Читать книгу Reiterhof Dreililien 7 - Heimweh nach den Pferden - Ursula Isbel - Страница 5

2

Оглавление

Jörn hatte sich eine Woche Frist gesetzt; so, als könnte man seinem Körper vorschreiben, wann er wieder gesund und kräftig zu sein und normal zu „funktionieren“ hatte. Doch ein so schwerer Unfall, wie er ihn erlitten hatte – mit einem Leberriß, dem Schock, der Lungenverletzung, mit Operation, Schmerzen, Medikamenten –, ließ sich nicht so einfach überwinden wie eine Grippe. Das war auch die Meinung von Hopfi, der Haushaltshilfe auf Dreililien.

„So wos geht net von heut auf morgen“, erklärte sie. „Dös braucht scho sei Zeit.“

Tatsächlich dauerte es viel länger, als wir geahnt hatten; und obwohl Jörn täglich dreimal mit verbissener Energie in den Stall kam, um bei der Arbeit zu helfen, wurde er meistens schnell grau im Gesicht und mußte sich zwischendurch immer wieder auf die Bank in der Sattelkammer setzen, um auszuruhen. Doch er hatte einen eisernen Willen und war hart mit sich selbst; er gab nicht nach.

Erst als der sehnsüchtig erwartete Frühling kam, wurde auch Jörn wieder kräftiger. Die Stare kehrten zurück, die Schwalben suchten ihren heimatlichen Stall auf, und an einem Märztag unternahmen wir unseren ersten Ausritt, Jörn und ich.

Diana, die Jörn seit seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus nicht mehr aus den Augen ließ, begleitete uns. Schmutzige Schneefetzen lagen noch auf den Koppeln, doch am Bachufer und am Waldrand blühten schon die ersten Buschwindröschen. Die Drosseln sangen so süß in den Erlenbüschen, und die Sonne glänzte warm auf Hazels nußbraunem Fell und Katamas seidenweißer Mähne.

„Das hab ich mir im Krankenhaus oft vorgestellt – daß wieder Frühling ist, und daß wir mit den Pferden über den Steg in den Wald reiten, wenn die Sonne scheint“, sagte Jörn leise. „Früher war das so selbstverständlich für mich, etwas, was zu meinem Leben dazugehört wie Essen und Trinken. Aber es ist nicht selbstverständlich, Nell. Es ist nicht selbstverständlich, daß wir gesund sind und draußen sein können, daß wir den Wind in den Bäumen hören und die Vögel, wie sie singen, daß wir uns unbehindert bewegen können, aufs Pferd steigen, die Natur sehen, miteinander reden. Es ist ein Geschenk; etwas, was uns täglich genommen werden kann, morgen schon. Ich möchte lernen, bewußt und im Augenblick zu leben und ... ja, dankbar zu sein für alles, auch wenn das vielleicht blödsinnig klingt.“ „Tut es nicht“, sagte ich. „Es ist überhaupt nicht blödsinnig, sondern wahr. Ich hab mir das auch alles überlegt – damals, als du nach dem Unfall operiert worden bist und ich im Krankenhaus warten mußte, ohne zu wissen, ob du durchkommen würdest. Da ist mir klargeworden, wie schnell alles zunichte sein kann, was man so selbstverständlich hinnimmt, daß es einem selbst gutgeht und denen, die man liebhat, meine ich.“

Ich streckte die Hand aus und berührte seine Schulter. „Weißt du, was ich damals auf der Fahrt in die Klinik gedacht hab? Daß jeder Mensch so etwas wie ein Erdbebengebiet ist; daß keiner weiß, wie lange es dauert, bis plötzlich alles ins Wanken gerät und vielleicht unter ihm zusammenbricht. Das ist mir vorher nie bewußt gewesen, nicht mal, als meine Mutter krank wurde und starb. Das mit dir – diese Nacht, in der ich nicht wußte, ob du sterben oder leben würdest–, das war das Schlimmste, was ich je erlebt habe. Aber ich glaube, ich hab’ auch eine Menge dabei gelernt.“

Jörn sagte lange Zeit gar nichts. Ich sah auch sein Gesicht nicht, da wir jetzt hintereinander ritten, denn der Waldpfad hatte sich verengt. Wir mußten zudem auf die Eisreste achten, die die Baumwurzeln überzogen und einen Teil des Weges schlüpfrig machten.

„Laß uns absteigen“, bat Jörn nach einer Weile. „Die Pferde kommen ohne uns besser voran.“

Hand in Hand folgten wir Katama und Hazel. Die Luft war weich und erfüllt vom Geruch der aufbrechenden Erde und dem Gesang der Vögel. Die Waldlichtungen lagen wie Inseln in der Sonne.

„Weißt du, wo ich damals gewesen bin?“ fragte Jörn unvermittelt.

