Читать книгу Reiterhof Dreililien 7 - Heimweh nach den Pferden - Ursula Isbel - Страница 6
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ОглавлениеJörn war noch sechs Wochen krankgeschrieben. Zum Glück fielen die Osterferien in diese Zeit, so daß wir vierzehn Tage zusammen sein konnten – Frühlingstage, die wir mit den Pferden im Freien verbrachten, sooft das Wetter es zuließ.
An einem regnerischen Aprilmorgen packte Maja ihre Klamotten aufs Fahrrad und verließ Dreililien nach einem sehr kurzen Abschied. Von Mikesch erfuhren wir, daß sie schon vor zwei Monaten gekündigt hatte.
„Sie hat mich richtig angefleht, keinem außer Herrn Moberg etwas davon zu sagen. Ich konnte sie nicht davon überzeugen, daß es besser gewesen wäre, mit euch darüber zu reden“erklärte er. „Also hab ich den Mund gehalten. Besonders wohl war mir dabei allerdings nicht.“
„Und Matty?“ fragte ich. „Hat der auch nichts gewußt?“
„Da mußt du ihn schon selber fragen“, erwiderte Mikesch.
Ich merkte jedoch, daß Matty keine Lust hatte, über die Sache zu reden. Seine Gefühle für Maja, die Enttäuschung, die er mit ihr erlebt hatte – das war ein Thema, das er weitgehend mit sich selbst abmachte und über das er sich ausschwieg, so offen er sonst auch war.
„Er wird schon gewußt haben, daß Maja geht“, sagte Jörn abends zu mir. „Und ich find’s auch besser so. Das war doch kein Zustand mit den beiden; die sind sich bloß noch aus dem Weg gegangen, und jeder hat so getan, als wäre der andere gar nicht vorhanden. Irgendwie war die ganze Geschichte hoffnungslos verfahren.“
„Ich wollte, Matty würde darüber reden“, murmelte ich, den Kopf an seiner Schulter. „Das kann doch nicht gut sein, daß er alles so in sich hineinfrißt.“
„Nein“, sagte Jörn, „gut ist das bestimmt nicht. Ich denke jetzt manchmal, daß wir uns ähnlicher sind, als ich vermutet habe, Matty und ich.“
„Sicher geht es ihm wieder besser, wenn Maja nicht mehr hier ist. Aber wir werden einen Ersatz für sie finden müssen, und das wird nicht leicht sein.“
Jörn nickte. „Sie hat ihre Arbeit großartig gemacht, das muß man ihr lassen. Man brauchte ihr nicht erst zu sagen, was sie tun soll; sie hat’s selbst gesehen. Und was am wichtigsten war: Sie liebte die Pferde.“
,,Es ist ihr bestimmt schwergefallen, von Dreililien wegzugehen.“
Ich dachte daran, wie hart sich Maja diese Lehrstelle als Pferdepflegerin erkämpft hatte, wie schwer es für sie gewesen war, ihre Eltern davon zu überzeugen, daß dieser Beruf wichtiger und richtiger für sie war als Abitur und Studium. Ich war lange Zeit böse auf Maja gewesen, weil sie Matty enttäuscht hatte. Jetzt erst fragte ich mich, wie ihr in den vergangenen Wintermonaten zumute gewesen sein mochte, in denen wir sie links liegengelassen hatten; und ich erinnerte mich, daß ich sie eigentlich gemocht hatte, ja, daß ich sie immer noch mochte.
Plötzlich wußte ich, daß Maja mir fehlen würde – ihre selbstverständliche Art zuzupacken, ihr sanfter, geduldiger Umgang mit den Pferden, der Blick ihrer großen dunklen Augen. Das „Mädchen mit den Pfefferkuchenaugen“, wie wir sie früher genannt hatten, war fort; und vielleicht würden wir sie nie wiedersehen.
