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Die Theaterjahre
1929–1940

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Den mutigen Schritt zum Künstlertum und damit auch zu seiner Selbstverwirklichung beschrieb der alte Franz Schnyder rückblickend: «1929 im Herbst … Seltsam: über eine unendliche Zahl von Kilometern findet sich kein Beispiel … Wie kam denn ich dazu, nach Berlin zu wallfahren, um mich mit dem Leben des Theaters und schliesslich der Filmwelt vertraut zu machen? Der innere Kern liegt in meiner charakterlichen Anlage … Seit ich bewusst lebe, lehne ich mich gegen jegliche Bevormundung auf … Sicherlich zu unrecht … Keiner meiner Lehrmeister hatte im Sinn, mich zu unterdrücken, zu liebesdienerischem Gehorsam zu bewegen … So kam für mich ein bürgerlicher Beruf nicht in Frage … Es war wohl ‹Glück› …»21

Die Matura in der Tasche, ging Schnyder ohne Umweg an das nächstgelegene Bühnenhaus. Am Stadttheater Bern begann er, als Assistent in der Bühnendekorationsmalerei von Ekkehard Kohlund, dem Vater des bekannten Schauspielers und Regisseurs Erwin Kohlund, zu arbeiten. Gleichzeitig nahm er Phonetikstunden bei Paula Ottzenn, die festes Ensemblemitglied des Stadttheaters war.

Schnyders Arbeit in Kohlunds Maleratelier dauerte jedoch nur wenige Monate. Auf Empfehlung von Kohlund, Ottzenn und Hans Kaufmann, Direktor des Stadttheaters, beschloss Max Schnyder, seinen Sohn für die Schauspielschule von Louise Dumont und Gustav Lindemann in Düsseldorf anzumelden. Dumont und Lindemann waren die Gründer und Leiter des Schauspielhauses Düsseldorf, dem auch die renommierte Schauspielschule angeschlossen war, zu der nur noch «ganz hervorragende Begabungen» zugelassen wurden: «Wenn Ihr Sohn auf diese Gefahr hin die Reise hierher machen will, kann er an der nächsten Prüfung am 3. Januar nachmittags 5 Uhr teilnehmen und zu diesem Zwecke einige dramatische Scenen oder Monologe vorbereiten.»22 Ottzenn unterstützte Schnyders Bewerbung mit einem Empfehlungsschreiben an Dumont, in dem sie am 30. Dezember 1929 über ihn berichtete: «Franz Schnyder wollte hier als Voluntär anfangen […]. Es ist aber für den Schweizer, der in der Umgangssprache le patois spricht, auch bei grösster Begabung fast unmöglich, den dialektischen Beiklang abzulegen. Deshalb riet ich den Eltern des sehr begabten – sprachlich aber sehr gehemmten Franz Schnyder, keine Zeit zu verlieren und [ihn] in Deutschland studieren [zu lassen]. Er ist aussergewöhnlich intelligent, literarisch für sein Alter unheimlich versiert und sehr persönlich in seinen Auffassungen.»23 Am letzten Tag des Jahres 1929 schrieb Vater Schnyder an das Schauspielhaus Düsseldorf, dass er seinen Sohn in Deutschland ausbilden lassen wolle, «da er in der Schweiz sich die Weichheit der deutschen Sprache nicht aneignen könne, indem diese Weichheit in seinem täglichen Umgange wieder verdorben würde», und wies nochmals auf die für die Deutschen ungewohnte Aussprache seines Sohnes hin, die für einen Schweizer ganz natürlich sei und die Franz dank seines grossen Eifers sicherlich rasch korrigieren werde.

Sowohl er wie auch seine Eltern hätten damals nicht abschätzen können, was ihn erwartete, erinnerte sich Schnyder in reiferem Alter. Hätten sie gewusst, dass nur ein kleiner Teil der Schauspielschüler mit Erfolg von diesem Beruf würden leben können, hätten sie ihn nicht gehen lassen. «Die Nervenprobe ist sehr gross, und man muss gutes Glück haben», sagte er im Jahr 1965.24


Franz Schnyder 1930, am Anfang einer verheissungsvollen Theaterkarriere in Deutschland. Experimentelle Mehrfachbelichtung vor der Tonhalle Düsseldorf.

Die Schauspielschule in Düsseldorf

Sein Vorsprechen war erfolgreich, und so zog Schnyder am 2. Januar 1930 an die Kronprinzenstrasse 18 in Düsseldorf und trat drei Tage später in die Hochschule für Bühnenkunst am Düsseldorfer Schauspielhaus ein. Die Ausbildung dauerte zwei Jahre und wurde in den Fächern Sprechtechnik, Rhythmik, Rezitation, Rollenstudium, Dramaturgie, literarische Besprechung der Schauspielwerke, Gesichtspunkte der Regie, szenische Improvisationen, Theater- und Kunstgeschichte, Unterricht im Schminken und Französisch erteilt.25 Im Februar 1930 schrieb er seiner Tante Johanna, dass er sehr beschäftigt und Düsseldorf eine schöne, grosse Stadt sei. Nur die Luft sei sehr schlecht, wobei er sich zwar sehr gut fühle, aber «trotz Ortswechsel nun 2 kg abgenommen» habe.26

Die Schauspielschule von Dumont und Lindemann schien Schnyder dann doch nicht besonders zu entsprechen, weshalb auf ihn wenig Verlass war und es vorkommen konnte, dass er gar nicht zu Aufführungen erschien. Am 2. Juni erhielt er eine erste Verwarnung: «Sehr geehrter Herr Schnyder! Es wird gemeldet, dass Sie in der Aufführung am 30.5. so spät in die Garderobe kamen, dass es Ihnen nicht möglich war, in Ihrem Auftritt im 3. Akt mitzuwirken. Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass wir im Wiederholungsfalle nach den Bestimmungen der Hausordnung handeln werden und Sie die Konsequenzen dann tragen werden müssen. Wir können es nicht verantworten, Schüler für die Bühne vorzubereiten, die nicht im Vollbesitz des hier notwendigen Verantwortungsgefühls sind.»

Gemeinsam mit einem Schweizer Studienkollegen reichte Schnyder ein Gesuch ein, im Juli schon etwas früher in die Ferien verreisen zu dürfen, da sie eine weite Reise auf sich nehmen müssten und überzeugt seien, dass die Schule gut auf sie beide verzichten könne. Im Verzeichnis der Schüler der Hochschule für Bühnenkunst steht, dass Franz auf den 1. September 1930 ausgetreten sei. Dennoch musste er weitere Auftritte wahrnehmen. Mitte Monat wurde er erneut ermahnt, weil er bei einer Vorstellung von «Sturm im Wasserglas» gefehlt hatte.27 Dies schien wohl der Moment gewesen zu sein, in dem sich Schnyder definitiv zum Verlassen der Schule entschieden hatte. Am 25. September verabschiedete er sich schriftlich beim Intendanten Lindemann. «Wollen Sie meine grosse Dankbarkeit entgegennehmen: ich habe an Ihrem Institut ausserordentlich viel gelernt und gesehen; was ich von Düsseldorf mitnehme wird [mir] für mein ganzes Leben wichtig und notwendig sein. Mit grösster Hochachtung Ihr ergebener Fr. Schnyder.»28

Zum ersten Mal in Berlin

Anschliessend zog Schnyder in die deutsche Hauptstadt, wo er an der Witzlebenstrasse 20 wohnte. Zu seiner Vermieterin Gertrud Grünbaum, einer älteren Dame, pflegte er eine enge, persönliche Beziehung. Zunächst nahm er privaten Schauspielunterricht und traf auf Ellen Widmann,29 eine Schweizerin, deren Theaterlaufbahn ebenfalls in Deutschland begonnen hatte.30 Mit ihr arbeitete er später in der Schweiz noch oft zusammen, sowohl im Theater als auch im Film.

Im November 1930 begann er das Studium bei Ilka Grüning und Lucie Höflich. Es gab daneben noch zwei andere Theaterschulen in Berlin: die Schauspielschule des Deutschen Theaters, gegründet 1905 von Max Reinhardt, und die Berliner Schauspielschule des Deutschen Bühnenvereins und der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger. Grüning und Höflichs Schule war unabhängig und deshalb nicht als solche offiziell im «Deutschen Bühnenjahrbuch» registriert. Jedes Jahr wählten die beiden Lehrerinnen zwölf junge Damen und Herren aus, die sie zwei Jahre lang unterrichten würden. Eine davon war die deutsche Schauspielerin Lilli Palmer. In ihrer Autobiografie «Dicke Lilli – gutes Kind» schrieb sie, dass es in ihrer Klasse ein Mädchen gab, das ihr «in puncto Talent das Wasser reichen» konnte. Es war Juana Sujo, die zehn Jahre zuvor mit ihren Geschwistern von Buenos Aires nach Berlin gekommen war, ehe sie auf Schnyder und Palmer traf.

«Der Lehrplan war einfach. Jeder Schüler hatte seine wöchentliche Privatstunde, das heisst, man spielte seine Rolle, während jemand die Stichworte las, und die anderen sahen zu. Frau Grüning oder Frau Höflich unterbrach oder machte ihre Bemerkungen hinterher. Dadurch lernten wir aus dem Unterricht der anderen genau so viel wie aus dem eigenen. Natürlich wussten wir in kürzester Zeit, bei wem sich das Zusehen lohnte. […] Juanitas Unterricht war immer überfüllt. Sie war allen weit voraus», erinnerte sich Palmer.31

Die Sommerferien verbrachte Franz meistens in der Heimat. Im August 1931 hatte er viele Proben für «Jedermann», ein Stück aus der Feder Hugo von Hofmannsthals, das seit 1920 jedes Jahr bei den von Max Reinhardt und von Hofmannsthal gegründeten Salzburger Festspielen aufgeführt wurde. Nun sollte es auch in Burgdorf unter freiem Himmel zur Aufführung kommen. Franz hatte sich bereit erklärt, während der Sommerferien unter der Regie der lokalen Theatergrösse Franz Della Casa senior mitzuspielen. Er fand es jedoch «eine langweilige Sache – es wäre gescheiter gewesen, ich hätte es nicht gemacht», schrieb er an Tante Johanna.