Seine Stimme war leise. Ich spürte, wie seine Hand in der meinen zuckte.

„Gewesen? Wo? Wann?“ erwiderte ich verwirrt.

„Damals – in der Nacht nach dem Unfall. Es war ... seltsam. Anfangs kam es mir vor, als würde ich durch ein dunkles Tal getrieben.“ Jörn stockte. „Nein, es begann damit, daß ich das Gefühl hatte, ich würde mit unheimlicher Geschwindigkeit durch einen sehr engen Tunnel gleiten. Es ging so wahnsinnig schnell, daß mir total schwindlig davon wurde. Dieses Tal ... Ich wußte, daß ich dort jenseits von allem war, was unser Leben ausmacht, verstehst du? Ich war dabei, eine Grenze zu überschreiten.“

„Welche Grenze?“ fragte ich.

Er schüttelte den Kopf, ohne mich anzusehen. „Ich weiß nicht, ob ich es dir erklären kann. Ich verstehe es ja selbst noch immer nicht. Vielleicht war es die Grenze zwischen Leben und Tod.“

Plötzlich fror ich in der warmen Frühlingssonne. „Davon hast du nie etwas gesagt.“

„Ich wollte eigentlich mit keinem darüber reden, nicht mal mit dir. Es war so ein seltsames Erlebnis; ich kann’s ja selbst nicht begreifen. Aber ... ich komme einfach nicht davon los. Wenn es wirklich der Beginn von dem war, was wir Sterben nennen, dann ist der Tod nicht schlimm, Nell. Im Gegenteil. Am Ende dieses Tales war etwas Wunderbares – eine Art Licht, so strahlend, daß ich es nicht beschreiben kann. Es war ein lebendiges Licht – oder vielleicht ging es von einem lebendigen Wesen aus. Man kann das genausowenig beschreiben wie manche Dinge, die einem im Traum passieren. Ich wäre gern dorthin gegangen, wo das Licht war, aber da war auch etwas, was mich zurückhielt. Etwas oder jemand hat mich festgehalten. Vielleicht warst du es.“

Jörn holte tief Atem. „Ich weiß genau, daß ich dachte: Ich will noch nicht sterben! Dann ging ein Ruck durch meinen Körper, und ich bin aufgewacht.“

Meine Hände zitterten. „Und dann hab’ ich dich gesehen“, fuhr Jörn fort. „Nein, so war es nicht. Zuerst hab’ ich deine Hand gespürt. Ich wußte ganz genau, daß es deine Hand ist, noch ehe ich die Augen aufmachte und dich sah.“

Wir blieben stehen; unsere Blicke trafen sich.

„Ich wollte nicht sterben“, sagte Jörn nach einigen Sekunden halblaut. „Aber ich weiß nicht, ob ich... ob ich zurückgekommen wäre, wenn du nicht da gesessen und mich gerufen hättest. Ja, mir war, als würdest du mich rufen und mich festhalten. Es klingt verdammt komisch, aber so ist es.“

„Ich hab dich wirklich gerufen“, erwiderte ich. „Ich war sicher, daß es etwas bewirkt, wenn ich da sitze, deine Hand halte und dich nicht loslasse. Deshalb hab ich mich in der Klinik auch nicht abweisen lassen. Ich wußte, ich muß zu dir ...“

Plötzlich flog ein Fasan mit mißtönendem Kreischen aus dem Unterholz auf. Wir zuckten zusammen. Diana jagte hinter dem Fasan drein, und Hazel schnaubte. Katama aber, schreckhaft wie immer, wieherte schrill, stellte sich auf die Hinterbeine, stürmte dann vorwärts, glitt aus und schaffte es nur durch ein paar verrückte Drehungen, einigermaßen im Gleichgewicht zu bleiben.

Jörn war mit einem Sprung bei ihr. Er faßte Katama am Halfter und redete beruhigend auf sie ein: „Ist ja gut, altes Mädchen, nichts ist passiert. Das war bloß einer von diesen blödsinnigen Vögeln, die flattern ja immer so urplötzlich vor einem hoch. Das weißt du doch schon längst ...“

Ich streichelte Hazel. Sie machte ein vernünftiges Gesicht, genau wie eine kluge alte Dame, die das Leben kennt und sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen läßt. Dann kam Diana mit hängender Zunge und schuldbewußter Miene zurück, doch keiner von uns war in der Stimmung, sie auszuschimpfen.

