte Carmen halblaut: „Er ist nicht allein. Ich glaube, er trägt jemanden!“

Wir wechselten einen erschrockenen Blick. Ohne ein Wort zu erwidern, raste Jörn los, den Pfad zwischen den Koppeln entlang.

„Verdammt!“ sagte ich. Dann rannten wir ihm nach.

Es war Sabine Mayreder, die blasse, unscheinbare Dreizehnjährige, die meist unbeachtet im Hintergrund stand. Sie mußte vom Pferd gestürzt sein, denn Mikesch trug sie auf den Armen. Einen Augenblick lang durchfuhr mich ein wahnsinniger Schreck. Ich dachte, Sabine wäre tot – doch als ich näher kam, sah ich, daß ihre Augen offenstanden. Ihr linkes Bein baumelte irgendwie verdreht herab. Sie war leichenblaß.

Schon war Jörn bei ihnen und fragte Mikesch, ob er ihm Sabine abnehmen sollte. Mikesch schüttelte den Kopf und ging weiter. Wer weiß, wie weit er sie schon getragen hatte. Ein Glück, daß er so groß und stark war.

Als wir dazukamen, begann Sabine zu weinen. Ich dachte zuerst, sie hätte Schmerzen, doch dann hörte ich sie schluchzend sagen: „Meine Mutter wird mich nie wieder reiten lassen!“

Ich biß mir auf die Unterlippe. In meine Erleichterung, daß der Reitunfall offenbar einigermaßen glimpflich abgegangen war, mischte sich Mitleid. Sabine mit der ängstlichen, gluckenähnlichen Mutter – bestimmt würde Frau Mayreder ihre Tochter nach diesem Unfall nie wieder auf ein Pferd steigen lassen! Und obwohl ich nur selten ein Wort mit Sabine gewechselt hatte, ahnte ich doch, wie wichtig das Reiten für sie war – vielleicht gerade deshalb, weil sie sich die Reitstunden so mühsam hatte erkämpfen müssen.

„Was ist passiert?“ fragte ich keuchend.

„Eileen hat vor einem Fasan gescheut, der aus dem Dickicht aufgeflattert ist“, sagte Mikesch. „Da ist Sabine gestürzt und mit dem linken Bein gegen eine Baumwurzel geprallt.“

Er machte ein grimmiges Gesicht, wie meistens, wenn ihm etwas leid tat. Außerdem fühlte er sich wohl verantwortlich für den Unfall, obwohl es doch wirklich nicht seine Schuld war. Daß das ausgerechnet Sabine passieren mußte! Bei jedem anderen Reitschüler wäre es nicht so schlimm gewesen . . .

„Scheiße“, sagte Jörn.

Als wir den Hof erreichten, lief Jörn ins Wohnhaus, um den Arzt anzurufen. Mikesch trug Sabine über den Innenhof und hinauf in die ehemalige Fuhrknechtskammer, wo er wohnte.

Carmen und ich folgten ihm schweigend. Er legte Sabine vorsichtig auf die große Matratze, die ihm als Bett diente. Sabine schien Schmerzen zu haben, sie biß die Zähne aufeinander. Doch sie jammerte nicht.

„Könnten wir nicht sagen, daß es ein Unfall mit dem Fahrrad war?“ schlug Carmen nach einigen Minuten ratlosen Schweigens vor. „Ich meine, wenn du sonst nicht mehr reiten darfst . . .“

Mikesch erwiderte: „Nein, das geht nicht. So eine Lüge bringt nichts. Außerdem würde es sowieso keiner glauben. Was meinst du, Sabine?“

„Nein“, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme, „Es hat keinen Sinn, zu lügen.“

Mikesch nickte. „Ich werde mit deiner Mutter reden.

Vielleicht gelingt es mir, ihr klarzumachen, daß kein Mensch leben kann, ohne gewisse Wagnisse einzugehen – und daß sie dich nicht vor Schaden bewahren kann, wenn sie dich ständig in Watte packt und in einen Glaskasten steckt.“

Sabine sah zu ihm auf. „Sie wird’s nicht verstehen“, sagte sie.

Ich glaubte es auch nicht. Vom Hof her klang Hufgetrappel zu uns herauf. Matty war mit den Reitschülern vom Ausritt zurückgekommen. Doch das gewohnte Stimmengewirr blieb aus. Ein Pferd wieherte erregt, und Matty rief etwas. Obwohl wir die Reitschüler nicht sehen konnten, hing die Bedrückung, der Schrecken über den Unfall, doch fast greifbar in der Luft.

