Читать книгу Reiterhof Dreililien 4 - Der Sommer im Tal - Ursula Isbel - Страница 6

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Als die Pfingstferien kamen, waren Jörns Prüfungen vorbei. Zwar hatte er das Ergebnis noch nicht erfahren, doch er wirkte zuversichtlich und sehr erleichtert und meinte, er hätte das Abitur wohl bestanden, wenn auch sein Notendurchschnitt ziemlich bescheiden ausfallen würde.

„Aber nachdem ich sowieso keine Lust habe, mal eine steile Karriere zu machen, kratzt mich das wenig“, sagte er.

Wir hatten schon oft darüber geredet„ wie wir uns unsere Zukunft vorstellten. Ich selbst wußte noch nicht, welchen Beruf ich einmal ergreifen wollte; und Jörn war einigermaßen unsicher. Er spielte mit dem Gedanken, eines Tages zusammen mit Matty das Gestüt und die Reitschule zu übernehmen. Vorerst aber war Dreililiens Leitung noch in den Händen seines Vaters, und es sah nicht so aus, als würde Herr Moberg sich so bald vom Geschäft zurückziehen. So wollte Jörn erst einmal seinen Zivildienst leisten. Er hoffte, daß es sich während dieser sechzehn Monate vielleicht von selbst ergab, wie es mit ihm weitergehen würde.

„Manchmal passiert irgend etwas, und ganz plötzlich weiß man, welcher Weg der richtige ist“, sagte er zu mir. „Ich glaube nicht, daß es einen Sinn hat, seine Zukunft fest vorauszuplanen. Vielleicht ist das Leben wie ein Fluß, der von selbst fließt und nicht erst angetrieben werden muß. Oft zappelt und strampelt man viel zu sehr, müht sich ab und zwingt sich zu Entscheidungen, wenn's eigentlich gar nicht nötig ist. Aber um abzuwarten, braucht man wohl auch ein bißchen Vertrauen in das Leben oder in das Schicksal, wie man’s auch nennen mag.“

Es war gut, daß er den Prüfungsstreß hinter sich hatte, denn auf Dreililien wurden für die Pfingstferien wieder zwölf Reitschüler erwartet; und aus Erfahrung wußten wir, daß wir alle zusammenhelfen mußten, wenn es klappen sollte. So ein Ferienreitkurs mit einem Dutzend Schüler, die Dreililien Tag und Nacht unsicher machten, war anstrengender, als wir es uns je hätten träumen lassen. Es war selbstverständlich, daß wir alle unseren Teil zum Gelingen beitrugen – selbst Carmen kam und half, so oft sie konnte, obwohl es natürlich um diese Jahreszeit auch auf dem Bauernhof ihrer Eltern eine Menge Arbeit gab.

Sabine Mayreder lag noch immer im Krankenhaus; sie hatte einen ziemlich komplizierten Knöchelbruch. Jörn und ich besuchten sie zweimal nach der Schule, blieben jedoch nie lange, da ihre Mutter ständig am Bett saß und sie bewachte. Unter ihren ungnädigen Blicken war eine normale Unterhaltung gar nicht möglich. Zum Glück hatte sie wenigstens nicht versucht, uns mit der Reitschule Schwierigkeiten zu machen, was sicher Mikesch zu verdanken war.

„Ich hab mit Engelszungen auf sie eingeredet. Aber rede mal mit einer Glucke, die glaubt, sie müßte ihr Küken gegen ein Rudel Wölfe verteidigen!“ sagte er. „Gut, daß Vater Mayreder wenigstens vernünftiger ist. Er hat versprochen, seine Frau zu beruhigen. Ob Sabine allerdings wieder reiten darf, steht in den Sternen. Im Moment ist es wohl besser, abzuwarten, bis sich die Aufregung über den Unfall gelegt hat. Wenn Sabines Bein wieder einigermaßen in Ordnung ist, kann sie ja einen Vorstoß wagen – und ich helfe ihr natürlich dabei, wenn sie das möchte.“

„Nur gut, daß von den anderen Eltern keiner auf die Idee gekommen ist, die Reitstunden abzusagen“, erwiderte ich hitzig. „Es gibt keine einzige Reitschule auf der Welt, die dafür garantieren kann, daß es beim Reiten immer ohne Unfall abgeht. Man muß natürlich vorsichtig sein, aber gegen alles kann man sich eben nicht absichern.“

Das war einen Tag vor Ankunft der „Pfingstreiter“. Wir saßen mit Carmen in der gemütlichen, holzgetäfelten Dorfgastwirtschaft von Mariabrunn und genossen die „Ruhe vor dem Sturm“. Draußen regnete es in Strömen.

Matty strahlte an diesem Abend vor Glück. Vor zwei Tagen hatte Maja angerufen und endlich fest versprochen, nach Dreililien zu kommen – mit dem Fahrrad, wie sie es von Anfang an geplant hatte.

