Читать книгу Reiterhof Dreililien 2 - Die Tage der Rosen - Ursula Isbel - Страница 5

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Die Rosen blühten vor dem Haus, das Kirsty von ihrer Tante geerbt hatte – Kavaliershäusl nannten es Jörn und Matty. Mein Vater hatte das gemütliche kleine Haus in diesem Sommer mit gelber Farbe gestrichen und das alte Spalier erneuert, an dem sich Kletterrosen emporrankten. Die Fensterrahmen waren grün, und die Geranien in den Holzkästen leuchteten in sattem Rot. Das Kavaliershäusl sah aus wie aus einem Bilderbuch geschnitten.

Kirsty arbeitete in ihrer Töpferwerkstatt. Ich hörte sie dort rumoren. Als ich die Gartenpforte öffnete, kam Herr Alois angestürmt, Kirstys wuscheliger brauner Hund.

Ich bückte mich und kraulte ihn hinter den Schlappohren, wie er es gern hatte, und er leckte mir die Hand. „Geht’s dir gut?“ fragte ich. „Ich hab dir etwas mitgebracht – einen neuen Vollgummiball, weil du deinen alten wieder mal verloren hast.“

Bei dem Wort „Ball“ begannen seine Augen, die schwarz wie Kohlestücke waren, zu funkeln. Er steckte die Nase in meinen Umhängekorb und wühlte so lange, bis er den Ball fand. Dann zog er stolz damit ab.

Mein Vater tauchte am Küchenfenster auf. „Kirsty muß noch einen wichtigen Auftrag für die Deutschen Werkstätten fertig machen“, sagte er, „einen Satz Bauernschüsseln. Sie werden morgen gebrannt. Nimm dir etwas zum Abendessen aus dem Kühlschrank; es ist noch Käse da. Du hilfst doch nachher wieder bei den Pferden?“

„Klar“, erwiderte ich. „Ich ziehe mich nur schnell um.“ Ich ging die Treppe hinauf in mein Mansardenzimmer. Vom Fenster aus sah ich die Eiche im Garten und die Koppeln und Dächer von Dreililien. Die Sonne versank gerade hinter dem Wald. Schon stand eine bleiche Mondsichel am Himmel.

Kirsty hatte einen Strauß Lavendel im Vorgarten geschnitten und ihn auf meine Kommode gestellt. Die blauen Blüten dufteten wie eine ganze Parfumflasche.

Ich zog meine alte Latzhose an und ein verblichenes Herrenhemd meines Vaters mit abgeschnittenen Ärmeln. Dann warf ich einen prüfenden Blick in den Spiegel.

Meine Haare waren vom Fahrtwind zerzaust; ich bürstete sie mit kräftigen Strichen und flocht sie im Nacken zu einem dicken Zopf. Jetzt war ich stolz darauf, rotes Haar zu haben. Als Kind aber hatte ich richtig unter meiner auffallenden Haarfarbe gelitten, denn ich war oft deswegen verspottet worden. Heute aber war das anders. Erst vor kurzem hatte Jörn zu mir gesagt: „Im Mittelalter hätten sie dich wahrscheinlich als Hexe verbrannt –heute könntest du Reklame für Haarshampoo machen.“

Herr Alois saß in der Küche und nagte an einem Knochen. Er wedelte nur flüchtig mit dem Schwanz, als ich hereinkam, und kaute hingebungsvoll weiter. Ich aß zwei Käsebrote, trank von der Milch, die wir täglich bei einem Bauern in Mariabrunn holten, ging vors Haus und holte meine Gummistiefel unter der Bank hervor.

Im Gras am Wegrand raschelte es. Über den Wiesen kreisten zwitschernd die Lerchen und Schwalben. In den Hecken begannen die Grillen zu zirpen, und der Wind trug verwehte Glockenklänge aus dem Dorf in unser Tal herüber.