Sicher war es gut, daß Matty zwei Tage später selbst wegfuhr. Er wollte für eine Woche in einem Reitstall bei München arbeiten, wo er seit dem letzten Herbst schon mehrmals ausgeholfen hatte, sehr zum Ärger seines Vaters. Herr Moberg war der Meinung, es gäbe auf Dreililien genug Arbeit, und fand es rücksichtslos von Matty, daß er seine eigenen Wege ging.
Auf Dreililien war nun wirklich Hochbetrieb. Wir hatten dreizehn Ferienreitschüler im Gutshaus einquartiert; ein Glück, daß Jörn zu Hause war und Mikesch entlasten konnte.
Und dann war da auch noch Pauli. Seit einem halben Jahr wohnte er bei Gesine im Weberhäusl. Jörn hatte ihn im Krankenhaus kennengelernt, wo Pauli lang gelegen war, weil er im Altersheim einfach nichts mehr gegessen hatte. Nach einem arbeitsreichen Leben als Bauernknecht hatte Pauli die Verpflanzung in ein städtisches Seniorenheim einfach nicht bewältigt. Seine Weigerung zu essen, war ganz einfach eine Weigerung gewesen, unter solchen Umständen weiterzuleben.
Seit er nun in der kleinen Dachkammer bei Gesine hauste, war das anders geworden. „Er kommt mir vor wie ein alter Apfelbaum, der einen besonders strengen Winter überstanden hat und ganz unvermutet wieder zu blühen anfängt“, sagte Jörn einmal zu mir.
Jetzt, wo wir den Engpaß wegen Matty und Maja hatten, kam Pauli täglich unaufgefordert bei jedem Wetter frühmorgens und in den Abendstunden nach Dreililien gestapft und half im Stall. Er verstand eine Menge von Pferden, wenn er auch nur Erfahrung mit Kaltblütern hatte. Seiner Ansicht nach gab es da allerdings keine großen Unterschiede; nur daß unsere „Rösser“ halt ein bißchen „extriger“ waren, womit er meinte, daß sie empfindsamer waren und mit größerer Vorsicht behandelt werden mußten.
Ebenso „extrig“ waren diesmal die Ferienreitschüler, was nach Hopfis Auffassung daran lag, daß es ausgerechnet dreizehn waren.
„Dreizehn, dös bringt koa Glück net!“ prophezeite sie schon am ersten Ferientag düster. „Do bricht si bestimmt oana an Haxn oder an Hals, dös werd si scho no erweis’n!“
Die zehn Tage gingen zwar trotzdem ohne Reitunfall ab, aber nicht ohne Streit. Katja und Ines, zwei vierzehnjährige Mädchen, konnten sich von Anfang an nicht leiden, und bald war die gesamte Reitgruppe in zwei Lager gespalten – ein Katja-Lager und ein Ines-Lager. Daran konnte nicht einmal Mikesch etwas ändern.
„Die machen mich diesmal fertig“, sagte er eines Morgens, während die Reitschüler im Innenhof standen, in zwei Gruppen geteilt und damit beschäftigt, einander böse Blicke zuzuwerfen. Nur Tommy, ein kleiner Junge, stand abseits. Wir nannten ihn „Nummer dreizehn“, denn er hielt sich heraus und hatte bisher keine Partei ergriffen – oder vielleicht legten auch weder Ines noch Katja Wert darauf, ihn für sich zu gewinnen.
„Vielleicht sollten wir uns mal abends mit ihnen zusammensetzen. Es wäre ja schon fantastisch, wenn wir sie wenigstens dazu bringen könnten, Waffenstillstand zu schließen“, sagte Jörn.