Im Herbst fuhr Schnyder wieder nach Berlin, wo ihn Mitte September eine Angina plagte. In einem Brief an Johanna, den er krank aus dem Bett schrieb, kam er auf etwas Ernstes zu sprechen: «Hier in Berlin steht es gegenwärtig mies und es scheint immer schlechter zu werden: Letzte Woche haben sie mit einer Judenverfolgung auf offener Strasse begonnen – na, ich bin ja kein Jude, mich geht die Sache ja nichts an.» Dass diese Entwicklungen aber bald auch gravierende Folgen für die Theaterwelt und seine Kolleginnen und Kollegen haben würden, konnte er sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausmalen.

Franz Schnyder schrieb in hohem Alter einmal, dass er noch während der Ausbildung bei Grüning und Höflich von Max Reinhardt entdeckt worden sei.32 «Im prächtigen Salon der guten Lucie [Höflich] hockte ein älterer Mann … Wie angewachsen … guckte auf mich … Mich störte das. Aber einmal in Fahrt, legte ich los. Der Monolog vom bedauernswerten Melchthal ist ja kein Geheimnis. […] Erschöpft – doch höchst zufrieden – beäugte ich die erstaunte Höflich … ‹Begabt, … schon, aber, …› Da winkte der Alte in der Ecke … ‹Hocken! Und wie heissen Sie doch?› ‹Schnyder […]› ‹Schnyder? So, so […] Haben … solche überhaupt nicht … Weder in Berlin noch in Wien … Aber …› Und er hob seinen linken Zeigefinger. Prophetisch … ‹So lange dauert es nicht … und dieser kuriose Name ‹Schnyder› […] Werden ihn bald kennen … die Leute … Bleiben Sie geduldig, wenn Neid auf Ihren Spuren auftaucht …› Dann machte er sich auf den Weg zur Tür …» Es kam aber nicht direkt zu einem Engagement am Deutschen Theater, wie Schnyder später erzählte, sondern er schloss zuerst gemeinsam mit den anderen die Ausbildung ab.

Am Abend des 23. April 1932 trat die Schauspielklasse im Schubert-Saal an der Bülowstrasse 104 zur Studio-Prüfungsaufführung an. Dargeboten wurden Szenen aus unterschiedlichen Werken. Jeder Darsteller musste in mindestens zwei verschiedene Rollen schlüpfen, um Vielseitigkeit zu beweisen. Schnyder spielte Figuren aus Gerhard Hauptmanns «Rose Bernd» sowie, gemeinsam mit Lilli Palmer, aus Victorien Sardou und Emile de Najacs «Cyprienne». Von der Presse wurde er aber besonders für seine Darbietung als Peer Gynt an der Seite von Juana Sujo gelobt. «Sujo zeigt als Aase […] drastische Bühnenbegabung, nach der derben und nach der humoristischen Seite hin […], Franz Schnyder treibt als Peer Gynt die Sprache so auf die Spitze, dass er schon wieder undeutlich wird. […] Er ist jedoch heute schon ein Erschütterer der Kulissen», schrieb der Börsencourier unter dem Titel «Schauspielertyp 1932».33 Die Vossische Zeitung bezeichnete ihn als «schöne[n] Mensch[en] mit einer Leuchte aus den Augen. Was für ein Landsmann? Spricht besser Verse als Prosa, die noch etwas Ungenaues hat.» Auch Schnyders Vermieterin, Gertrud Grünbaum, kam zu der Vorführung. Sie war so begeistert, dass sie gleich den Eltern Meldung machen musste: «Namentlich in Peer Gynt war [er] so prachtvoll. […] Da ich auch dort war, war es mir ein Vergnügen von überall zu hören, dass er gut sei. Ich habe hier nun seine ganze Ausbildung mit ihm miterlebt, sah wie fleissig er ist. Er hat wirklich viel gearbeitet, so dass ihm der Erfolg zu gönnen ist. Überhaupt können Sie stolz auf Ihren Sohn sein, er ist [ein] anständiger Mann der ganz in diesem Beruf aufgeht. […] Da er bis Abends mit Proben u. Aufführungen mit Agenten betreffend Engagement besetzt ist, kommt er nun […] nicht zum schreiben. […] Er lässt Sie ganz herzlichst grüssen und meint, sobald er kann und sobald er ein Engagement abgeschlossen hat, Ihnen [zu] schreiben und auch die Kritiken [mitzusenden].»

Lilli Palmer erinnerte sich: «Noch bevor der letzte Vorhang gefallen war, waren die zwei Dutzend ‹Vielversprechenden› engagiert, wie das meistens der Fall war. Wir stoben in alle Himmelsrichtungen auseinander, Juanita nach München an die Kammerspiele, ich nach Darmstadt ans Landestheater.» Franz Schnyder erhielt bereits vier Tage nach dem Szenenabend eine Anstellung in Mainz. Ein Angebot aus Zürich lehnte er ab. Obwohl er dort mehr Gage bekommen hätte, zog er es vor, in Deutschland zu bleiben, um sein Hochdeutsch weiter zu verbessern.34 Dass er und Juana Sujo vor ihren Engagements aber noch in ein ganz besonderes Abenteuer verwickelt wurden, dafür sorgte Stefan Schnabel, der ebenfalls mit den beiden die Schauspielschule besucht hatte.

Debüt als Filmschauspieler: «Das Kalte Herz»

Stefan und sein älterer Bruder Karl Ulrich Schnabel35 waren die Söhne des bekannten Komponisten und Pianisten Artur Schnabel. Während Stefan eine Schauspielkarriere einschlug, blieb Karl Ulrich vornehmlich in den Fussstapfen des Vaters und arbeitete bereits in jungen Jahren als Klavierlehrer. Karl Ulrich war aber auch fasziniert vom Film und besuchte regelmässig Kinovorführungen. Eines Tages entschied er, selbst einen Film zu realisieren. Sein Bruder half ihm, die passenden Darstellerinnen und Darsteller zu finden.


Im Film «Das Kalte Herz» spielte Franz Schnyder den Peter Munk: mit der gleichaltrigen Juana Sujo als seine Mutter (oben), mit Stefan Schnabel als Holländer-Michel (Mitte) und mit Elfriede Gärtner als Lisbeth (unten).


Wilhelm Hauffs Märchensammlung «Das Wirtshaus im Spessart» hatte es Karl Ulrich Schnabel so angetan, dass er im Mai 1932 die Episode «Das Kalte Herz» zu einem Filmmanuskript verarbeitete. Darin geht es um den armen Köhler Peter Munk, der sein Herz beim bösen Holländer-Michel gegen Reichtum und Ansehen eintauscht. Schon am 14. Mai fanden die ersten Probeaufnahmen statt, mit Schnabels Bruder Stefan als Holländer-Michel und Juana Sujo, die zwar gleich alt war, aber dennoch die Mutter des Protagonisten spielte. Als Peter Munk war niemand Geringeres vorgesehen, als: Franz Schnyder.

Es war seine erste Hauptrolle in einem Film, und es sollte auch die einzige bleiben. An seiner Seite spielte Elfriede Gärtner,36 die zu dieser Zeit am Landestheater in Braunschweig war und die Sommerpause in Berlin verbrachte. Schnyder und sie waren die ideale Besetzung, sie harmonierten als Filmpaar wunderbar.

Während in der Filmstadt Babelsberg Filme der grossen Produktionsfirmen hergestellt wurden und europäische Stars ein und aus gingen, drehte die junge Equipe an Originalschauplätzen rund um das Studio mit bescheidenen Mitteln, aber viel Einfallsreichtum und Improvisationsvermögen. Gedreht wurde ohne Ton auf 16 Millimeter Schmalfilm, da Tonfilmapparate damals noch sehr unhandlich und teuer waren. Obwohl Karl Ulrich Schnabel oft ins Kino ging, fand er Tonfilme nicht unbedingt besser als gute Stummfilme, die noch immer regelmässig zu sehen waren. Tonfilme fokussierten damals noch sehr stark auf die Darstellung der neuen Technologie, also auf Dialog, Geräusche und Musik, oft auf Kosten einer spannenden Handlung.

Es war ein irrwitziges Projekt, und genau das schien Franz Schnyder gefallen zu haben. Gedreht wurde, sobald die benötigten Schauspieler verfügbar waren und das Wetter stimmte, die Lokalitäten gefunden und alle Requisiten vorhanden waren. Die märchenhafte, im Schwarzwald angesiedelte Kulisse wurde in Berlin zusammengesucht. Die Crew fuhr mit dem Dampfer nach Potsdam, um einige Szenen für Peter Munks Weltreise zu drehen. Da Aufnahmen bei der Friedenskirche im Schlosspark Sanssouci verboten waren, filmte Schnabel einfach heimlich. Manchmal mussten die Aufnahmen unterbrochen werden, weil die Orte zu überfüllt waren oder ihnen das Wetter einen Strich durch die Rechnung machte, worauf sie spontan umdisponierten. Der damals 23-jährige Schnabel finanzierte das Projekt aus eigener Tasche, weshalb die Mittel sehr limitiert waren und sogar ein Besuch mit Schnyder im Theaterverleihgeschäft zu teuer war. Die Kostüme mussten also anderswo beschafft werden. Da die Schauspieler und Helfer mit Begeisterung, aber unbezahlt an Schnabels Projekt mitwirkten, konnte er sie nicht verbindlich verpflichten. Die Hauptdarstellerin Elfriede Gärtner erschien am 5. Juli 1932 einfach nicht. Von ihrer Vermieterin erfuhr der Regisseur, dass sie bei einer anderen Filmgesellschaft drehte. Am nächsten Tag war Gärtner noch immer abwesend, ohne Schnabel benachrichtigt zu haben. Als am 7. Juli auch Stefan Schnabel nicht rechtzeitig für Dreharbeiten nach Berlin zurückgekommen war, drehten sie spontan eine andere Szene in dessen Zimmer, und Franz Schnyder half eigenhändig bei den Vorbereitungen mit. Karl Ulrich Schnabel lobte die Arbeit mit Schnyder in den höchsten Tönen und beschrieb ihn als «nett, […] bescheiden u. bereit» und «begabt».