Mikesch kniete vor der Matratze und machte sich sehr behutsam daran, Sabine den linken Reitstiefel auszuziehen. Sie biß die Zähne zusammen, stieß dann aber doch einen Schmerzensschrei aus.

„Es geht nicht“, sagte er schließlich. „Das Bein ist schon zu sehr geschwollen. Wir müssen den Stiefel aufschneiden.“

Auf der Treppe erklang Gepolter. Matty tauchte im Türrahmen auf und streckte den Kopf ins Zimmer. Er war bleich um die Nase. „Wie geht’s? Habt ihr den Arzt schon verständigt?“

„Jörn ist gerade dabei“, erwiderte Mikesch. „Ich krieg den Stiefel nicht herunter.“

„Ich hole ein scharfes Messer.“ Doch Matty war so erhitzt und atemlos, daß ich rasch sagte: „Laß nur, das mach ich schon.“

Ich war froh, aus der Fuhrknechtskammer herauszukommen. Es tat mir richtig weh, Sabines gequältes und hoffnungsloses Gesicht zu sehen. Carmen folgte mir leise.

„Bringt Franzbranntwein aus der Hausapotheke mit!“ rief Mikesch uns nach.

Auf dem Hofplatz standen die Reitschüler mit verwirrten Mienen. Roddy hielt Eileen am Zügel, die mit weit aufgerissenen Augen und geblähten Nüstern herumtänzelte.

„Was ist los? Wie geht’s ihr? Hat sie sich den Fuß gebrochen?“ riefen uns Martina und Lisa zu, als wir vorüberkamen.

„Ich glaube, es ist nicht so arg“, murmelte Carmen. „Der Arzt muß jeden Moment kommen.“

Jörn kam uns an der Vortreppe entgegen. „Dr. Erler hat gesagt, ich soll die Ambulanz anrufen“, erklärte er, „damit Sabine sofort ins Kreiskrankenhaus zum Röntgen gebracht werden kann. Sie müßten in spätestens einer halben Stunde hier auftauchen.“ Er fuhr sich mit den gespreizten Fingern durchs Haar. „Am besten, wir sagen meinem Vater vorerst nichts von der Sache. Er sieht immer gleich alles so schwarz und denkt, die totale Katastrophe wäre über uns hereingebrochen. Glücklicherweise ist Mutter heute mit ihm zur Unterwassermassage gefahren, da kriegen sie von allem nichts mit.“

Ich nickte wortlos. Jörn tat mir fast ebenso leid wie Sabine, wie er dastand, das Gesicht blaß unter der ersten Sonnenbräune. Zu allem anderen, was ihn zur Zeit belastete, jetzt auch noch das! Außerdem war ich nicht sicher, ob nicht vielleicht wirklich eine Katastrophe im Anrollen war. Man konnte nie wissen, wie Frau Mayreder reagieren würde. Es war ihr durchaus zuzutrauen, daß sie sich einbildete, wir – beziehungsweise Mikesch oder unsere Pferde – wären schuld an dem Unfall, und die Leitung der Reitschule wäre verantwortungslos und unzuverlässig, und daß sie das überall herumposaunte und die Eltern unserer Reitschüler verrückt machte.

„Wenn sie Sabine abgeholt haben, kommst du aber wirklich zu uns in den Garten“, sagte ich leise. „Ich massiere dir den Nacken, damit du dich ein bißchen entspannst und noch lernen kannst.“

Jörn warf mir einen dankbaren Blick zu und lief weiter über den Innenhof. Roddy kam uns mit Eileen nach. Er sagte: „Verdammter Mist! Kann ich euch helfen?“

„Um Sabine kümmert sich schon der Mikesch“, erwiderte Carmen, die noch röter geworden war, wie immer, wenn sie Roddy traf.“Nell, wenn du das Messer und den Franzbranntwein holst, gehen Roddy und ich jetzt zu den Reitschülern und helfen Matty, damit sie nicht ewig hier herumstehen. Wir müssen dafür sorgen, daß sie im Stall sind und sich um die Pferde kümmern, wenn Sabine von den Sanitätern abgeholt wird. Ein Glück, daß heute wenigstens keine Eltern auftauchen!“

Ja, das war immerhin ein Trost. Allerdings würden die Reitschüler natürlich sofort erzählen, was vorgefallen war, sobald sie nach Hause kamen! In düsterer Stimmung öffnete ich die Tür zu der riesigen, ziemlich ungemütlichen Gutsküche. Hier war es sehr still bis auf das eintönige Ticken einer Uhr und das Summen der Fliegen die gegen die Fensterscheiben prallten. Eine von den schwarzweißen Katzen – es gab insgesamt allein drei schwarzweiße Katzen auf Dreililien, die niemand auseinanderhalten konnte – sprang bei meinem Eintritt von einem Stuhl und strich mir maunzend um die Beine.