„Hab ich doch alles schon versucht“, erwiderte Mikesch. „Aber ich hab nachgerade das Gefühl, daß es ihnen Spaß macht, im Clinch miteinander zu liegen.“
Ich sagte: „Dann laßt sie doch!“
„Wenn das bloß so einfach wäre! Sie benutzen jede Gelegenheit, sich anzugiften, und die Stimmung ist natürlich dementsprechend bescheiden. Außerdem überträgt sich die ständige Gereiztheit und Streitlust auf unsere Pferde. Unter solchen Voraussetzungen Reitunterricht abzuhalten, ist wirklich kein Vergnügen.“
„Sie bleiben ja nur noch sechs Tage“, sagte Helge. „So lange mußt du’s eben aushalten. Oder du setzt Katja und Ines an die Luft. Damit wäre das Problem wahrscheinlich gelöst.“
„Vielleicht.“ Mikesch machte ein zweifelndes Gesicht. „Aber ich setze nicht so gern Leute an die Luft.“
Pauli, der in Vronis Box stand und zugehört hatte, machte den Vorschlag, die Reitschüler abends im Stall mithelfen zu lassen. Mikesch sollte sie in Paare aufteilen und jedem Paar ein Pferd zum Striegeln überlassen. Der springende Punkt an der Sache war, daß diese Paare je zwei Leute aus feindlichen „Lagern“ sein sollten, die so gezwungen waren, gemeinsam eine für sie neue, anstrengende und schwierige Aufgabe zu erledigen, wie es das Striegeln für einen Anfänger ja ist.
„Dabei werd eahna d’Feinschaft scho vergeh“, meinte Pauli mit einem listigen Augenzwinkern.
Wir sahen ihn minutenlang verdutzt an und mußten dann zugeben, daß die Idee gar nicht übel war. „Aber was ist mit Nummer dreizehn?“ fragte ich schließlich.
„Der kann mit mir zusammenarbeiten“, sagte Jörn. „Der kleine Kerl reicht den Pferden sowieso nur bis zum Bauch.“
Natürlich rochen die Ferienreiter den Braten. Einige von ihnen weigerten sich anfangs schlicht und einfach, Mikeschs Einteilung Folge zu leisten. Er blieb jedoch hart und sagte, wer mit seiner Anordnung nicht einverstanden sei, dürfe am nächsten Tag auch nicht am ersten Ausritt teilnehmen, und damit basta. Das wirkte.
Ich beobachtete das Experiment abends von Hazels Box aus. Die Pferde waren auffallend nervös; natürlich spürten sie die geladene Stimmung. Mikesch hatte den Ferienreitern in weiser Voraussicht nur die Stuten zugeteilt, die besonders geduldig und gutmütig waren. Den anderen war ohne weiteres zuzutrauen, daß sie in einer solchen Situation plötzlich ausschlugen oder zuschnappten.
In der Box unserer Schimmelstute Emily standen zwei blonde Mädchen, Sarah und Ann-Katrin, und es war komisch mitanzusehen, wie sich jede von ihnen Mühe gab, so zu tun, als wäre die andere Luft. Allzu lange hielten sie das jedoch nicht durch, denn Emily machte das Spiel nicht mit. Sie drehte und wendete sich, wackelte mit dem Hinterteil und verteilte abwechselnd freundschaftliche, aber energische Püffe, bis Sarah und Ann-Katrin vor Verzweiflung vergaßen, sich gegenseitig mit Verachtung zu strafen und einträchtig zu schimpfen begannen.
Die Erzfeindinnen Katja und Ines arbeiteten in der entferntesten Ecke in Vronis Box. Dort stritten sie so laut, daß man sie im ganzen Stall hören konnte. Mikesch ließ sie ruhig keifen; er überschrie sie nur ab und zu, wenn er eine Anweisung gab.
Die einzige, die sich schließlich einmischte, war Vroni. Ich vermute, daß sie das Gekreisch plötzlich satt hatte. Unversehens erklang aus ihrer Box ein gewaltiges Gerumpel, gefolgt von zwei schrillen Schreckensschreien. Wir stürzten hin und stellten fest, daß Vroni die Feindinnen mit ihrem umfangreichen Hinterteil in eine Ecke der Box gedrängt hatte, wo sie eng aneinandergepreßt standen und sich nicht mehr rühren konnten. Mikesch und Jörn mußten der gereizten Stute minutenlang gut zureden, bis sie sich endlich bequemte, die beiden aus dem Schwitzkasten zu lassen.