Während ich den Pfad zwischen den Haselnußsträuchern entlangging, mußte ich flüchtig daran denken, daß der Sommer in zwei Wochen fast vorüber war, daß dann wieder die Schule begann, eine neue Schule für mich mit neuen Mitschülern und neuen Lehrern. Doch ich schob die unangenehme Vorstellung rasch beiseite. Noch war Sommer, noch hatte ich vierzehn Tage vor mir – vierzehn Tage Freiheit mit Badeausflügen an den Waldweiher, Heuarbeit, Reitunterricht, Lesestunden unter der Eiche oder in der Hängematte, Tage mit Jörn und Matty und den Pferden...

Ich kam an die Kreuzung, wo sich die Wege nach Dreililien, zum Kavaliershäusl und zum Dorf gabeln. Hier begannen die Koppeln. Die Zäune waren zum Teil schon recht morsch und verwittert, und wir hatten uns vorgenommen, sie wenigstens teilweise noch in diesem Jahr auszubessern, ehe der Winter kam.

Durch eine Lücke in der Hecke sah ich die Stuten, wie sie sich vor dem Gatter drängten, voran Isabell mit ihrem Hengstfohlen Odin, das erst vor wenigen Wochen zur Welt gekommen war.

Als ich die Hofeinfahrt erreichte, stand da Jörn, über die Jagdhündin Diana gebeugt. „Sie hat wieder mal einen ganzen Schwung Zecken aufgegabelt“, sagte er, ohne aufzusehen. „Gibst du mir das Öl, bitte?“

Ich gab ihm die Flasche, und er betupfte zwei Zecken damit. „So, jetzt bekommen sie keine Luft mehr und lassen los; anders kriegt man die Biester kaum heraus, sie bleiben sonst mit dem Kopf in der Haut stecken“, erklärte er.

Ich sagte: „Hast du schon angerufen?“

Er richtete sich zu seiner vollen Länge auf. Wieder einmal dachte ich, daß Jörn keineswegs schön war. Und doch hatte er etwas an sich, das ihn ungemein anziehend machte. Waren es sein Blick oder seine Bewegungen, die Art, wie er die Augen verengte, wenn er lächelte, oder alles zusammen? Ich wußte es nicht; ich wußte nur, daß etwas Beunruhigendes an ihm war und daß ich mir manchmal wünschte, er wäre mehr wie Matty... doch wünschte ich mir das wirklich?

„Ich hab’s um sechs schon versucht“, sagte er. „Aber Mikesch war nicht da. Irgend so ein Typ aus der Wohngemeinschaft meinte, ich soll’s um acht noch mal versuchen.“

„Hm“, erwiderte ich. „Blöde Warterei.“

Diana benutzte den günstigen Augenblick, um sich wegzuschleichen. „War’s schön in München?“ fragte Jörn.

„Nein. Zu heiß, zu viele Menschen, zu viele Autos.“

Er sah mich prüfend von der Seite an. „Kein Heimweh?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nach der Stadt? Bestimmt nicht. Wie’s hier im Winter sein wird, weiß ich nicht, aber jetzt ist es auf dem Land jedenfalls tausendmal schöner.“

„Langweilen wirst du dich dann bestimmt auch nicht“, prophezeite er. „Im Winter haben wir hier alle Hände voll zu tun, genau wie im Sommer.“

Ich freute mich, daß er „wir“ gesagt hatte; geradeso, als würde ich schon dazugehören. Dabei war ich erst seit einem Monat hier. Bei Matty wäre es mir selbstverständlich vorgekommen, doch aus Jörns Mund war es fast so etwas wie eine Auszeichnung.

Matty näherte sich vom Stall. „Du mußt morgen mit dem Lieferwagen zur Baywa fahren und Hafer holen, Jörn“, sagte er. „Ich glaube, mit der Melasse und den Rüben reichen wir auch nicht mehr lange.“

Jörn seufzte. „Ausgerechnet morgen! Da wollte ich mich eigentlich mit einem Freund treffen, der bei den Grünen ist.“

Matty hob den Kopf und musterte seinen Bruder aufmerksam. „Willst du bei den Grünen mitmachen?“ fragte er.