Bei den Dreharbeiten zu «Das Kalte Herz» in der Umgebung Berlins filmt Karl-Ulrich Schnabel, auf dem Fahrrad stehend, Franz Schnyder.

Kurz vor Schnyders Theaterengagement in Mainz fuhren Karl Ulrich, Stefan und Franz im Sommer 1932 in die Sächsische Schweiz, um in der einzigartigen Sandsteinlandschaft zu drehen. In diesen Szenen besucht die Hauptfigur Peter Munk den bösen Holländer-Michel und flieht, nach einer kleinen List, vor ihm. Schnyder legte dabei eine beeindruckende Kletterpartie hin, die zeigt, dass er zu dieser Zeit in körperlicher Höchstform war.

«Das Kalte Herz» schaffte es zu Lebzeiten seiner Beteiligten nie ins Licht der Leinwand. Nach mehrmaliger Kürzung durch die Bildstelle des Zentralinstituts für Erziehung – der Film galt aufgrund seines 16-Millimeter-Formats als Kulturfilm – wurde am 12. Mai 1933 interessierten Fachleuten eine Rohfassung gezeigt. Doch zu einer Einigung mit den Kaufinteressierten kam es nie, denn bereits am Folgetag machte sich die Familie Schnabel frühmorgens auf den Weg an den Comersee, wo sie den Sommer verbrachte.37 Im Verlauf des Sommers beschloss sie, wegen der politischen Situation in Deutschland nicht mehr nach Berlin zurückzukehren. Karl Ulrich reiste als Einziger wieder nach Berlin. Doch dort wurde die Situation immer schwieriger. Mit der Wahl Adolf Hitlers zum Reichskanzler begann die Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung all jener, die als Gegner des Staats deklariert worden waren. Dies hatte auch eine Lenkung und Kontrolle des kulturellen Lebens zur Folge, die ab Anfang 1933 den verschiedenen Reichskammern unter der Führung des Reichspropagandaministers oblag. Die Reichstheaterkammer, die Reichsmusik- sowie die Reichsfilmkammer waren Pflichtorganisationen, denen alle Kulturschaffenden beitreten mussten, sofern sie öffentlich auftreten wollten. Karl Ulrich Schnabel beantragte den Beitritt zur Reichsmusikkammer zweimal, wurde aber 1935 abgelehnt und verlor das Recht zur weiteren Berufsausbildung.38 Am 10. Januar 1937 gab er sein erstes Klavierkonzert in New York, wo er sich anschliessend niederliess.

Mit der Machtergreifung der Nazis sah sich auch Juana Sujo gezwungen, nach England zu fliehen, von wo aus sie nach Argentinien zurückkehrte und dort 1938 ihre Filmkarriere begann. Lilli Palmer wurde unmittelbar nach der Ausbildung im August 1932 im Hessischen Landestheater in Darmstadt engagiert. Doch auch sie stellte fest, dass es «im deutschen Leben bedenklich zu brodeln» begonnen hatte. Sie und ihre Familie dachten vorerst noch nicht an Emigration, wollten erst abwarten. In ihrer Autobiografie schildert Lilli Palmer eindrücklich, wie in Darmstadt die Männer in SA-Uniform mit der Hakenkreuzarmbinde immer mehr in den Institutionen und Gängen, aber auch im Publikum zu sehen waren, wie sie Vorstellungen unterbrachen und Menschen in «Schutzhaft» nahmen. So fuhr sie Anfang 1933 von Deutschland aus in Richtung Paris, wenig später nach London. Ilka Grüning verliess Deutschland 1938 ebenfalls, ging zuerst nach Frankreich und ein Jahr später in die USA, wo sie in mehreren nazikritischen Filmen mitspielte, unter anderem auch in Michael Curtiz’ «Casablanca» als Frau Leuchtag, ein Flüchtling.

Das erste Engagement: Mainz 1932/33

Wie viele Theater in Deutschland zu dieser Zeit steckte auch das Mainzer Stadttheater in einer Krise. Die Stadt am Rhein sah sich gezwungen, dem Bühnenpersonal Ende der Spielzeit 1931/32 zu kündigen, um eine Neuorganisation aufzugleisen. Der bisherige Intendant wurde nach Kassel berufen, und nun galt es, für die kommende Spielzeit einen Nachfolger zu finden, der die Qualität der Aufführungen wahren, aber wirtschaftlicher arbeiten konnte, da drastische Einsparungen notwendig waren. Der Mainzer Anzeiger vom 6. Mai 1932 warnte vor «Freundschafts- und Parteikandidaten», und so wurde ein Intendant gewählt, der zuvor in Zürich gearbeitet hatte, Paul Trede. Schnyder, von Trede engagiert, spielte am 18. September in Gerhard Hauptmanns «Florian Geyer» und tags darauf in Friedrich Schillers «Kabale und Liebe».

Die beiden Premieren waren für ihn persönliche Erfolge. Doch die Presse hatte nicht viel Lob übrig: «Der Ferdinand Franz Schnyders gefiel sich in übermässig lauter Deklamation. Seine Leidenschaft schien forciert, sein Schmerz und seine Verzweiflung wirkten unecht, und sein Zorn gegenüber dem grausamen Vater äusserte sich in wildem Schreien», kritisierte die Mainzer Tageszeitung.


«Hurra, ein Junge» (1932) mit Franz Schnyder im oberen Bild links sowie unten in der Mitte in «Der Bauer geht um» (1933).


Im Monatsrhythmus wurden neue Stücke einstudiert. So hatte Schnyder ab dem 6. Dezember in «Die endlose Strasse»39 eine Nebenrolle als Musketier Müller. Sie erforderte eine intensive und lange Bühnenpräsenz, da es sich um ein Ensemblestück handelte, das eine komplette Truppe während des Ersten Weltkriegs zeigte.

Ein Schauspieler wurde jedoch nicht nur jeweils in einer Inszenierung eingesetzt, sondern spielte zur gleichen Zeit in mehreren Stücken, solange sie erfolgreich besucht wurden. So hatte Schnyder beispielsweise am Dienstag, 13. Dezember sowohl die 16. Vorstellung von «Der Tor und der Tod» zu meistern als auch «Hoffmann in Bamberg».40 Die beiden Stücke wurden oft zusammen als «Kammerspiel-Abend» vorgeführt. Bei «Hoffmann» übernahm Franz Schnyder dann gar zwei Rollen: jene des Hausdieners und eines Gasts in der «Rose». Zur selben Zeit standen «Die endlose Strasse» und «Katte», worin Schnyder ebenfalls eingebunden war, noch immer auf dem Spielplan.

Auf die Festtage hin wurde «Dornröschen» ins Programm genommen, worin Franz in die Rolle des Prinzen schlüpfte. Die Prinzessin an seiner Seite war Erika Seibert. Sie hatte ihre Karriere 1928 als Tänzerin in Darmstadt begonnen und stiess bereits in der Vorsaison zum Mainzer Ensemble. Und wie im Märchen, so kamen sich die beiden auch im privaten Leben näher. Auf der Bühne waren sich Franz und Erika sehr nah, so in «Der Bauer geht um» (Franz und Christl), im Molière-Doppelprogramm «Tartuffe» (Dorine und Damis) oder in «Der Geizige», in dem Erika die Elise spielte und Franz deren Liebhaber Valère. Kein Wunder, sprang die Leidenschaft der Bühne auf die beiden über, und sie wurden auch im wahren Leben ein Liebespaar. In «Robinson soll nicht sterben»41 übernahm Seibert eine männliche Rolle und mimte einen der Kameraden von Franz Schnyders Figur Jim Drinkwater.

Seit Schnyders Ausbildungszeit hatte die Macht der Nationalsozialisten stetig zugenommen. Der Nationalsozialismus infizierte sukzessive auch Bereiche des täglichen Lebens. So musste das Stadttheater in Mainz für riesige Feiern zu Ehren Adolf Hitlers und für Spezialvorführungen für NS-Formationen wie der «Stahlhelm» herhalten. Man gründete die «Kampfbund-Bühne», eine Besucherorganisation für Mainzer, die den kostengünstigen Zutritt zu Vorstellungen des Stadttheaters ermöglichte und Ausdruck «einer Theatergesinnung des deutschen Volkes» werden sollte.42 Stücke mit propagandistischem Charakter wurden häufig in geschlossenen Veranstaltungen für Erwerbslose aufgeführt oder als Sondervorstellungen mit der hessischen Landesregierung als Gäste und in Anwesenheit der Gauleitung der NSDAP, was als besondere Attraktion in Anzeigen so vorangekündigt wurde.