„Ich hoffe, ihr kapiert jetzt alle miteinander, daß Pferde keine Maschinen sind, über deren Köpfe hinweg man sich ungeniert anschreien kann“, sagte Mikesch. „Ein Pferd ist ein sehr empfindsames Wesen und muß mit Ruhe, Freundlichkeit und Ausgeglichenheit behandelt werden. Laßt euren Ärger und Frust also besser nicht in ihrer Gegenwart ab, sonst braucht ihr euch nicht zu wundern, wenn ihr in hohem Bogen durch die Luft fliegt oder einen Tritt bekommt.“
Nach diesem Zwischenfall herrschte erstaunlicher Friede im Stall. Aus einigen Boxen erklang noch unterdrücktes Gekicher, denn der Anblick von Ines und Katja, eingezwängt hinter Vronis Hintern, hatte den ganzen Streit in ein neues, lächerliches Licht gerückt.
Es wurde dann auch wirklich besser in den restlichen sechs Tagen, die die Ferienreiter noch auf Dreililien verbrachten. Die beiden Feindinnen versöhnten sich zwar nicht, aber ihre Anhänger redeten wieder normal miteinander und hörten auf, sich gegenseitig die Ferien zu vermiesen.
Trotzdem war Mikesch ehrlich froh, als sie abfuhren. „Herr Gott, war das diesmal anstrengend!“ sagte er. „Noch so eine Gruppe, und ich schmeiß meinen Job hin.“
Wir versprachen, die Pferde an diesem Wochenende allein zu versorgen. Mikesch setzte sich mit Gesine und ihrem Hund Malchen ins Auto und fuhr zu Freunden nach München, um „abzuschalten“. Es war ein regnerisches Wochenende, aber die beiden meinten, das Wetter wäre gerade richtig, um gründlich auszuschlafen, tagsüber eine Kunstausstellung zu besuchen und abends gemütlich zum Essen oder ins Kino zu gehen.
Es war wieder kalt geworden. Hopfi meinte, das käme schon von den Eisheiligen, obwohl die eigentlich erst Anfang Mai fällig gewesen wären. Am Samstag standen die Pferde so naß und mit trübselig hängenden Köpfen auf den Koppeln, daß wir sie früher als sonst in den Stall holten und sie trockenreiben mußten, damit sie sich nicht erkälteten.
Am späten Nachmittag heizte Jörn den eisernen Ofen im ehemaligen Dörrboden, den er sich im vergangenen Sommer mit unserer Hilfe zur Wohnung ausgebaut hatte. Ich kochte auf der kleinen Herdplatte weiße Bohnen mit den ersten Kräutern aus unserem Garten. Fleisch aßen wir beide schon seit langem nicht mehr. Ausgegangen war die „vegetarische Welle“ von Matty, der einen Spruch von George Bernard Shaw an seine Tür geheftet hatte: Tiere sind meine Freunde, und ich esse meine Freunde nicht. Tatsächlich konnte man auf die Dauer auch ganz gut ohne Fleisch auskommen, fand ich, obwohl die Umstellung für mich nicht gerade leicht gewesen war.
Wir aßen am Bauerntisch mit der dicken, wurmstichigen Eichenholzplatte, der noch von Jörns Urgroßeltern stammte. Ich liebte Jörns Zimmer mit den dämmrigen Winkeln und dem Geruch alten Holzes, den Dachbalken, von denen getrocknete Kräuter und Sträuße hingen, dem honigfarbenen Fußboden und der sparsamen Einrichtung. Hinter den kleinen Sproissenscheiben sah man das tiefgezogene Dach, einen Teil des Innenhofs und auf der Nordseite den verwilderten Garten.
Der Dörrboden war so heimelig wie ein Nest oder der Bau eines Tieres unter Wurzeln, und an diesem Samstag nachmittag fühlten wir uns besonders geborgen. Der Regen trommelte aufs Dach, Buchenscheite knackten im Ofen, die Pferde waren versorgt, und ganz Dreililien war eingehüllt in jene paradiesische Ruhe, die immer dann herrschte, wenn ein Trupp Ferienreiter abgereist war.