„Vielleicht.“

Das war wieder typisch Jörn. Es gab bestimmte Dinge, die er für seine Privatsache hielt, und nach denen man ihn nicht fragen durfte, wenn er nicht freiwillig davon erzählte. Ich sagte also gar nichts und nahm mir vor, abzuwarten, bis er einmal von selbst darüber sprach.

Gemeinsam gingen wir zur Sommerweide. Die Stuten standen am Gatter – alle bis auf Marnie, die noch unter den Bäumen lag.

Matty sagte: „Ich glaube, es ist bald soweit mit ihr. Sie hat schon Harztropfen am Euter. Wenn das Fohlen heute nacht nicht kommt, müssen wir sie morgen im Stall lassen. Allzu schwierig wird’s wohl nicht werden. Sie hat ihre Fohlen bis jetzt immer leicht gekriegt.“

„Diesmal möchte ich aber dabei sein!“ verkündete ich, während wir das Gatter öffneten.

Jörn nickte. „Nichts dagegen einzuwenden – im Gegenteil, wenn du so wild darauf bist, eine Nacht im Stall zu verbringen...“

Vermutlich rechnete er damit, daß ich es mir anders überlegen würde, aber ich sagte nur: „Ich werd’s überleben, wenn ich mal nicht in meinem Bett schlafe.“

Matty ging auf die Koppel, um Marnie „gut zuzureden, damit sie aufstand“, wie er sagte. Er schaffte es auch, und ich bewunderte wieder einmal seine unnachahmliche Art, mit Tieren umzugehen. Während die anderen Stuten Jörn zum Hofplatz folgten, sah ich, wie Marnie sich schwerfällig aufrichtete und an Mattys Seite zum Gatter ging.

„Gutes Mädchen“, sagte er. „Bei der Hitze ist es nicht gerade ein Vergnügen, trächtig zu sein, was? Aber jetzt hast du’s bald überstanden.“

Ich streichelte ihre dicke Flanke. „Ob es wieder ein Hengstfohlen wird wie bei Isabell?“

„Hoffentlich nicht“, sagte Matty.

„Wieso? Was hast du gegen Hengstfohlen?“

„Nichts, außer, daß wir sie verkaufen müssen und daß man dann nicht weiß, was aus ihnen wird“, erwiderte Matty. „Ein Stutfohlen würde Vater vielleicht behalten.“

Pferde verkaufen – das war ein ewiges Problem für Matty, eines, das immer wieder auftauchte, da Dreililien ja ein Gestüt war, das vom Pferdeverkauf lebte. Er hing an jedem einzelnen Tier. Der Gedanke, daß eines der Pferde vielleicht ein trauriges Schicksal hatte und nicht in gute Hände kam, machte ihm stets von neuem zu schaffen.

Die trächtige Stute bewegte sich nur langsam. Als wir in den Stall kamen, waren Jörn und der Stallknecht Sepp schon an der Arbeit. Gemeinsam tränkten und fütterten wir die Pferde und striegelten sie, was zum Glück an einem so trockenen Tag wie diesem recht schnell ging, da die Pferde nicht besonders schmutzig waren.

Später gingen Matty und Sepp zur Koppel am Waldrand, wo ein kleiner Bach floß, und fütterten die Jährlinge. Dort durften die Jungpferde während der Sommermonate auch nachts bleiben.