Die Spielpläne wurden auf politischen Druck hin angepasst, Werke unerwünschter Autoren oder Komponisten mussten aus dem Repertoire gestrichen werden. Viele Künstler verloren vom einen Moment zum anderen ihre Anstellung. Dies schlug sich in der Qualität des Dargebotenen nieder, da die deutschen Bühnen auf namhafte Sänger, Schauspieler, Musiker und Dirigenten verzichten mussten. Stellvertretend soll ein Aushang des Hessischen Staatstheaters im nahe gelegenen Wiesbaden vom 8. April zitiert werden: «In der heutigen Besprechung […] wurde klar zum Ausdruck gebracht, dass auch im deutschen Kultur- und Theaterleben, entsprechend dem Programm des Reichskanzlers Adolf Hitler, eine Säuberung im nationalen Sinne erfolgen muss. […] Es wird […] Vorsorge getroffen werden, dass auch in allernächster Zeit das wesensfremde Geistesgut in den Theatern recht bald beseitigt wird.»43

Umgehend vom Mainzer Spielplan abgesetzt wurden Giacomo Meyerbeers «Die Afrikanerin», Jacques Offenbachs Stücke «Hoffmanns Erzählungen» und «Die Blume von Hawaii», worin Erika Seibert einen Kadetten spielte. Der Mainzer Regisseur Siegfried Nürnberger wurde als politisch unzuverlässig entlassen, weil er eine Hakenkreuzfahne vom Dach des Theaters hatte entfernen lassen.44 Am 30. März 1933 sah sich Intendant Trede schliesslich gezwungen, im «Auftrage des Führers des Kampfbundes für deutsche Kultur in Mainz» Angehörigen der jüdischen Konfession die Kündigung nahezulegen.

Das nationalsozialistische Schauspiel «Der 18. Oktober» von Walter Erich Schäfer, das anlässlich der neuen Session des Reichstags am 21. September 1932 am Mainzer Stadttheater Erstaufführung feierte, spielte auf dem Schlachtfeld der Leipziger Völkerschlacht gegen Napoleon in der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1813. Schnyder spielte anfangs noch nicht mit. Erst ab der Wiederaufnahme des Stücks am 21. März 1933 gab er den Premierleutnant Linnemann. Aus unerklärlichen Gründen tauschte er Anfang April die Rolle mit Hans Joachim Schifferdecker und übernahm dessen Fabricius; nach ein paar Vorführungen tauschten sie die Rollen wieder zurück.

Schnyder, mit der Lage in Mainz wohl nicht mehr so glücklich, bewarb sich am 8. März 1933 wieder in Düsseldorf. Nach Louise Dumonts Tod45 wurde das Schauspielhaus unter eine neue Leitung gestellt. Sein Vorsprechen beim neuen Generalintendanten blieb jedoch ohne Erfolg. Anfang April wurde in Mainz das Stück «Der Bauer geht um» von Eugen Ortner eingeführt, worin Schnyder den Sohn der Hauptfigur, den jungen Möhlbauern, spielte. Es wurde von der Presse als Volksstück abgetan, nur Franz Schnyder wurde vom Mainzer Journal gelobt: «Eine Leistung, die […] das Beste war, was unter den noch zu nennenden Namen geboten wurde, einzig und allein darum, weil hier der angehende Künstler sich einmal […] so geben konnte, wie es ganz offensichtlich seinem Sein entspricht.»

Anlässlich der Festivitäten zu Adolf Hitlers Geburtstag am 20. April 1933 nahm die Dekoration der Mainzer Innenstadt ausserordentliche Ausmasse an. Das Stadttheater veranstaltete bereits am Vorabend gemeinsam mit dem Kampfbund für deutsche Kultur eine Vorfeier. Man begann mit der Jubel-Ouvertüre von Carl Maria von Weber, danach hielt der Führer des Kampfbunds eine Festrede. Nach dem gemeinsamen Gesang des Horst-Wessel-Lieds ging «Es brennt an der Grenze», ein deutsches Schauspiel in fünf Akten von Hans Kyser unter der Regie von Paul Trede, als Erstaufführung über die Bühne. Darin ging es «um das Schicksal der deutschen Menschen, die durch die polnische Grenzziehung heimatlos, rechtlos und im Innersten in ihren Gefühlen verwirrt sind».46 Die propagandistische Darbietung wurde in den zwei folgenden Tagen wiederholt, verschwand danach vom Spielplan, bis am 13. und 19. Mai 1933 der «Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten» in das Stadttheater einlud und das Stück wieder aufführen liess. Die «Mitglieder und Freunde des Bundes [waren] der Einladung so zahlreich gefolgt, dass die Veranstalter über ein ausverkauftes Haus quittieren konnten», schrieb das Mainzer Journal. Die Aufführungen wurden mit einem festlichen Rahmenprogramm ergänzt, worin rund 100 neue Mitglieder in den Bund aufgenommen wurden, Heeresmärsche aus dem 18. und 19. Jahrhundert von der «Stahlhelm»-Kapelle vorgetragen und nach der Fahnenweihe und -übergabe eine «bemerkenswerte Ansprache» über die politische Situation gehalten wurde. Auf den gemeinsamen Gesang des «Bundeslieds» folgte dann die Theateraufführung, in der Schnyder auch mitwirkte, als der junge Falk, ein Vertriebener, und Erika Seibert als Theres, ein deutsches Bauernmädchen.

Rund eine Million Menschen nahm an den Kundgebungen zum 1. Mai 1933 in Berlin teil. Auch in Mainz folgten Tausende den Festivitäten. So war Franz Schnyder ebenfalls in den Massen auszumachen, als der Umzug durch die Kaiserstrasse und die Schillerstrasse führte. Ob er mit seinen Schauspielkolleginnen und -kollegen aus freien Stücken mitlief, ist nicht bekannt.


Angehörige des Mainzer Stadttheaters beim Umzug am 1. Mai 1933 in der Kaiserstrasse im Zentrum von Mainz. Franz Schnyder befindet sich ganz links in der Bildmitte, hinter dem Mann mit Hut.

In diesem Jahr ging es nicht mehr um die Ehre der Arbeiter. Der Feiertag wurde als Gelegenheit genutzt, braune Propaganda im Volk zu verankern. Am Abend wurde dann auch die Kundgebung in Berlin nach Mainz übertragen. Im Mainzer Journal hiess es, dass «keine Störung die einzelnen Sätze und Programmpunkte der Kanzlerrede [unterbrach], so dass die Rede überall tadellos zu verstehen war. Immer wieder wurde die Menge zu spontanem Beifall hingerissen, der sich zu brausendem Jubel steigerte, als Hitler seine Rede geschlossen hatte. Das Deutschlandlied wurde von Millionen begeistert mitgesungen.»47

Die Operette «Im Weissen Rössl», ein Potpourri aus Theater, Gesang, Musik und Tanz, war seit einem Jahr ein Riesenerfolg, nicht nur am Mainzer Stadttheater. So übernahm Schnyder ab Oktober 1932 nebst der Rolle des Bäckermeisters auch die der einen Hälfte des «Hochzeitspaars», zuerst noch mit Gretl Goldau, aber ab Anfang Mai 1933 dann mit Erika Seibert als Braut. Franz und Erika verliessen auf Ende der Spielzeit das Mainzer Stadttheater, kurz vor dessen 100-jährigem Jubiläum.

Berlin und Breslau

Den Sommer 1933 über bemühte sich Schnyder um weitere Engagements. Kurz vor seiner Rückreise in die Schweiz bewarb er sich am 13. Juni von Berlin aus beim Intendanten der Münchner Kammerspiele, Otto Falckenberg.48 Doch bis zu seinem tatsächlichen Engagement in München sollten noch einige Jahre vergehen. So kam es, dass er in der Spielzeit 1933/34 keine feste Anstellung hatte, sondern an verschiedenen Bühnen auftrat und sich weiterhin breit bewarb.

Im Berliner Komödienhaus wurde Ende September 1933 das Stück «Robinson soll nicht sterben» aufgeführt,49 das Schnyder schon aus Mainz kannte und worin er diesmal die Rolle des Tom, des ungezogenen Sohns der Hauptfigur, verkörperte. Bei seiner ersten Premiere in Berlin ausserhalb der Schauspielschule sass auch einer der bedeutendsten Theater- und Filmkritiker, Herbert Ihering, im Publikum. Kurz darauf hatte Schnyder das Glück, ihm über den Bühnenvermittler Berthold Auerbach50 vorgestellt zu werden. Er äusserte den Wunsch, einmal privat bei Ihering vorzusprechen «[…] ich erlaube mir diese Bitte nun, weil mir viel daran liegt, dass Sie mich [künstlerisch] kennen lernen», so Schnyder.51 An der Volksbühne im Theater am Horst-Wessel-Platz, unter der Leitung von Heinz Hilpert, übernahm er Ende November eine Nebenrolle im Drama «Tod in Genf» von Friedrich Schreyvogl.

Zu dieser Zeit war auch das Theaterleben in der damals noch deutschen Stadt Breslau im Wandel. Stadttheater, Philharmonie und Schauspiel wurden unter einheitliche Leitung gestellt und das Lobetheater unter neuer Intendanz als eigenständiger Betrieb aufgebaut. 1931 gründete der NSDAP-Politiker Josef Schönwälder gemeinsam mit dem Intendanten Walter Bäuerle die Deutsche Bühne Breslau. Zweck dieser Besucherorganisation war, «in Zukunft die Massen der einheitlich in deutschem Geiste geleiteten Kunst [zu] zuführen».52 Am Anfang der Spielzeit 1933/34 konnte die Deutsche Bühne nun also von ihrem «Nottheater» im kleinen Saal des Konzerthauses in das Lobetheater übersiedeln. Schnyder stiess erst Anfang 1934 zur Deutschen Bühne, als er Lanzelot Gobbo in Shakespeares «Der Kaufmann von Venedig» spielte. Der Erfolg des Stücks, das am 3. Februar Premiere feierte, sei vor allem auf die Sensation der neuen Drehbühne zurückzuführen gewesen: «Der Vorhang öffnet sich – und die Drehbühne kreist, minutenlang», berichteten die Breslauer Neuesten Nachrichten. Nebst zahlreicher Kritik wurde Franz Schnyder aber als ausgezeichneter Bewegungsschauspieler gelobt. «Wie hier die Schnellkraft der Rede den Körper mitreisst, der Sprachwitz wiederum die Gebärde beflügelt: Das ist famose Exzentrik, die über sämtliche Stränge schlägt, ohne doch aus dem Humor der Rolle zu fallen.»53

Am 21. Februar schrieb Schnyder in einem Brief an seine Eltern, dass er nun innerhalb von 14 Tagen die dritte Blutvergiftung erlitten habe. «Der Arzt sagte, dass ich Furunkulose bekäme. Jetzt stellte es sich raus, dass ich in meinem Zimmer vergiftete Wanzen (!!!) habe. Ich bin gleich ausgezogen und mietete heute hier im Park Hotel (Preis 200.– Mte mit allem: Essen, Trinkgeld). Dienstag hatte ich meine neue Premiere (Jugend zu Zweit54).» Ein schlechtes Stück, ergänzte er eine Woche später. «[U]ndankbare Rolle! Presse ist noch keine da.» Er wolle nur noch bis Sommer in Breslau bleiben. «Was ich nächstes Jahr machen werde ist noch unbestimmt, auf alle Fälle bleibe ich nicht hier (aus vielen Gründen!).»