„Heute früh ist sie losgefahren“, verkündete Matty schon zum drittenmal. „Sie will in Erlangen übernachten.“

„Na, reiten wird sie jedenfalls ein paar Tage lang nicht können“, meinte Carmen trocken. „Sie kommt bestimmt mit wundgescheuertem Hinterteil hier an.“

„Gut, daß wir für die Ferien noch eine Hilfe im Stall haben“, sagte Mikesch. „Maja versteht mit Pferden umzugehen. Ich frage mich, was Ende des Sommers werden soll, wenn du Zivildienst machst, Jörn. Wir müssen nach den Pfingstferien unbedingt mit deinem Vater darüber sprechen.“

Jörn nickte. „Ja. Ohne zusätzliche Hilfskraft wird’s auf die Dauer nicht gehen. Die Frage ist bloß, ob das auch finanziell drin ist. Es müßte jemand sein, der mit wenig Geld zufrieden ist, so wie du. Aber gibt’s das noch mal?“ „Vielleicht“, sagte Mikesch nachdenklich. „Ich werde mal meinen Freund Frank in München anrufen. Er ist Sozialarbeiter. Möglicherweise weiß er jemanden für uns. Es gibt genug junge Leute, die aus dem Knast kommen und keine Arbeit finden.“

„Aus dem Knast?“ wiederholte Matty. „Da bin ich aber gespannt, was mein Vater zu diesem Vorschlag sagt.“ „Das werd ich ihm schon erklären“, sagte Jörn und machte ein grimmiges Gesicht. „Wenn er nicht bereit ist, jemanden anzustellen, der Schwierigkeiten gehabt hat und versucht wieder Fuß zu fassen, nehme ich ihm das schwer übel. Ich finde die Idee gut, Mikesch.“

Mikesch grinste. „Ich hab nur gute Ideen“, sagte er.

Als wir aus dem Wirtshaus kamen, regnete es noch immer. Das Dorf bot in der Abenddämmerung unter den Regenschleiern einen trübseligen Anblick. Die Hauptstraße war wie ausgestorben; nur in einigen Fenstern brannte Licht. Der Bäcker schloß gerade seine Rolläden, und aus der Schmiedewerkstatt hörte man klingendes Hämmern.

Noch vor nicht allzu langer Zeit war mir Mariabrunn als elendes, verschlafenes Nest erschienen, ein Ort, in dem zu leben eine Art Verbannung bedeutet. Heute aber liebte ich dieses friedliche Dorf, wo alles seinen ruhigen, gleichmäßigen Gang ging und die Zeit stillzustehen schien. Hier gab es weder Hektik noch Lärm. Die Leute kannten einander. Hier war es undenkbar, daß jemand wochenlang krank oder gar tot in seiner Wohnung lag, ohne daß es bemerkt wurde, wie das in der Stadt manchmal geschieht. Immer wenn ich nach der Schule mit dem Bus aus Rosenheim hierher zurückkam, verspürte ich die gleiche Erleichterung, wieder zu Hause zu sein.

Wir verabschiedeten uns von Carmen. Im Regen ging sie den Kirchberg hinauf zum Hof ihrer Eltern, der hoch über dem Dorf auf einem Hügel lag. Dann fuhren wir im alten VW-Käfer der Mobergs die holprige Straße zwischen den Feldern entlang.

Im Auto roch es nach Hund und Pferden, und das Polster des Rücksitzes hätte eine kaputte Sprungfeder, so daß ich das Gefühl hatte, auf einem Kartoffelsack zu sitzen. Der Wagen quietschte und piepste bei jeder Unebenheit, und die Scheibenwischer veranstalteten ein schnarrendes Geräusch, das neu war und einem auf den Geist gehen konnte.

„Lange macht er’s nicht mehr!“ schrie Jörn über den Lärm hinweg. „Beim nächsten TÜV kommt er nicht mehr durch, und was dann? Ein neues Auto können wir uns einfach nicht leisten.“

„Das lassen wir mal an uns herankommen“, sagte Mikesch seelenruhig. Er hatte in seinem Zimmer einen schwedischen Spruch hängen, der „Den dagen, den sorgen“ hieß und etwa bedeutet, daß man sich nicht über ungelegte Eier aufregen soll. „Irgendeine Lösung wird sich schon finden, wenn’s soweit ist.“

Ich beneidete ihn wieder einmal um sein Gottvertrauen – oder wie immer man es auch nennen wollte — und nahm mir im stillen vor, gleich morgen auch einen solchen Spruch über mein Bett zu hängen, damit ich ihn mir jeden Tag beim Aufstehen und Schlafengehen gründlich ansehen konnte. Mikesch war jemand, von dem man eine Menge lernen konnte, fand ich, was man wahrhaftig nicht von jedem Erwachsenen behaupten kann.