Ich stand gerade in Hazels Box und kratzte ihre Hufe aus, als Jörn sagte: „Du, ich gehe mal telefonieren, es ist acht. Hoffentlich erwische ich diesen Mikesch jetzt.“

Ich nickte und arbeitete alleine weiter. Trotz der friedlichen Geräusche im Stall, die ich so gern hörte – das Kauen und Schnauben, das leichte Stampfen und Prusten –, war ich voller Unruhe. Ich ging zu Marnie und sah über die Boxwand. Ihre glänzenden Augen waren geweitet, sie schwitzte stark. Ihr Leib war prall, das Fell darüber gespannt wie die Haut eines Luftballons, der kurz vor dem Platzen ist. Die Adern zeichneten sich deutlich darunter ab.

Ich streichelte ihre weichen Nüstern, ihren Hals. Sie ließ den Kopf hängen und schnaubte leise. Plötzlich spürte ich eine Welle von Zärtlichkeit für sie, wie sie da so geduldig stand.

„Leg dich doch hin“, sagte ich. „Leg dich hin, dann ist’s leichter für dich.“

Marnie sah mich unverwandt an. Dann, als hätte sie mich verstanden, ließ sie sich langsam und schwerfällig in die Mulde aus frischer Streu nieder, die Matty wie ein Nest auf dem Boden ausgebreitet hatte.

Die Stalltür wurde lärmend aufgestoßen. Wir zuckten beide zusammen, Marnie und ich. Es war Sepp mit einer großen Heugabel in der einen Hand und einem Eimer in der anderen. Er brummte etwas vor sich hin. Dann tauchte Matty auf.

Er kam zu mir und sagte: „Na, habt ihr euch unterhalten – von Frau zu Frau?“

Ich lachte. „Gewissermaßen. Ich hab ihr geraten, sich hinzulegen, und sie fand den Vorschlag gut.“

Ein Schwalbenpaar flog durch eines der offenen Stallfenster aus und ein. Es hatte hier seine Jungen großgezogen, bis sie flügge waren und sich selbst versorgen konnten. Jetzt war das Nest verlassen, doch die Eltern kamen noch immer und fingen Fliegen, die es im Stall natürlich im Überfluß gab.

„So eine Schwalbe ist besser als das stärkste Insektenvernichtungsmittel“, murmelte Matty. „Außerdem sollen Schwalben beim Haus Glück bringen. Hoffentlich stimmt’s.“

Ich nickte und verriet nicht, wie unsicher und ängstlich ich im Augenblick war. Noch vor wenigen Wochen, als wir den Plan gefaßt hatten, auf Dreililien eine Reitschule einzurichten, war ich voller Zuversicht gewesen. Jetzt aber, nachdem die erste Begeisterung verflogen war, sah ich die Sache etwas nüchterner und fing an zu begreifen, welche Schwierigkeiten uns erwarteten. Wir würden sicher jede Menge Lehrgeld zahlen müssen — falls sich überhaupt alles so verwirklichen ließ, wie wir es uns vorgestellt hatten.

„Telefoniert Jörn?“ fragte Matty.

„Ja“, sagte ich. „Er ist schon einige Zeit weg. Das bedeutet wohl, daß er diesen Mikesch erreicht hat.“

Sepp sagte mürrisch aus dem Hintergrund: „Oana, der wo Mikesch hoaßt – was soll dös scho für oana sei?“

Ich verbiß mir das Lachen. „Auf den Namen kommt’s nicht an, Sepp“, erwiderte Matty friedfertig.

Sepp schüttelte den Kopf und verfiel wieder in sein übliches Schweigen. Ich hatte anfangs geglaubt, daß er mich nicht leiden könne, weil er mich kaum beachtete. Doch inzwischen wußte ich, daß das einfach seine Art war, und daß ich ihn so nehmen mußte, wie er war, ohne gleich alles auf mich zu beziehen.

Matty zwinkerte mir zu, und ich zwinkerte zurück. Vom Hof her hörten wir Dianas Gebell; da wußte ich, daß Jörn nicht weit sein konnte, denn die Jagdhündin liebte ihn abgöttisch und folgte ihm meist getreulich wie ein Schatten.