Wir lagen auf Jörns Matratzenbett, hielten uns in den Armen und lauschten auf den Regen. Diana hatte sich zu Jörns Füßen zusammengerollt und schnarchte leise. Dann, mitten in Friede, Freude und Eierkuchen, fiel mir plötzlich ein, daß meine Periode seit drei Tagen überfällig war.
Ich hätte gern mit Jörn darüber geredet, aber nach all dem, was er in den letzten Monaten ausgestanden hatte, wollte ich ihn nicht auch noch damit belasten. Vielleicht war es besser, mit Carmen darüber zu reden – sozusagen von Frau zu Frau.
Als Carmen am nächsten Tag auf der Haflingerstute ihres Vaters angeritten kam, um ihren Freund Roddy zu treffen, der zu uns in die Sonntagsreitstunde kam, ließ ich ihr kaum Zeit, das stämmige goldbraune Pferd zu den anderen Stuten auf die Koppel zu bringen.
„Ich muß mit dir reden“, sagte ich. „Laß uns Spazierengehen, dann sind wir ungestört.“
Sie sah mich forschend an. „Ist was passiert? Doch nichts mit Jörn?“ fragte sie rasch.
„Hm. Nicht so direkt“, erwiderte ich ausweichend.
Wir gingen den Pfad zwischen den Haselnußsträuchern entlang, zum Wildbach hinunter. „Du“, sagte ich nach einer Weile, „ich hab seit vier Tagen meine Periode nicht gekriegt.“
Carmen war nicht sonderlich beeindruckt. „Das ist mir auch schon passiert“, sagte sie. „Es muß nichts zu bedeuten haben. Wie sieht’s denn aus, habt ihr so um den Eisprung herum miteinander geschlafen?“
Ich war jetzt doch ein bißchen verlegen. Daß Carmen so offen und selbstverständlich fragen könnte, hatte ich nicht erwartet. Wir hatten über solche Dinge nie zuvor miteinander geredet.
Ich sagte: „Ich weiß nicht genau; könnte schon sein“, und merkte, wie ich rot wurde. „Ehrlich gesagt hab ich gar nicht auf den Kalender geachtet.“
„Das solltest du aber“, meinte sie. Ein Lächeln ging über ihr molliges Gesicht. „Genier dich bloß nicht! Es geht schließlich um die natürlichste Sache von der Welt, und ich find’s blödsinnig, daß die meisten Leute immer so tun, als gäb es dieses Problem überhaupt nicht. Eltern vor allem, die denken ja meistens, ihre Kinder würden ,so was‘ niemals tun. Dabei schlagen sich eine Menge Mädchen und Frauen, die nicht einfach tagtäglich die Pille schlucken wollen, mit der Verhütungsfrage herum. Nehmt ihr etwas?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich finde das Zeug alles unnatürlich“, gestand ich. „Jörn genauso. Und die Pille ist mir irgendwie unheimlich.“
„Da hast du recht. Schließlich sind das Hormone, die auf die Dauer eine schädliche Wirkung haben können. Aber es einfach so drauf ankommen zu lassen und halt ein bisserl ,aufzupassen‘, das bringt’s auch nicht. Dazu ist das Risiko einfach zu groß“, sagte Carmen. „Oder wollt ihr ein Kind?“
„Nein, vorläufig bestimmt nicht! Ich fühle mich ja selbst noch nicht mal richtig erwachsen.“
Plötzlich erschrak ich. Die Vorstellung, ein Kind zu bekommen, machte mir gewaltige Angst.
Carmen nickte heftig. „Ja, erwachsen sollte man schon erst mal sein, ehe man sich entscheidet, ob man ein Kind möchte oder nicht. Was hältst du von der Temperaturmethode? Damit hab ich selbst vor einem halben Jahr angefangen.“
„Ich hab mich nie damit beschäftigt“, sagte ich. „Aber gelesen hab ich natürlich davon. Ist das nicht kompliziert und umständlich, jeden Tag um die gleiche Zeit die Temperatur zu messen?“ „Das schon.