„So schnell kann’s gehen“, sagte Jörn. „Wenn sie sich das Bein gebrochen hätte – ausgerechnet Katama ...“

Er war blaß geworden, und seine Hände zitterten heftig. „Komm“, sagte ich, „wir setzen uns auf der Lichtung ein bißchen in die Sonne, und dann kehren wir um und gehen wieder nach Hause.“

Jörn erwiderte: „Fang bloß nicht an, mich zu betüdeln wie einen Opa!“ Aber er kam doch mit. Wir ließen uns auf ein paar Baumstämmen nieder, die seit dem vergangenen Herbst dort lagen, während Hazel an den ersten frischen Grashalmen zupfte und Katama noch eine Weile aufgeregt herumtänzelte. Ein Schmetterling, der den Winter überstanden hatte, gaukelte mit ausgefransten Flügeln vor uns über das Heidekraut.

Jörn legte den Kopf in meinen Schoß. Sacht strich ich ihm die Haare aus der Stirn. Sein schmales Gesicht war noch schmäler geworden in diesem Winter, seine Wangen eingefallen. Auch sein Blick hatte sich verändert – auf welche Weise, hätte ich nicht sagen können, wenn jemand mich gefragt hätte. Manchmal kam mir dieser Blick seltsam fern vor, so, als würde Jörn nicht wahrnehmen, was um ihn her geschah. Vielleicht lag der Schlüssel zu dieser Veränderung in dem, was er mir heute erzählt hatte.

Die Welt war so still, als wir nach Hause ritten. Doch der Frieden war nicht von langer Dauer. Auf dem Hofplatz von. Dreililien hörten wir Sepp und Helge im Stall streiten, daß die Fetzen flögen. Weder die Schimpfnamen, die sie sich zubrüllten, noch das, wozu sie sich gegenseitig aufforderten, war besonders vornehm oder druckreif, aber es hörte sich ausgesprochen komisch an.

Als wir die Stalltür öffneten, um die Pferde hineinzuführen, kam eine Drahtbürste angeflogen. Sepp schrie: „Saukopf, damischer!“ Und Katama und Hazel wichen zurück und schnaubten erschrocken.

„Hört’s bloß auf mit dem Blödsinn“, sagte Jörn laut. „Katama ist sowieso schon ganz durchgedreht. Wenn ihr unbedingt streiten müßt, dann sucht’s euch einen besseren Ort dafür aus als ausgerechnet den Stall.“

Helge war wieder einmal bleich vor Wut – wie oft hatte ich ihn schon so gesehen! – und erklärte, er ließe sich von keinem vorschreiben, wo er zu streiten hätte und wo nicht. Sepp brummte, wir könnten ihn alle mal, und wir sollten unseren Scheißdreck allein machen; er warf die Mistgabel auf die Stallgasse und stampfte hinaus wie ein wütender Stier. Kurz darauf hörten wir, wie sein Wagen angelassen wurde.

Ich ging hin und hob die Mistgabel auf. Die Zinken waren nach oben gerichtet, und ich fand, daß ein erwachsener Mann wie Sepp, der noch dazu Bauer war, vernünftiger hätte sein müssen, als derartige Todesfallen aufzustellen. Jetzt verschwand auch Helge mit bösartigem Gemurmel. Wir brachten Katama und Hazel in ihre Boxen, sahen uns noch einmal Katamas Fesselgelenke an, kratzten den beiden die Hufe aus, rieben sie mit Tüchern ab und gaben ihnen dann zu trinken, während Matty und Mikesch die Stuten von der Koppel hereinbrachten.

Mit den vertrauten abendlichen Geräuschen kehrte auch der Friede in den Stall zurück. Die Pferde schnaubten leise und zufrieden und scharrten mit den Hufen in der Streu; sie prusteten in ihre Eimer und mampften. Eimer klapperten, jemand pfiff vor sich hin, Mikesch kam und erkundigte sich mit halblauter Stimme, wo Sepp die Säcke mit den Mineralien hingestellt hätte.

Schließlich kam auch Helge zurück, die Hände in den Hosentaschen vergraben, die Augen hinter der dunklen Haarmähne verborgen, und machte sich an die Arbeit. Seine Wut schien verraucht zu sein, denn nach einer Viertelstunde tauchte er bei Hazels Box auf und erkundigte sich ganz freundlich bei mir, ob ich Solveigs Mähnenkamm gesehen hätte.

An diesem Tag mußte Jörn zum erstenmal nicht in die Sattelkammer gehen, um auszuruhen. Er arbeitete langsam, aber in stetigem Rhythmus; und als wir die Stalltür hinter uns schlossen, sah er glücklich aus.

„Es geht wieder“, sagte er. „Ich dachte schon, ich schaff s nie mehr so wie früher. Aber jetzt krieg’ ich langsam wieder Kraft.“

Maja, die daneben stand, erwiderte: „In einem halben Jahr hast du alles vergessen.“

Jörn schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er, „das nicht. Vergessen werd’ich es nie.“

Reiterhof Dreililien 7 - Heimweh nach den Pferden

Подняться наверх