Gleich darauf kam Jörn auch wirklich mit Diana durch die Tür der Sattelkammer. Offenbar hatte er sich vorgenommen, uns auf die Folter zu spannen, denn er machte ein undurchdringliches Gesicht und pfiff leise vor sich hin.

„Was ist?“ fragte Matty ungeduldig.

„Alles klar. Er kommt morgen. Wir müssen ihn vormittags vom Bus abholen. Er hat kein Auto.“

„Morgen!“ Ich sah ihn an. „Und sonst? Was hat er sonst noch gesagt? Wie war seine Stimme?“

„Gesagt hat er nicht viel“, erwiderte Jörn aufreizend langsam. „Aber gegen seine Stimme ist nichts einzuwenden.“

Viel mehr war nicht aus ihm herauszubekommen, auch durch Matty nicht, der alles mögliche fragte. „Wir müssen abwarten, bis wir ihn uns angesehen und persönlich mit ihm gesprochen haben“, sagte Jörn. „Außerdem hängt die Entscheidung von Vater ab. Wenn die beiden sich nicht mögen, können wir’s sowieso vergessen.“

Ich wollte sagen, daß Herr Moberg sich da nicht einmischen sollte, wenn wir uns schon um alles kümmerten, schwieg dann aber. Immerhin gehörte Dreililien weder Jörn noch Matty, sondern ihrem Vater, der seit einem Autounfall schwer gehbehindert war und sich nur noch auf Krücken fortbewegen konnte. So mußte er fast alle anfallenden Arbeiten seinen Söhnen überlassen. Trotzdem war er aber noch immer der Herr im Haus, und was er sagte, mußte getan werden.

Ich sah Matty von der Seite an. Er machte ein trotziges Gesicht. Die beiden Brüder verstanden sich nicht allzu gut mit ihrem Vater. Ich wußte von Jörn, daß er sogar schon einmal wegen eines Streits von zu Hause ausgerückt war. Herr Moberg war ein schwieriger Mann – es war bestimmt nicht einfach, ihn zum Vater zu haben.

Stumm machten wir uns daran, das Putzzeug in die Sattelkammer zu bringen. Ich warf einen Blick durch das staubige, von Spinnweben verhangene Fenster auf den ziemlich vernachlässigten Innenhof von Dreililien, das krumme Pflaster, über das einst Kutschen geholpert sein mochten, den Torbogen, von dem der Verputz abblätterte, die Stuckverzierungen über den Fenstern, die bröckelnden Balkone und das steinerne Wappen mit den drei Lilien.

Das alles hatte einst bessere Zeiten gesehen. Dreililien war ein Rittergut gewesen, das ein Vorfahr der Mobergs für treue Kriegsdienste vom Kaiser geschenkt bekommen hatte. Heute merkte man, daß das Gut an allen Ecken und Enden Reparaturen nötig gehabt hätte, für die das Geld fehlte. Trotzdem lag ein ganz besonderer Reiz über den Gebäuden, dem Innenhof mit der Linde und dem Ziehbrunnen; ein Zauber, wie er alten Höfen und Schlössern oft anhaftet, die zwar nicht mehr so prunkvoll und gepflegt sind wie einst, ihre Schönheit aber nicht verloren haben.

Als Frau Moberg ihre Söhne zum Abendessen rief, machte auch ich mich auf den Heimweg. „Kommst du dann später wieder?“ fragte Jörn, und als ich nickte, fügte er hinzu: „Bring deinen Schlafsack mit, wenn du magst. Dann kannst du auf der Bank in der Sattelkammer schlafen. Ich wecke dich, wenn’s bei Marnie soweit ist.“

Diesmal wollte also er Nachtwache halten. Jörn und sein Bruder wechselten sich als „Geburtshelfer“ ab; zu Beginn der Ferien, als lsabell ihr Fohlen bekam, hatte Matty die ganze Nacht bei ihr im Stall gesessen.

