Читать книгу Franz Schnyder - Ursula Kähler - Страница 6

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Die Sonne scheint schwach durch den leicht bewölkten Himmel über der Emmentaler Kleinstadt Burgdorf am Vormittag des 12. Mai 1992. Ein ganz normaler Dienstag. Das Zähringerschloss thront über der malerischen Altstadt und den darunter liegenden Quartieren. Gegen 8.30 Uhr geht ein alter Mann mit schnellen, kurzen Schritten die Jungfraustrasse entlang.1 Seine Haut ist blass, sein Haar schütter, die Haltung leicht gebeugt über einen Spazierstock. In der Jackentasche umklammert er eine Walther-Pistole, Kaliber 22. Er ist wütend. Und er braucht Geld. Von seiner Villa ist es nicht weit zur Kunstgalerie W. Gerade mal 200 Meter. Aber die 82 Jahre machen sich mit jedem Schritt bemerkbar. Er reisst sich zusammen.

Frau W. hat schon lange das Gefühl, dass Franz Schnyder nicht mehr ganz bei sich ist. Über ihre Galerie haben sie und ihr Mann regelmässig Bilder für den Filmemacher erworben, darunter sehr wertvolle. Alle diese Geschäfte haben sie genau dokumentiert, Expertisen abgelegt, Quittungen aufbewahrt. «Da habe ich auch heute noch ein gutes Gefühl, ein sauberes Gewissen. Nach fast vierzig Jahren», sagt Frau W. Anfang der 1990er-Jahre war Schnyder öfter vorbeigekommen. Dabei hatte er immer wieder mit Strafanzeige gedroht und den Kunsthändlern vorgeworfen, mit seinem Beistand, dem Juristen Franz Zölch,2 unter einer Decke zu stecken und ihn zu betrügen. Doch nicht nur das Ehepaar W. geriet in Schnyders Visier: Auch der Burgdorfer Stadtpräsident und ein Druckereibesitzer hatten bereits Drohbriefe erhalten.

An jenem Morgen steht die freundliche, klein gewachsene Frau mittleren Alters mit den hellen, wachen Augen hinter dem Ladentisch. «Und dann sehe ich ihn. Ich rufe noch nach hinten ins Büro: ‹Achtung, der Schnyder kommt!› – und schon steht er vor mir in hellem Anzug, weissem Hemd und schwarzer Krawatte. Seine senkrechte Ader auf der Stirne, nicht blau ist sie, sondern dunkel, fast schwarz. Unheimlich sieht er aus, wie er mich so fixiert. Blitzgeschwind zückt er eine Pistole. Er richtet sie auf mich! Ich starre auf die Waffe, unbeweglich, trotzdem irgendwie gefasst, und höre zum wiederholten Male seine Vorwürfe. Ich versuche, ruhig zu bleiben. ‹Das hat doch keinen Sinn›, will ich ihn beschwichtigen. ‹Wir können doch reden miteinander. Legen Sie bitte die Pistole auf den Tisch.› Das tut er dann auch, platziert Stock und Pistole zwischen uns. Langsam, ganz langsam, während ich beruhigend auf ihn einrede, versuche ich, die Pistole wegzuschieben. Bevor ich richtig reagieren kann, fasst er aber seinen Stock und schlägt mir damit auf die Hand. ‹Wenn Sie die Pistole noch einmal anfassen›, schreit er mich an, ‹werde ich abdrücken!› Er fordert mich auf, die Ladentüre abzuschliessen und die Storen herunterzulassen. So stehen wir einander gegenüber. Hinten im Büro hat mein damaliger Mann inzwischen die Stadtpolizei angerufen. Rasch, zum Glück, erscheint die Streife, betritt von hinten das Geschäft und verhaftet Franz Schnyder.» Kaum ist er abgeführt, öffnet Frau W. die Ladentüre, zieht die Storen wieder hoch und macht sich erneut an die Arbeit. Sie tut so, als ob nichts geschehen wäre. Erst eine Stunde später kommt der Schock. Sie beginnt zu zittern und bricht zusammen.