Vor allem ist es keine absolut sichere Methode, falls der Zyklus nicht total regelmäßig abläuft. Sicher wär’s am besten, du würdest mal zu einer guten Frauenärztin gehen und mit ihr darüber reden. Ich kenne eine in Rosenheim, die sehr nett ist und sich auch Zeit nimmt. Soll ich dir die Adresse geben?“ Bisher hatte ich mich immer davor gedrückt, mich mit dem Thema Verhütung richtig auseinanderzusetzen, weil ich es so lästig und unromantisch fand. Nun begriff ich, daß es einfach mit dazugehört.
„Ja“, sagte ich. „Ich glaube, es wird Zeit, daß ich mich endlich darum kümmere. Und Jörn mag ich im Moment nicht damit belasten. Aber was soll ich jetzt machen, wenn meine Tage nicht kommen?“
Garmen musterte mich nachdenklich. „Wenn du nicht gleich zur Frauenärztin gehen magst, könntest du dir natürlich in der Apotheke einen Schwangerschaftstest kaufen“, meinte sie. „Dann wüßtest du in ein paar Stunden Bescheid. Allerdings frage ich mich, ob so ein Test immer ganz sicher ist. Teuer ist das Zeug außerdem. Geh zur Ärztin!“
Jetzt bekam ich wirklich Herzklopfen. „Und dann?“ sagte ich. „Falls ich nun wirklich schwanger bin?“
„Wart’s erst mal ab“, erwiderte sie nüchtern. „Dann werden wir schon eine Lösung finden. Es gibt für alles eine Lösung.“
Es tat mir gut, daß Carmen „wir“ sagte, obwohl ich mir keine Lösung vorstellen konnte. Keine außer Abtreibung, und an so etwas mochte ich gar nicht denken.
Sie legte den Arm um meine Schultern. „Mach dir keine Sorgen“, sagte sie. „Du hast wegen Jörn im letzten halben Jahr so viel durchgemacht; davon mußt du dich erst erholen. Nimm doch heute abend mal ein heißes Bad. Das wirkt entspannend; sicher verkrampfst du dich noch zusätzlich, weil du Angst hast. Vielleicht helfen auch Kräutertees. Kirsty weiß doch eine Menge über die Wirkung von Kräutern.“
„Ich mag nicht mit ihr darüber reden“, erwiderte ich. „Aber ich könnte ja mal in ihren Kräuterbüchern nachsehen.“
Gegen Abend, als Kirsty gerade in ihrer Werkstatt arbeitete, ging ich in ihr Zimmer und blätterte heimlich in einem alten Buch, das „Kräutersegen“ hieß. Da stand, daß bei stockender oder ausbleibender Regelblutung Kamillentee oder Ringelblumentee hilfreich wären. In einem anderen Buch wurde auch Hopfenaufguß empfohlen.
Im Küchenschrank fand ich Kamillen- und Ringelblumentee und kochte rasch von beidem eine Kanne voll. Den Tee brachte ich in mein Zimmer und ließ dann im Bad heißes Wasser in die Wanne laufen.
Ich hatte immer eine Abneigung gegen heiße Vollbäder gehabt und duschte lieber; doch diesmal stand ich es durch. Nach zehn Minuten stieg ich wieder aus dem Wasser, krebsrot und ganz benebelt vom Dampf. Als ich den Tee getrunken hatte, zog ich meine Stallklamotten an und ging nach Dreililien, wo ich meine Sorgen für eine Weile vergaß.