Ich sagte: „Ich bringe keinen Schlafsack mit, weil ich wach bleiben will.“ Jörn wandte sich nicht um; er nickte nur.

Beim Nachhausekommen war ich wie immer schmutzig und verschwitzt. Vater und Kirsty saßen unter der Eiche am gedeckten Gartentisch, Zum Glück hatten sie schon ohne mich zu essen angefangen und waren auch nicht böse, daß ich zuerst ins Haus ging, um zu duschen.

Als ich wieder in den Garten kam, hatten sie zur Abwehr der Mücken Kerzen angezündet. Kirsty trug einen luftigen Kimono mit bunter, schon etwas verwaschener Blütenstickerei. Sie hatte ihr goldbraunes Haar wegen der Hitze aufgesteckt und lächelte mir über ihr Strickzeug hinweg zu. Herr Alois lag zu ihren Füßen im Gras.

Ich aß vom griechischen Salat und nahm ein paar kräftige Schlucke von der Radlermaß – eine Mischung aus Bier und Limonade, die erfrischend schmeckt und herrlich kalt war. Mein Vater hatte sich eine Pfeife angezündet. Irgendwo im Garten sang eine Drossel ihr Abendlied.

Ich sagte: „Ich übernachte heute im Stall. Marnie bekommt höchstwahrscheinlich ihr Fohlen, Jörn will Nachtwache halten.“

Mein Vater sah mich forschend an. „Das wird sicher aufregend“, meinte Kirsty. „Ich hab mal bei einer Fohlengehurt zugesehen. Da war ein Fuß im Darm verklemmt, und der Pferdepfleger mußte nachhelfen. Er hat furchtbar geschuftet, das Wasser lief ihm nur so übers Gesicht. Jörn wird vielleicht froh sein, daß du dabei bist, Nell. Du hast eine geschickte Hand mit Tieren.“

Sie nickte mir liebevoll zu. Ich wußte, daß sie an die Nacht dachte, in der wir gemeinsam um das Leben ihres Hundes gekämpft hatten. Zu Anfang des Sommers war Herr Alois eines Nachts mit einer schweren Vergiftung nach Hause gekommen. Während mein Vater den Tierarzt holte, hatten Kirsty und ich alles versucht, den Hund am Leben zu erhalten. Wir hatten ihm Milch eingeflößt, bis er sich erbrach und das Gift aus dem Körper brachte. Seitdem waren wir Freundinnen, Kirsty und ich.

„Hoffentlich gibt’s keine Schwierigkeiten“, sagte mein Vater besorgt. „Geh bitte nicht in die Box, Elinor. Man weiß nie, was eine Stute in so einer Situation tut. Vielleicht beißt sie um sich oder schlägt aus.“

„Marnie? Das glaube ich nicht. Ich griff wieder nach dem Bierglas, ließ dann aber die Hand sinken, weil mir einfiel, daß Bier müde macht. Und müde durfte ich nicht werden. Ich wollte mich nicht vor Jörn blamieren, indem ich einschlief wie ein übermüdetes Kind. „Erstens ist sie sehr gutmütig, und zweitens wird Jörn mich wahrscheinlich sowieso nicht in die Box lassen. Ich will ja bloß Zusehen. Vielleicht kann ich ihm auch mit ein paar Handgriffen helfen, wenn’s nötig ist.“

Mein Vater seufzte leicht. Sein Blick sagte deutlicher als Worte: Ich mache mir Sorgen, aber du tust ja doch, was du willst. Also kann ich es nicht ändern.

Ich stand auf, umarmte ihn und gab ihm einen Kuß. „Ich werd’s überleben, keine Angst. Außerdem bekommt ja Marnie ein Fohlen und nicht ich.

Dann lächelte ich Kirsty zu, nahm meine Strickjacke und ging aus dem Garten, den mondbeschienenen Pfad zwischen den Haselnußsträuchern und Birken entlang nach Dreililien.

Reiterhof Dreililien 2 - Die Tage der Rosen

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