Um 8.40 Uhr war der Anruf des Galeristen bei der Stadtpolizei eingegangen. Zwei Polizisten rückten sofort aus. Um 9.06 Uhr erschienen sie mit Franz Schnyder auf der Wache, die Waffe hatten sie ihm bereits im Geschäft abgenommen. Sie war gesichert und nicht durchgeladen. Es befand sich keine Kugel im Lauf, aber vier Patronen im Magazin. Nach einem standardmässigen Vorgehen wurden zunächst Beistand Zölch und dann der Untersuchungsrichter, der Chef der sozialen Dienste sowie der Amtsarzt informiert. Letzterer veranlasste eine Überweisung in die Psychiatrische Klinik Münsingen. Als Schnyder davon erfuhr, rastete er aus und wollte sich mit einem Messer die Schlagader am Handgelenk aufschneiden. Das Messer konnte ihm aber entrissen werden. Um 10.15 Uhr begleiteten ihn zwei Beamte nach Münsingen, wo er in die Psychiatrie eingewiesen wurde.

Während des Klinikaufenthalts tippte der Patient auf einer Schreibmaschine seine Version der Verhaftung zu Papier: «Am 12. Mai 1992 wurde ich mit Brachialgewalt in die Spinnmühle, Münsingen, eingeliefert. Ich war mutterseelenallein in der Fälscherwerkstatt des Ehepaars W. Die Eheleute hatten sich längst vorher mit ihrem Auto davongemacht. ‹Geschichten›, die um die vorausgehende Untat – von mir begangen – ranken, sind pure Erfindungen. Um gezielt die gemeine Festnahme zu rechtfertigen. Wahr allein ist, dass 6 Parasiten der Stadtpolizei, Burgdorf auf mich los stürzten – jubelnd, und hellbegeistert – und nach Schweizer ungewaschenem Hintern stinkend –, mich misshandelten, duzten, wie einen ‹Kopin› aus Krauchthal – und dann den eher mittelmässigen Allgemeindoktor [Dr. Bandi] telefonisch informierten: ‹Sie hätten einen Frauenmörder dingfest gemacht› – nicht verwunderlich, dass der naive Benvenuto Bandi – ohne auch nur mich zu sehen – sofort einen der Kriminellen der Spinnmühle, ein Dr. Kohli, um ‹Unterkunft› für mich bettelte. […] Ich gestehe es (als letzter Gedanke?): ich bin seit 1291 der berühmteste Eidgenosse, mit einem ungeheuren Lebenswerk – (dafür mit vielen, vielen Freunden, die alle es vorzogen, zu schweigen […]: Charakterlos, feige, irreligiös – zum Untergang verurteilt …).»3

Nach rund neun Monaten in der Psychiatrie verstarb Franz Schnyder am 8. Februar 1993 im nahe gelegenen Bezirksspital im Alter von 82 Jahren. Nur drei Monate zuvor erlag sein Zwillingsbruder Felix Schnyder einem Krebsleiden. Der Überfall war der Beginn des tragischen Endes dieses Ausnahmekünstlers. Schnyders Werk prägte den Schweizer Film von den 1940er- bis in die 1960er-Jahre und zog ein heute kaum vorstellbares Millionenpublikum in die Lichtspielhäuser. Er gilt weithin als erfolgreichster Schweizer Filmemacher, war ein Mann mit Vision, Überzeugungskraft und Talent – ob als Theaterschauspieler, Regisseur für Bühne und Film, Filmproduzent, Drehbuchautor oder Konzertorganisator. Er beherrschte sein Metier, war ein exzellenter Schauspielerführer, entdeckte Talente wie Hannes Schmidhauser («Uli der Knecht», 1954) und Elisabeth Berger («Geld und Geist», 1964) und versuchte, so lang es ihm möglich war, das grosse Publikum zu erreichen und sich für seine Idee von einem «Nationalen Kino» einzusetzen. Doch nach dem letzten, erfolglosen Kinofilm und der ebenfalls daraus entstandenen, jedoch populären TV-Serie «Die 6 Kummer-Buben» (1968) gelang es ihm nicht mehr, finanzielle Mittel für weitere Projekte zu erhalten. Die 1963 eingeführte staatliche Filmförderung bevorzugte den Neuen Schweizer Film, deren jüngere Vertreter mit ihren Autorenfilmen kommerzielle Produktionen verdrängen wollten.4 Mit Schnyders Werk konnte der Nachwuchs wenig anfangen und stempelte es lange als antiquiert und reaktionär ab. Da diese Abneigung auf Gegenseitigkeit beruhte, wählte Schnyder den Rückzug ins Private, von wo aus er zwar noch Drehbücher verfasste, aber vor allem wütende Briefe an Bundesräte und Filmfunktionäre verschickte. Seine zuvor in kreativen Schaffensprozessen entladene positive, kraftvolle Energie wandelte sich in eine bittere, destruktive, die langsam aber stetig dazu führte, dass der einstige Filmkünstler und tüchtige Kaufmann seinen Platz in der – seiner Meinung nach dem Untergang geweihten – modernen Gesellschaft nicht mehr finden konnte. Altersstarrsinn, Zorn und Einsamkeit überschatteten die letzten Lebensjahre.