Dann ging ich früh schlafen. Am nächsten Morgen traf ich Carmen wie immer an der Bushaltestelle. Sie warf einen kurzen Blick auf mein Gesicht und sagte dann: »Alles in Ordnung, wie?“
Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ja, zum Glück. Das Bad oder die Kräutertees oder beides zusammen haben schon in der Nacht gewirkt. Sicher hab’ ich mich wirklich nur verkrampft.“
Als wir nebeneinander im Bus saßen, fragte ich leise: „Du, Wer hat dich eigentlich aufgeklärt? Deine Eltern?“
Ein breites Lächeln ging über Carmens Gesicht. „Meine Eltern? Herrje, nein! Die bestimmt nicht. Sie sind total verklemmt. Hier auf dem Land ist das öfter so. Die Leute sind katholisch und haben ihre Kinder jahrhundertelang sittenstreng und prüde erzogen. Das merkt man heute noch. Für viele ist Sexualität noch immer etwas Sündiges, worüber man nicht spricht; und Sex vor der Ehe ist sowieso tabu. Meine Eltern sitzen zwar jeden Abend vor dem Fernseher und kriegen voll mit, daß es heutzutage sehr viel freier zugeht als in ihrer Jugend. Trotzdem denken sie höchstwahrscheinlich, ich wäre da eine rühmliche Ausnahme. Und zwar nicht deswegen, weil ich ihnen den Moralapostel Vorspielen würde, sondern ganz einfach, weil ihnen die Wahrheit unangenehm wäre. Deshalb reden sie sieh ein, ihre Tochter ist ein pausbäckiger kleiner Engel mit Flügeln, der unschuldsvoll unter lauter schwarzen Schafen herumschwebt.“
Ich mußte lachen. Carmen hatte manchmal eine wunderbar trockene Art, die Dinge beim Namen zu nennen.
„Der Sexualkundeunterricht in unserer Schule war auch nicht berühmt. Er wurde von unserem Biologielehrer abgehalten. Er war sehr unsicher und hat sich ängstlich an die ‚biologischen Funktionen‘ geklammert. Also hab ich eines Tages angefangen, mir in der Stadtbücherei in Rosenheim Bücher über Sexualität auszuleihen. Dabei hab ich natürlich auch ein paar miese Schwarten erwischt – wissenschaftlich verbrämte Pornografie, weißt du –, aber auch einiges, was mir wirklich etwas gebracht hat. Und als ich Roddy kennenlernte, bin ich zu dieser Ärztin gegangen und hab mit ihr über alles gesprochen. Sie hat mir unter anderem auch ein Buch über natürliche Geburtenregelung empfohlen. Das hab ich mir dann gekauft.“
Ich kam mir plötzlich unreif und unselbständig vor. Warum war ich nicht auch längst auf die Idee gekommen, mich durch Bücher zu informieren oder mit einer Frauenärztin zu reden?
„Und du?“ fragte Carmen. „Bist du von deinen Eltern aufgeklärt worden?“
„Von meiner Mutter“, sagte ich. „Sie hat das gut gemacht, finde ich. Sie ist nicht eines Tages dahergekommen und hat von Blumen und Vögeln geredet. Sie hat mir immer dann offen und ehrlich geantwortet, wenn ich eine Frage hatte – schon, als ich noch ziemlich klein war. Mein Vater hat sich da eher rausgehalten. Ich glaube, er ist ein bißchen verklemmt.“
„Ist schon komisch, wenn man so was plötzlich an den eigenen Eltern bemerkt, findest du nicht? Als Kind hält man sie ja für absolut überlegen und unfehlbar. Erst mit der Zeit lernt man sie richtig kennen und merkt, daß sie auch ihre Schwächen haben und sich mit allen möglichen Problemen herumschlagen, genau wie andere Leute. Und daß sie oft nicht mal richtig erwachsen sind.“
Diese Gespräche mit Carmen vertieften unsere Freundschaft. Bisher waren wir eben zusammen gewesen, wenn es sich gerade so ergab – auf dem Schulweg oder in Dreililien, wenn Carmen zufällig vorbeischaute. Jetzt trafen wir uns bewußt. Wir ritten gemeinsam aus, besuchten uns gegenseitig auf dem Bergerhof oder im Kavaliershäusl und machten Schulaufgaben miteinander.
Für mich war Carmen plötzlich zu einem wichtigen Teil meines Lebens geworden. Es war ähnlich wie mit einem Gegenstand, den man schon lange besitzt und dessen Vorhandensein man für selbstverständlich hält. Dann entdeckt man plötzlich seinen Wert und seine Schönheit und fängt an, ihn mit anderen Augen zu betrachten. So war das auch mit Carmen.