Franz Schnyder als Lanzelot Gobbo an der Deutschen Bühne im Lobetheater Breslau, 1934.

Im April berichtete das Schlesische Monatsheft nur wenig begeistert von der Aufführung des Stücks «Jugend zu zweit», das den Zwiespalt zwischen Alt und Jung behandelt. Dass Schnyder das Werk nicht mochte und sich deshalb auf der Bühne nicht wohlfühlte, fiel dem Theaterkritiker auf: «Franz Schnyder ist nach wie vor exzentrisch festgefahren. Sein Sprechen, die Bewegungen, das Gehen, ja selbst die Hände in den Hosentaschen sind verkrampft. Das ist als Karikatur bei Gelegenheiten wie diesen vielleicht ganz nett. Aber öfter – geht es auf die Nerven.»

Das Stück «Atlantikflug»55 von N. Grieg und R. Brehms wurde in der Juli-Ausgabe des Schlesischen Monatshefts behandelt. Während die Inszenierung selbst vor allem wegen «völlig überflüssige[n] Ausbrüchen» wie Operetteneinlagen oder unnötigen Schauplatzwechseln kritisiert wurde, erhielt Schnyder nun ein Lob:«Franz Schnyder diesmal als Bugge eine grundierte und saubere Figur».

Ein Zwischenjahr in der Schweiz:

Kurtheater Baden und Stadttheater St. Gallen

Aus allen deutschen Städten, in denen Schnyder auf der Bühne stand, gab es Fotos von riesigen Versammlungen, die perfekt orchestriert waren, damit sie imposant, ordentlich und fast gefährlich eindrücklich wirkten. Der Eifer und die Begeisterung um den «Führer» verbreiteten sich – ansteckend, ja gar hysterisch. In Breslau sollte während Schnyders Theaterzeit die Jahrhunderthalle zur «Weihestätte deutscher Ton- und Liederkunst im wahrsten Sinne des Wortes»56 ausgebaut werden. Immer stärker steuerten die Nationalsozialisten den Inhalt und die Gestaltung der Spielpläne. Das Volkstheater wurde für Propagandazwecke missbraucht. Die Vorschriften und Bedingungen an die Theaterbühnen wurden immer rigoroser, das Regelwerk strikter, die Bewegungsfreiheit eingeschränkter; der Hitlergruss wurde in Körperschaften des öffentlichen Rechts und somit auch an den Theatern eingeführt und bis ins kleinste Detail vorgeschrieben.

Vielleicht war es aufgrund der politischen Situation in Deutschland, vielleicht aber wegen seiner persönlichen Unsicherheit, dass es Schnyder in der Saison 1934/35 vorzog, in der Schweiz zu bleiben und am Stadttheater St. Gallen zu spielen, derweil das Lobetheater 1935 aus baupolizeilichen Gründen geschlossen wurde. Die Sommerspielzeiten verbrachte das Ensemble des St. Galler Stadttheaters jeweils im Kurort Baden und spielte am dortigen Kurtheater. Im Mai 1934 wurde das Engagement des Direktors Theo Modes in der Presse kritisch hinterfragt. Die kommunistisch gesinnte Volksstimme stellte öffentlich Fragen an das Theaterkomitee, worin es um den aus ihrer Sicht faschistisch gesinnten Modes ging. Die Redaktion warf ihm vor, das Ensemble während der Sommerspielzeit in Baden zugunsten eines Engagements im tschechischen Eger zu vernachlässigen, aber dennoch «fürstliches Gehalt» zu beziehen. Bei den von Modes geleiteten «Wallenstein»-Aufführungen in Eger vermuteten sie «fascistische Tendenzen». Doch schwerwiegender war die Entlassung des jugendlichen Charakterdarstellers Vasa Hochmann, den die Volksstimme als «einzigen sozialistischen Schauspieler unserer Bühne»57 bezeichnete. Franz Schnyders Anstellung begann bereits im Sommer, und da er im selben Rollenfach spielte wie Hochmann, liegt die Vermutung nahe, dass er dessen direkter Nachfolger wurde. Im Rahmen der Bundesfeier im Kursaal stellte das Ensemble am 1. August die Rütliszene aus Schillers «Wilhelm Tell» nach. So kam Schnyder, als Arnold von Melchthal, zum ersten Mal in Kontakt mit der Heldensage. Am Mittwoch, 15. August 1934, hatte im Kurtheater «Lanzelot und Sanderein»58 Premiere. Das Badener Tagblatt schrieb dann gleich von einem gelungenen «Bunten Abend», da das Stück gemeinsam mit Kleists «Der zerbrochene Krug» aufgeführt wurde. «Den Lanzelot spielte eine neue Kraft: Franz Schnyder, wahrscheinlich ein guter Eidgenosse. Er spielte sehr aus- und eindrucksvoll und gab dann übrigens im nachfolgenden ‹Zerbrochenen Krug›, das sei vorweggenommen, in seiner Rupprechtrolle alle Beweise eines soliden Könnens.» Obwohl Lanzelot, Fürst von Dänemark, das Bürgermädchen Sanderein innig liebt, gehorcht er seiner Mutter und verstösst das Mädchen. Sanderein heiratet einen vorbeiziehenden Ritter, und Lanzelot wird reuig. Das kurze Stück wurde des Öfteren wieder hervorgeholt, so auch Ende März 1935, als es an einem Abend zum Thema «Volksspiele des Mittelalters» gemeinsam mit «Der Ackermann und der Tod» zur Aufführung kam, erneut mit Schnyder in der Titelrolle. «Lanzelot (Franz Schnyder) glich ganz und gar den Königssöhnen, wie wir sie aus den alten Büchern kennen», schwärmte die Zeitung Ostschweiz am 30. März 1935.


Franz Schnyder als Lanzelot in «Lanzelot und Sanderein» 1935 am Stadttheater St. Gallen.

Schnyder war in St. Gallen sehr willkommen, wie ein Text des vom St. Galler Theater herausgegebenen Anzeigers verlauten liess: «Die Rückkehr des jungen Künstlers in seine Heimat darf als erfreulicher Gewinn unserer Bühne und des Schweizer Theaters überhaupt begrüsst werden.» Dem pflichtete die Presse bei. Schnyder erhielt rundum positive Kritiken.

Am 30. Oktober 1934 schrieb sogar die Berner Zeitung Der Bund über eine Neuerscheinung auf der St. Galler Bühne. «Hans Böheim»,59 ein Stück von Emil Sautter über den ersten deutschen Bauernkrieg im Jahr 1476, wurde durchwegs gelobt. «Jeder einzelne ordnete sein Bestes ins Gesamte ein, und eine kluge Einführung berief den talentvollen jungen Schweizer Franz Schnyder zur Verkörperung der Titelrolle, die ehrlich ergriff», wobei Schnyders Darbietung hier die Kritiker entzweite. «Franz Schnyder gab dem Pauker Lebendigkeit und einen Zug von tieferer Menschlichkeit», schrieb die Volksstimme; dem widersprachen die Neue Zürcher Zeitung und das St. Galler Tagblatt: «Sehr schade war, dass der junge Darsteller des Böheim seiner Aufgabe noch nicht gewachsen war. Da spürte man wenig von Leidenschaft und Fanatismus», meinte erstere, «der Abend kam nicht über das Mittelmass hinaus», fand die zweite. Die «zur Handlung gehörende Musik» stammte aus der Feder von Paul Burkhard, mit dem Franz Schnyder in Zukunft noch eng zusammenarbeiten würde. In der Folge glänzte Schnyder auch in weiteren jugendlichen Hauptrollen, für die er oft Lob erhielt, besonders für die Vielschichtigkeit seiner Darbietungen.

Doch manchmal konnte man sich fragen, ob die Pressekritik nicht vielmehr Meinungsmache war. Betreffend Aufführung des Antikriegsstücks «Das Gerücht» nach C. H. Munro schrieb die Volksstimme: «Franz Schnyder verschluckte seine trefflichen Worte über Mord und Krieg in sinnloser Hast», womit das St. Galler Tagblatt nicht einverstanden war: «Das Publikum ging, namentlich bei Franz Schnyders vielversprechendem Spiel, willig mit.» Im Programmheft wurde erwähnt, dass die Schreibmaschinenausstattung von der Firma «C. W. Schnyder, Olivetti Vertretung, Zürich» stammte. Franz spannte also seinen Bruder Conrad mit ein, um an Requisiten für die Inszenierung heranzukommen.