Als wir Dreililien erreichten, lag der Hof im Dunkeln. Nur ein einziges Fenster im ersten Stock des Wohnhauses war erhellt. Die Pferde wieherten leise und scharrten in ihren Boxen, als sie hörten, wie wir die Wagentüren zuschlugen.

„Ich bring dich noch nach Hause“, sagte Jörn zu mir.

Mikesch nickte uns zu und öffnete die Tür, die zur Vortreppe der Fuhrknechtskammer führte. „Ich höre noch ein bißchen Musik“, murmelte er. „Zur Entspannung – wir haben morgen einen hektischen Tag vor uns.“

Matty hopste mit ausgelassenen Känguruhsprüngen über den Innenhof und pfiff glücklich vor sich hin. Ohne Schirm gingen Jörn und ich durch den Regen zwischen den Koppeln zur Wegkreuzung. Alles war still. Es roch nach nassem Gras, nach Erde und Heckenrosen.

Am Kreuzweg blieben wir stehen. In den Büschen und Bäumen huschte und flatterte es. Ein Vogel flog mit schwerem Flügelschlag zum Wald hin.

„Ein Kauz“, sagte Jörn. „Die werden auch immer seltener. Wenn wir so weitermachen, wird’s eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft bloß noch Menschen und ein paar Schädlingsarten auf der Welt geben.“ Ich spürte am Ton seiner Stimme, daß er plötzlich bedrückt war. „Aber eigentlich könnte man uns Menschen ja auch zu den Schädlingen zählen – so, wie wir auf dieser Erde hausen.“

Ich streichelte seinen Handrücken. „Du bist traurig“, sagte ich.

„Irgendwie mutlos“, gab er zu. „Manchmal packt mich eine solche Mutlosigkeit, weißt du. Das ist dann so ein Gefühl wie im Traum, daß man läuft und läuft und doch nicht von der Stelle kommt. Kennst du das? Manchmal denke ich einfach, mir wächst alles über den Kopf.“

Ich nickte. „Kein Wunder. Dein Vater führt zwar das Kommando auf Dreililien, aber dir bürdet er seit Jahren den größten Teil der Verantwortung auf. Dafür bist du einfach zu jung.“

Jetzt lachte Jörn. „Und du redest wie ein Schulpsychologe. Aber wahrscheinlich hast du recht. Trotzdem geht’s uns ja eigentlich gut, Nell. Ich darf über dem ganzen Kram nie vergessen, wie schön unser Leben hier ist, und daß wir’s trotz aller Schwierigkeiten besser haben als die meisten anderen Leute.“ Er stockte und fügte hinzu: „Außerdem hab ich dich.“

„Ja“, sagte ich und lachte ebenfalls. „Da hast du schon was!“

„Du, das ist jetzt kein Spaß.“ Jörns Stimme war ernst geworden. „Seit du hier bist, hat sich für mich viel verändert. Ich glaube, ich bin früher meistens in meinem Schneckenhaus gesessen und hab finster vor mich hingebrütet wie ein einsamer Steppenwolf.“

Ich sagte: „Ich dachte immer, du wärst einer von denen, die keine anderen Menschen brauchen.“

„Nein, es gibt wohl kaum jemanden, der nur für sich allein und ohne andere glücklich sein kann. Ich hab zwar früh gelernt, allein klarzukommen und mir eingeredet, ich brauchte keinen – aber seit ich dich kenne, weiß ich, daß ich mir da nur etwas vorgemacht habe. Einfach, weil es mir jetzt viel besser geht. Und weil ich manchmal sogar glücklich bin.“

„Manchmal?“ Durch die Regenschleier und die Dunkelheit des Frühlingsabends versuchte ich seinen Gesichtsausdruck zu erkennen, doch es gelang mir nicht.

„Ja – manchmal“, wiederholte er. „Das ist schon eine ganze Menge für mich jedenfalls. Außerdem kann man schließlich nicht unentwegt glücklich sein. Im Leben geht’s auf und ab, es ist eben mal kein ständiger Zustand der Glückseligkeit. Wo’s keine Täler gibt, gibt’s auch keine Berge, hat mein Großvater immer gesagt, und das stimmt wohl.“

Ich nickte und dachte, daß auch ich nicht immer glücklich war – dazu gab es zu viele Probleme, zu viel Trauriges, Beängstigendes um mich herum. Man brauchte ja nur die Nachrichten im Fernsehen zu verfolgen . . .

Sacht legte ich den Arm um Jörns Hals und drückte meine Wange an die seine. Aus den Wäldern erklang der klagende Ruf eines Nachtvogels. Jörns Gesicht war naß vom Regen. Auch sein Mund war naß, als er mich küßte.

Reiterhof Dreililien 4 - Der Sommer im Tal

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