„Ich hab jetzt keine Zeit, dich zu streicheln“, sagte ich. „Hier ist heute der Teufel los, aber das kümmert dich natürlich wenig, Katze.“ Und ich ging zum Kühlschrank und goß heimlich etwas Milch in das Katzenschälchen.

Während sie schnurrend die Milch aufleckte, fand ich ein Fleischermesser, das ausgesprochen gefährlich aussah, ging ins Badezimmer, holte die Flasche mit Franzbranntwein und rannte in die Halle zurück und aus dem Haus. Das Telefon schrillte, aber ich kümmerte mich nicht darum. Der Innenhof war jetzt leer; nur Diana saß vor der Tür zur Treppe, die in die Fuhrknechtskammer führte, und wartete auf Jörn.

Auf halbem Weg kam mir Mikesch entgegen. „Ich muß Sabines Eltern anrufen“, sagte er. „Es hat keinen Sinn, sich länger davor zu drücken; sie müssen es ja doch erfahren.“

„Pfui Teufel, ja.“ Ich hätte nicht mit ihm tauschen mögen, doch natürlich hatte er recht. „Soll einer von uns mit Sabine ins Krankenhaus fahren, was meinst du?“

Mikesch nickte. „Das mach ich schon.“

Es war typisch für Mikesch, daß er unangenehme Dinge tat, ohne sie auf andere abzuwälzen oder große Worte zu machen. Er drückte sich nie vor einer Verantwortung. „Wenn die Sanitäter inzwischen kommen, sag ihnen, sie sollen auf mich warten. Ich hoffe, daß ich bald wieder vom Telefon wegkomme.“

„Hoffentlich.“ Ich sah ihm nach und stellte mir den Redeschwall vor, mit dem Frau Mayreder ihn überschütten würde. Dabei lief es mir kalt den Rücken herunter. Er war wirklich nicht zu beneiden.

Die Ambulanz tauchte zehn Minuten später auf, gerade als die Reitschüler die Pferde wieder auf die Koppel brachten. Natürlich blieben sie alle wie angewurzelt stehen und beobachteten mit großen Augen, wie Sabine auf einer Bahre über den Hof getragen und ins Sanitätsauto geschoben wurde.

Dann ging alles sehr schnell. Mikesch stieg ein und setzte sich neben Sabine. Ich erhaschte noch einen Blick auf ihr blasses Gesicht, die Sanitäter schlugen die Türen zu, und der Wagen fuhr los.

Lisa versuchte uns zu trösten. „So schlimm ist es doch gar nicht“, sagte sie laut. „Den Fuß kann sich jeder mal brechen. Das kann einem auch passieren, wenn man aus dem Bett fällt. Eine Tante von mir . . .“ Und sie erzählte eine lange, umständliche Geschichte von ihrer Tante, die nachts aus dem Hochbett gefallen war und sich den Knöchel gebrochen hatte.

Ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Ich mußte an Sabine und Mikesch denken und an Frau Mayreder, die die beiden bestimmt schon wie ein Racheengel im Krankenhaus erwartete. Neben mir stieß Matty einen tiefen Seufzer aus. Jörn stand ein wenig abseits, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und starrte auf das abgetretene Pflaster.

Langsam und zögernd machten sich die Reitschüler auf den Heimweg. Carmen und Roddy fuhren mit der Mähmaschine zur Erlenwiese. Ich holte Hazel von der Koppel, sattelte und zäumte sie und ging dann zusammen mit Jörn zum Kavaliershäusl.

Hazel folgte uns mit schleifenden Zügeln. Im Wald rief der Kuckuck, und die Bienen summten in Kirstys Bauerngärtchen. Es war alles sehr friedlich und schön, doch ich mußte an einen von Hopfis philosophischen Sprüchen denken, den sie besonders oft und gern benutzte: „Es muß immer was passieren, was den Himmel hebt.“

Reiterhof Dreililien 4 - Der Sommer im Tal

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