Schnyders Einsatz für das Stadttheater war so überzeugend, dass er bald auch Regie führen durfte. Am Mittwoch, 12. Dezember 1934, war es so weit, und seine erste Inszenierung stand auf dem Programm: «Robinson soll nicht sterben» von Friedrich Forster60 als Schweizer Erstaufführung. Seit der Premiere 1932 in Leipzig wurde das Stück, in dem Schnyder bereits zweimal gespielt hatte, an über 50 deutschen Bühnen mit grossem Erfolg gezeigt. Es handelt von einer Gruppe von Kindern, die Daniel Defoe, dem berühmten Autor des Robinson-Crusoe-Romans, aus der Not helfen. «Das reizende Märchenspiel führt uns aus dem Alltag heraus, hinein ins Kinderland, in eine Welt, in der Robinson und sein treuer Freund Freitag die Helden sind. […] Franz Schnyder hat als Regisseur eine flotte Aufführung herausgebracht. Alle Darsteller waren mit sichtlicher Begeisterung bei der Sache, auch die drei Kantonsschüler, die als Bob, Ben und Bill ihre Freunde ‹Robinson› und ‹Freitag› kräftig unterstützten», lobte das St. Galler Tagblatt. «Ja wenn man gewusst hätte, was eigentlich am Mittwochabend im Stadttheater gespielt wurde – der Titel des Stückes sagte einem nicht viel und nicht das Rechte – […] wäre zu dieser Erstaufführung auf Schweizererde unser Stadttheater zum Brechen voll geworden, und es hätte im Parkett, in den Rängen und Logen einen donnernden Beifall abgesetzt. […] Franz Schnyder gehört für seine so gelungene Erstinszenierung eine besondere Anerkennung», lobte die Ostschweiz. Zu den kommenden Aufführungen kam das Publikum aber dann doch noch. Das Stück wurde immerhin achtmal aufgeführt, hinzu kamen noch geschlossene Schulvorführungen, die bis auf den letzten Platz besetzt waren. Schnyder konnte es nicht lassen, selbst wiederum den ungezogenen Sohn Daniel Defoes zu spielen, den dieselbe Zeitung als «famos aus dem Leben geschnitten» pries.


Franz Schnyder in «Kampf im Konzern». Das St. Galler Tagblatt schrieb am 21. Januar 1935: «Schnyder war ein energischer, kompromissfeindlicher Bernart, der die ihm fehlende Erfahrung durch rücksichtsloses Draufgängertum ersetzte.»

Das neue Jahr begann, und auch Mitte Januar 1935 standen drei Neuinszenierungen auf dem Programm, für die Schnyder ausnahmslos gute Kritiken erhielt. Lediglich die Tragikomödie «Kampf im Konzern» von Harald Bratt, worin Schnyder einen Direktor der Auslandsabteilung spielte, sorgte bei der Redaktion der Volksstimme für rote Köpfe. Während die meisten Kritikerstimmen dieses Werk lobten, als aktuell und wertvoll priesen und darin das gute Theater als einen Erziehungsfaktor ersten Ranges bestätigt sahen, warfen sie dem Inszenierenden Johannes Steiner vor, den Vertreter der Arbeiterschaft in «deutlicher Absicht als unanständige[n] Trottel hingestellt» zu haben. «Es ist schon gesagt worden, Herr Dir. Modes wähle mit Vorliebe Stücke, in denen die Arbeiter als dumme Rohlinge dargestellt werden. Ich will hoffen, dass dieser Verdacht nicht zutreffe. Herrn Dir. Modes mitschuldig zu wissen, würde mir sehr leid tun», heuchelte der Kritiker.

Mitte Februar war Theater im Theater angesagt: Schnyder spielte in der Uraufführung von «Theater in Stratford», einem historischen Lustspiel des in Frauenfeld wirkenden Schweizer Autors Hans Kriesi.61 Darin kehrt William Shakespeare von der grossen Welt in jene der kleinen Bürger zurück und inszeniert eine Aufführung im Dorf. Schnyders Rolle war die des Jonathan, Sohn eines Kirchenpflegers, der innerhalb des Stücks den Orlando mimen soll. Kriesi war stolz, dass hiermit zum ersten Mal eines seiner Werke von einer grossen Berufsbühne umgesetzt wurde. Nach der Premiere wurde im nahe gelegenen Hotel Hecht ausgelassen mit Freunden, Bekannten und Darstellern bis spät in die Nacht gefeiert.

Im Frühling kam noch mehr Stoff von Schweizer Autoren zur Aufführung, wie zum Beispiel «Schauenberg und Rackertal, oder Die heilige Vinzenzia» des Zürcher Dramatikers Arnold Kübler. Das Lustspiel spielt sich rund um ein verlottertes Landgut ab, in dem allerlei Verstrickungen zum Schluss in ungetrübter Harmonie enden. Schnyder spielte darin einen armen Studenten namens Bohnenblust, der sich in die künftige Gutsbesitzerin verliebt und dem schliesslich das Glück in den Schoss fällt. Die Kritiken waren ausgezeichnet und lobten vor allem die Leistung, das Publikum trotz der Verssprache bis zum Schluss zu fesseln.

Zum Schluss der ordentlichen Schauspielsaison durfte Schnyder das Lustspiel «Wenn der junge Wein blüht» des Norwegers Bjørnstjerne Bjørnson inszenieren. In der Komödie, die 1927 zum ersten Mal verfilmt worden war, will eine Mutter ihre drei Töchter ohne deren Mitspracherecht verheiraten. Die einzige Aufführung am Stadttheater erfolgte am Freitag, 26. April 1935, zum 25. Todestag des Autors. Das Stück selbst wurde von der Presse zwar als etwas veraltet, Schnyders Regiearbeit hingegen als sorgfältig bezeichnet.

Zum ersten Mal «Tell»

Es war wohl kein Zufall, dass in St. Gallen viele Titel auf dem Programm standen, die auch im nationalsozialistischen Deutschland zu sehen waren. Grosse Erfolge der deutschen Bühnen wurden seit jeher auch in der Schweiz aufgeführt. Doch darf man nicht vergessen, dass die Auswahl der Stücke, die in Deutschland für die Bühne zugelassen wurden, immer mehr von den Nationalsozialisten bestimmt wurde. So kam es, dass Direktor Theo Modes in Verdacht geriet, nationalsozialistisches Parteimitglied zu sein, weshalb er drei Jahre später demissionieren musste.62 Gegner kritisierten seinen ideologischen Einfluss auf Spielplan, Personalpolitik und Inszenierungen. Andererseits lobte man die Aktivität des «unschweizerischen» Direktors gerade auch in der Wahl einheimischer Werke und achtete ihn als modernen Regisseur und nach «rein künstlerischen» Kriterien handelnden Leiter. Dennoch war die Presse erstaunt, als das Theater ankündigte, noch kurz vor Torschluss der Spielsaison 1934/35 Schillers «Wilhelm Tell» zur Aufführung bringen zu wollen. Zu Beginn der Spielzeit war diese Inszenierung noch nicht erwähnt worden, weshalb man auch von einer «Nachspielzeit» im Monat Mai sprach. Wollte Modes damit in letzter Minute dem Spielplan einen noch stärkeren nationalen Schwerpunkt verleihen und damit seinen Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen, obwohl er Schweizer Stücke eigentlich nie vernachlässigt hatte? Oder reizte es ihn nun, nach der vergangenen 1.-August-Feier im Kursaal Baden, das gesamte Stück aufzuführen?

«Die Premiere von Mittwochabend vermochte unsere Bedenken zu zerstreuen. Das gewaltige Drama zog in seiner ganzen Wucht und Leidenschaft in 14 Bildern an uns vorüber. Man hatte das Gefühl, dass unendlich viel Kleinarbeit geleistet werden musste, bis man diese Geschlossenheit der Wiedergabe erreichte», schrieb das St. Galler Tagblatt. Die wichtigsten, tragenden Rollen wurden gezielt Schweizer Schauspielern übertragen: Johannes Steiner gab den Tell, Franz Schnyder den leidenschaftlichen Arnold von Melchthal und Otto Bosshard den besonnenen, ernsten Stauffacher. «Hat man je einen Stauffacher, Melchthal, Walther Fürst gesehen, die wahrer und tiefer wirkten, als diese Männer in ihrem verhaltenen, schlichtesten Wesen selbst grosse, mächtige, für den Schauspieler gefährliche Verse in einem Stil zu sagen vermochten, der einzig und allein die Tiefe des Herzens traf?», fragte die Ostschweiz gleichermassen poetisch, wie das Stück selbst es war. «Wilhelm Tell» wurde innerhalb von zwei Wochen intensiv gespielt und brachte es, manchmal gar mit zwei Vorstellungen pro Tag, auf insgesamt neun Aufführungen. Dabei wurde fast das ganze darstellerische Personal benötigt. Schnyder, vom Tell-Stoff angetan, würde sich in späteren Jahren noch öfters damit auseinandersetzen.

Rekrutenschule und Rückkehr nach Deutschland

Die in St. Gallen ausbezahlten Monatsgagen variierten von Schauspieler zu Schauspieler zwischen 300 und 740 Franken. Schnyder erhielt eine Wintergage von 400 Franken pro Monat. Obwohl in vielen Theaterhäusern über die Sommermonate Betriebsferien waren, zahlte das St. Galler Theater für die Sommerspielzeit in Baden tiefere Monatslöhne aus. Doch nicht die schlechtere Bezahlung war der Grund, weshalb Schnyder den Sommer hindurch nicht wieder im Kurtheater spielte, sondern die Militärdienstpflicht: Dass er ein wahrlich «guter Eidgenosse» war, wie er am Anfang seiner St. Galler Zeit in der Presse beschrieben wurde, bewies er spätestens im Sommer 1935, als Felix und er in die Rekrutenschule einrückten. Zu Beginn – es war ungefähr Mitte Mai – war der Dienst für beide noch recht gewöhnungsbedürftig. Die Verpflegung war erbärmlich, und die beiden waren umso dankbarer für die Pakete von Tante Johanna. «Wir sind am Abend, wenn es überhaupt Ausgang gibt, so müde, dass wir es beide mit den bürgerlichen Sitten nicht mehr genau genug genommen haben. Sonst ist aber unser Befinden prima und wir dürfen hoffen, weit reichende Leistungen im Dienste des Vaterlandes zu prestieren», schrieb Felix am 25. Juli 1935 aus dem «Dreckskaff» Tramelan, wie er es nannte. Am Schluss des Briefs ergänzte Franz, dass die besten Gedanken ja bereits von Felix geschrieben worden seien und mit vollem Magen sowieso schlecht nachzudenken sei, weshalb er nichts Weiteres mehr beizutragen habe.