Nach seinem Tod begann eine neue Rezeption von Schnyders Produktionen. In der Presse blieben die Konflikte mit Filmpolitik und Filmszene zwar nicht unerwähnt, doch schien man sich in einem Punkt einig: Ein Grosser war gegangen. Jemand, der mit Leib und Seele Filme über die Schweiz und für die Schweiz gemacht hatte. Franz Schnyder ist und bleibt auch heute noch präsent. Zu bedeutend ist der Grossteil seines Werks, das eine persönliche künstlerische Handschrift trägt und sich in das kulturelle Gedächtnis der Schweiz eingraviert hat. Das Schweizer Fernsehen zeigt es weiterhin regelmässig, und man gedenkt Schnyders runden Geburtstagen. Zum 40. Jubiläum von «Uli der Knecht» erschien 1995 ein Bildband,5 Schnyders 100. Geburtstag wurde 2010 in Burgdorf mit einem Festival gefeiert, und 2014 widmete das Gotthelf Zentrum in Lützelflüh dem ersten «Uli»-Film eine Sonderausstellung.

Fast zeitgleich kamen wir, Autorin und Autor, auf die Idee, eine Biografie über Franz Schnyder zu schreiben. Sie sollte eine Kombination von persönlicher Lebens- und Schweizer Filmgeschichte sein. Dass bisher noch keine auf unabhängigen Recherchen beruhende Darstellung existiert, ist verblüffend, besticht doch seine Vita über eine relativ lange Zeitspanne hinweg durch vielseitige künstlerische, unternehmerische sowie private Höhen und Tiefen. Trotz dünner Quellenlage versuchten wir, in diesem Buch den Fokus auf die persönliche Entwicklung zu richten, vom einst so lebenslustigen, jungen, talentierten Mann – wie etwa in seinen Ausbildungsjahren in Deutschland oder später als Leiter der Migros-Klubhaus-Konzerte – zum grollenden, sich nach Aufmerksamkeit sehnenden, kranken Greis. Bald wurde uns bewusst, dass lediglich eine Annäherung an den Menschen und Filmemacher Schnyder gelingen kann. Das Ziel, eine vollständige Abbildung seines Wesens und die Gesamtheit aller auffindbaren Fakten wiederzugeben, hätte den Blick auf das Wesentliche versperrt. Die entscheidenden Fragen lauteten: Woher kam Franz Schnyder? Welches waren die wichtigsten Stationen in seinem Leben? Was und wer hat ihn geprägt? Auf der Suche nach den Antworten bildeten sein Werk und dessen Wirkung und, soweit wir es einschätzen konnten, einige wenige ihm nahestehende Personen zentrale Motive.

Neben der Aufarbeitung aller in diversen Archiven in Deutschland, Polen, der Schweiz sowie im digitalen Umfeld auffindbaren Dokumente führten wir auch Interviews mit Zeitzeugen und versuchten so, ein möglichst genaues Bild eines in vielerlei Hinsicht extremen und widersprüchlichen Lebens entstehen zu lassen – unter besonderer Berücksichtigung von Schnyders Filmen, die seinen persönlichen Erfolg, aber letztlich auch seinen Niedergang verursachten. Sich diese anzusehen, wird sicherlich auch in Zukunft ein anregendes Vergnügen bleiben, nicht nur für Fans, sondern auch für den filmischen Nachwuchs.

Franz Schnyder

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