Die Brüder wurden am 3. August in Biel entlassen. Aus einem gemeinsamen Brief an ihre Tante Johanna erfährt man, dass Felix ein Gesuch einreichen wollte, um gleich im Anschluss die Unteroffiziersschule zu absolvieren. Vielleicht würde es dann möglich sein, die Offiziersschule im März 1936 zu beginnen, «obschon so alte Aspiranten sonst nicht gerade gesucht sind. Der Fränzu will dann dasselbe im nächsten Jahr versuchen, weil er schon im August ins Engagement nach Münster (in Westfalen) muss.»63

Tatsächlich konnte Felix die Unteroffiziersschule gleich anhängen. Er war in Thun stationiert, als Conrad und Mutter Louise ihn am Sonntag, 15. September, besuchten, weil er keinen Ausgang hatte. In Zürich bekamen Conrad und seine erste Frau Gertrud eine Tochter, Christeli, die Louise sehr mochte. Franz war ihr Götti. Die Taufe sei erst, wenn Franz heimkomme, und das könne noch lange dauern, schrieb Louise in einem Brief.

Nach dem Militärdienst musste Franz direkt nach Münster, wo er für die Spielzeit 1935/36 als Spielleiter für die Kammerspiele an den Städtischen Bühnen tätig war. Er übernahm aber selbst auch diverse Rollen – etwa eine kleine Nebenrolle in «Peer Gynt» unter dem neu verpflichteten Oberspielleiter Wolfgang Kaehler und zur Eröffnung der Kammerspiele am 15. September in Gerhard Hauptmanns Stück «Biberpelz», das vom Münsterischen Anzeiger nicht nur Lob erhielt: «Schwach im übrigen Krüger (Hans Schille), Doktor Fleischer (Willi Molthof ) und Amtsschreiber Glasenapp (Franz Schnyder)». Am 17. Februar 1936 kam «Verlobung im Fasching» des zeitgenössischen Autors Leo Lenz zur Aufführung, worin Schnyder den Wilhelm Reb, einen Kammerdiener, spielte.

Seine Unterkunft an der Witzlebenstrasse 20 in Berlin behielt Franz Schnyder weiterhin. Die Stadt war damals, wie auch heute noch, eine Drehscheibe des kulturellen Lebens, weshalb er seine Basis dort nicht aufgeben wollte. In der Spielzeit 1937/38 fand er hier dann auch wieder Engagements, zunächst am Rose-Theater und dann am Deutschen Theater. Das Rose-Theater zeigte hauptsächlich Stücke in der Tradition des Berliner Volkstheaters, mit denen das proletarisch-kleinbürgerliche Publikum im Berliner Osten erfolgreich angesprochen wurde. Am Deutschen Theater spielte Schnyder ab Ende November 1937 unter Direktor Heinz Hilpert. Gleich an seinem ersten Abend hatte er Auftritte in zwei Stücken von Gerhard Hauptmann: zuerst als Grischka in «Elga» unter Hilperts Regie, danach als Hanke in «Hanneles Himmelfahrt» unter der Regie von Paul Verhoeven.64

Schnyder erhielt auch wieder die Möglichkeit, selbst zu inszenieren, und wurde mit dem zeitgenössischen Stück «Erntefest» von Max Halbe beauftragt, einem Autor, dessen Werke mit der Nazi-Ideologie vereinbar waren und welche die Nationalsozialisten deshalb für ihre Zwecke zu beanspruchen versuchten.65 Schnyder schrieb 1991 dazu: «1938 sollte ich eine 7stündige Hymne auf den Führer inszenieren. Gedichtet vom damals bereits senilen Max Halbe. Der Nachfolger von Reinhardt, Heinz Hilpert, scheute sich vor dieser Dreckarbeit und dachte, ein harmloser Schweizer sei da besser geeignet. […] Ich strich das Stück zusammen, verwandelte, was ‹braun› war in harmloses ‹grün›. Der enttäuschte Goebbels stellte mich zur Rede. Als ich ihn dann bat, das Prachtswerk zu lesen, war er mir sogar dankbar.» Vermutlich übertrieb Schnyder. Doch dass Goebbels persönlich im Publikum sass, wäre durchaus möglich gewesen, besuchte er doch regelmässig die Theater und hatte vor allem ein Auge auf Hilpert. Knapp anderthalb Jahre vor «Erntefest» notierte der Reichspropagandaminister in sein Tagebuch: «21. November 1936. Mit Hilpert lange Aussprache. Ich halte ihm alle Fehler des ‹Deutschen Theaters› vor. Er hat nicht genug Kontakt mit mir. Sein Ensemble leidet an geistiger Inzucht. Sein Spielplan ist zu literarisch, er hat kein rechtes Verhältnis zum neuen Regime. Er sieht das auch ein und wird sich bessern.»66

Im Februar 1938 erkrankte Franz an einer Grippe, was seine Mutter veranlasste, ihn in Berlin zu besuchen und zu pflegen. «Er hat diesen Winter wirklich jeden Augenblick etwas, wahrscheinlich weil er letztes Jahr keine richtigen Ferien gemacht hat. Dies[es] Jahr muss er sich dann wirklich gut erholen», schrieb sie ihrer Schwester Johanna. Nach seiner Genesung zeigte er ihr «die schöne Stadt und die schönen Theater», da er noch Ferien hatte. «Franz spielt an einem der ersten Theater. Wenn man hinein kommt meint man Goethe oder Schiller müsste kommen.» Franz kümmerte sich rührend um seine Mutter und widmete ihr alle seine Zeit. Bei dieser Gelegenheit erfuhr er, dass Tante Johanna ihm einen Liegestuhl zu Weihnachten geschenkt habe, weshalb er sich sofort schriftlich bei ihr bedankte und sich freute, diesen bei seinem nächsten Schweizbesuch einzuweihen. «Besuche mich mal, dann kannst Du mich auf der Bühne sehn. Auch filmen werde ich bald. Du siehst; ich mache Dir keine Schande.» Von welchem Film hier die Rede ist, erwähnte er nicht. Als Franz daraufhin, wie praktisch jeden Sommer, wieder in die Schweiz fuhr, besuchte auch seine Vermieterin Gertrud Grünbaum die Schnyders in Burgdorf.

Vor dem bedrohlichen politischen Hintergrund in Deutschland war es verständlich, dass Schnyders Freundin Erika Seibert Deutschland verlassen wollte. Ein einflussreicher Berliner namens Haberland organisierte ihr die Heirat mit einem Schweizer, der, sterbenskrank in einem Spitalbett liegend, Deutschen zur Flucht verhalf. Diese Scheinehe ermöglichte Erika, in die Schweiz zu ziehen und dort zu arbeiten. Kaum war sie angekommen, starb ihr neuer «Ehemann». Auf der Suche nach einer Anstellung stellte Franz sie seinem Bruder Conrad vor, der sie als seine Sekretärin engagierte. Conrad verliebte sich aber Hals über Kopf in Erika und liess sich für sie scheiden – eine Tat, die Franz seinem Bruder nie verzeihen würde «Du heiratest eine Hure», soll Franz Conrad vorgeworfen haben. «Wie sprichst du von meiner Frau!», habe dieser erwidert.67 Mutter Louise, die Conrads erste Frau sehr mochte, war gegen diese Verbindung, welche die Familie Schnyder schliesslich entzweite. Wann dies genau geschah, ist unklar. Da Erika Seibert 1935 in einem deutschen Film namens «Mazurka»68 spielte und auch Franz bis ins Jahr 1939 noch regen Kontakt zu Conrad pflegte, wäre ein Zeitpunkt zu Kriegsbeginn wahrscheinlich. Erst viele Jahre später nahm Felix Schnyders Ehefrau, Sigrid Bucher, den Kontakt mit Conrad und Erika wieder auf. 1975 nahm sich Conrad Schnyder das Leben;69 anschliessend führte Erika die Geschäfte der expandierenden CWS weiter.


Erika Schnyder Seibert, die Freundin von Franz Schnyder und spätere Ehefrau seines Bruders Conrad.

An den Münchner Kammerspielen

Während Schnyder die erste Hälfte der Spielzeit 1939/40 noch in Berlin tätig war, wurde er für zwei Inszenierungen als Gastregisseur an die Münchner Kammerspiele eingeladen. «Ich kann Ihnen diesen jungen und wirklich ehrlichen Idealisten sehr empfehlen», schrieb Hilpert am 6. März 1939 an Otto Falckenberg, Künstlerischer Leiter der Kammerspiele. «Er kann und ist etwas und ich würde mich besonders freuen, wenn er gerade in Ihrem Theater eine Arbeitsmöglichkeit fände, weil ich glaube, dass die freie und wunderbar künstlerische Luft Ihres Hauses ihn anfeuern, von Hemmungen freimachen und in jeder Hinsicht vervollkommnen wird.»

Schnyder war vom wohlwollenden Empfang und der künstlerischen sowie freundlichen, menschlichen Atmosphäre der Kammerspiele begeistert. Er bereitete sich voller Vorfreude auf die Proben von Erich Ebermayers70 «Romanze – Spiel um drei Generationen» aus dem Jahr 1936 vor, wozu er mit Falckenberg und dem geschäftlichen Direktor Waldeck fleissig über Besetzung und Bühnenbild korrespondierte. Dabei waren sie sich nicht immer einig.

«Ich habe übrigens bei meinem Telefongespräch mit Herrn Direktor Waldeck für die ‹Victoria› Frau Karin Evans empfohlen. Ich wäre Ihnen herzlich dankbar, wenn Sie die Dame empfangen würden. Sie hält sich Morgen ganz unverbindlich auf der Durchreise nach Italien in München auf.» Evans hatte bereits in Berlin unter Schnyders Regie gespielt. Das Treffen in München kam zustande, woraufhin die Schauspielerin verpflichtet wurde. An Falckenberg schrieb er: «Ich hoffe nun, dass ich (bei aller Mühe, die Ihnen bis jetzt aus meiner Verpflichtung erwachsen ist), die Kraft habe, eine Inscenierung zu machen, die künstlerisch persönlich und klar ist, dass Sie eben meine Verpflichtung nicht zu bereuen brauchen.»

Bereits zu Beginn von Schnyders Zeit als Gastregisseur entschloss sich die Leitung der Kammerspiele, ihn vom 1. September 1939 bis einschliesslich 31. August 1940 als Ersten Spielleiter zu verpflichten, sofern Direktor Hilpert ihn freigeben würde. Am 28. April bedankte sich Falckenberg bei Heinz Hilpert: «Herr Schnyder scheint mir eine leichte, bestimmte und zielbewusste Art zu haben, die scenischen Dinge zu sehen und zu behandeln und wenn ich nicht irre, so könnte er wohl die schon seit Jahren an unserm Theater bestehende Lücke ausfüllen. Ich möchte Sie daher bitten, Herrn Schnyder die Möglichkeit einer dauernden Verbindung mit unserm Hause zu gewähren», und bat ihn, Schnyder aus dem Vertrag zu entlassen. Doch so einfach gab Hilpert seinen Spielleiter nicht her: «Selbstverständlich wird Herr Schnyder von mir zu Ihnen beurlaubt mit der auch von Ihnen schon genehmigten Möglichkeit, dass er ein bis zwei Inszenierungen am Deutschen Theater in Berlin macht. […] Natürlich würde ich in einem Falle, wo Sie ihn dringendst benötigen, mit meinen Terminen auf Ihre Dispositionen die grösstmögliche Rücksicht nehmen.»

Erfolgreiche Gastinszenierungen

«Romanze» ist die Geschichte zweier Familien, deren Kinder sich über zwei Generationen jeweils unglücklich ineinander verlieben. «Erst in der dritten Generation findet sich das zum ewigen Bunde, was in der ersten schon zusammen wollte», stand im Programmheft. Das Stück war als Kritik an all denjenigen gedacht, die Profit der Liebe vorziehen und damit das Leben unwert machen. «Sowohl der Spielleiter wie auch der anwesende Autor konnten viele Male sich hinter dem wiederaufgehenden [Vorhang] dem sehr freundlichen Beifall der Zuschauer freuen», schrieb die Münchner Zeitung. «Auch sonst liess es die Regie an nichts fehlen. Die Darsteller, soweit sie die Altersabstände von 1892 bis 1932 […] überbrücken wussten, hatten kein leichtes Spiel», lobte das 8 Uhr-Blatt. «Die Stärke des Spielleiters [Franz Schnyder] scheint die Stellungsregie zu sein. Überraschend diese jähen Linien aus Menschen, diese Diagonalen! […] Trefflich jeder im Zusammenspiel», schrieb die Kölner Abendzeitung. «Die Aufführung […] war überwältigend gut in ihrer Dichtigkeit, Härte und inneren Hitze», schwärmte das Abendblatt. Selbst das publizistische Parteiorgan der NSDAP, der Völkische Beobachter, fand praktisch nur lobende Worte für Schnyder und seine Inszenierung.

Nach der Premiere reiste Franz Schnyder zur Erholung für ein paar Tage zu seinen Eltern nach Burgdorf. Postalisch erhielt er dort das Buch zum Stück «Im sechsten Stock». «Die Stellprobe ist auf den Freitag 12. Mai festgesetzt und [wir legen] grossen Wert darauf, dass die Premiere am Pfingstsonntag, den 28. Mai stattfindet», schrieb Direktor Waldeck am 5. Mai 1939. «Sollten Sie aber schon am Pfingstsamstag mit dem Stück herauskommen können, wäre uns dies besonders lieb, da erfahrungsgemäss, wenn zu Pfingsten schönes Wetter ist, […] an diesem Tag nur Herr Schnyder und das Ensemble anwesend ist», scherzte er und fügte an, dass Schnyder genau 13 Bühnenproben zugesprochen würden. Dieser hatte natürlich wieder einiges an der vorgeschlagenen Besetzungsliste auszusetzen und verlangte gleichentags Änderungen. Er werde am 10. Mai um vier Uhr per Flugzeug in München ankommen und wäre sehr dankbar, wenn er gerade zu dieser Zeit das Bühnenbild besprechen könnte. Bei Direktor Waldeck beklagte er sich zudem, dass die Tagesspesen von 20 Reichsmark nicht ausgereicht hätten, weshalb er eine Erhöhung auf 25 Reichsmark erbat. Doch Schnyder erhielt weder die verlangte Spesenerhöhung noch konnte er seine Besetzungswünsche umsetzen, was ihm Falckenberg in einem Begrüssungsbrief detailliert begründete.

Das Angebot eines festen Engagements in München stand plötzlich auf der Kippe. Durch ein Missverständnis oder ein Gerücht hatte Otto Falckenberg den Eindruck, dass Schnyder an den Proben persönliche Vorlieben ausspielte, sich gegen ihn aufspielen und schlecht über ihn reden würde. Dieser Vorwurf beschäftigte Schnyder so sehr, dass er den Intendanten bat, auf eine Verpflichtung in der kommenden Spielsaison zu verzichten. «Sie haben mir mit völligem Recht gesagt, dass, wenn ich ein ‹Sklavenhändler› und kein Kamerad sei, Sie die Mitglieder ihres Ensembles ‹von mir zu schützen haben›. Ich bin aber auch wiederum überzeugt, dass Sie niemals und unter gar keinen Umständen als überlegener und reifer Künstler einen solchen Vorwurf, der mich völlig aus dem Gleichgewicht gebracht hat, gegen mich erheben können, wenn nur ein oder zwei Mitglieder mit so schweren Klagen zu Ihnen kommen, sondern es wird bestimmt ein überwiegender Teil des Ensembles gewesen sein.» Er bat deshalb um eine Aussprache vor versammeltem Personal, um sich rechtfertigen zu können.

Tatsächlich war Falckenbergs Kritik aber nicht auf Rückmeldungen seitens der Darsteller zurückzuführen gewesen. Im Gegenteil: Hedwig Wangel, eine ältere Darstellerin, schrieb an Falckenberg, dass sich die Schauspieler keineswegs durch Schnyders Art benachteiligt gefühlt hätten. Vielmehr sei es grossartig gewesen, was er aus ihnen habe herausholen können und welchen lebendigen Zug er in das Stück gebracht habe. Umso mehr seien sie erstaunt, dass er nun von ihm, Falckenberg, eine Rüge erhielt. «Es wäre echt schade – wenn Herr Schnyder nicht bei uns bliebe – und wahrscheinlich lag es auch gar nicht in Ihrer Absicht – ihn so tief zu deprimieren, wie er es empfindet. Seine Inszenierung dieser Bücher wird es Ihnen ja zeigen, mit welcher Authentizität er mit uns gearbeitet hat & was wir Alle durch ihn gelernt haben. Herr Falckenberg – er ist 29 Jahre alt – also – so gesetzt – so abgeklärt – kann er ja noch gar nicht sein! Er glüht eben – das ist prachtvoll zu sehen!!»

Falckenberg rechtfertigte sich am 23. Mai mit jeweils einem Schreiben an Schnyder und Wangel. Er liess Schnyder wissen, dass sich ein Mitglied sehr für sein Verbleiben an den Kammerspielen eingesetzt habe. Gleichzeitig betonte er, dass es ein Irrtum oder eine falsche Behauptung sei, dass sich ein Mitglied im Namen des Ensembles beschwert habe. Dementsprechend lehnte Falckenberg eine Aussprache mit dem Ensemble ab. «Es handelt sich für mich nicht darum, ob Sie von den Schauspielern, mit denen Sie augenblicklich arbeiten, anerkannt oder abgelehnt werden, sondern es handelt sich [n]ur einzig darum, ob ich als verantwortlicher Leiter dieses Theaters glaube, in Ihnen die Persönlichkeit gefunden zu haben, mit der ich […] reibungslos arbeiten kann», schrieb Falckenberg an Schnyder. Hinter seinem Vorgehen stand offensichtlich Kalkül, denn gegenüber Wangel gab er zu, dass er Schnyder engagiert habe, obwohl ihm klar gewesen sei, dass dieser nicht der Typ war, mit dem eine reibungslose und gleichwohl fruchtbare gemeinsame Arbeit gewährleistet sein würde. «Ich tat es lediglich, weil ich aus verschiedenen Aussprachen mit ihm und auch an der intensiven Art seiner Arbeit eine Kraft zu erkennen glaubte, die für unser Theater wertvoll werden könnte. […] Nun haben sich inzwischen Schwierigkeiten ergeben, die ich aus den oben angedeuteten Gründen leider voraussah», gestand Falckenberg. «Dass Herr Schnyder eine Reihe von Taktlosigkeiten begangen hat, die mich verletzten, ist daneben kaum erwähnenswert. […] Weniger erfreulich ist schon, dass er während der Probenarbeit private Antipathien […] wirksam werden liess. Ich halte das für einen der schwersten Fehler eines echten Regisseurs.» Doch Wangel vermutete, woher diese Ansicht kam, und wollte Falckenberg in einem mehrseitigen Brief über ein mögliches Missverständnis aufklären. Schnyder habe es doch gar nicht nötig gehabt, schlecht über Falckenberg zu reden, denn er habe ja gerade wegen seiner Bewunderung für ihn am Theater arbeiten wollen. Er sei wirtschaftlich nicht auf den Platz angewiesen, da er noch in Berlin engagiert sei. «So kann ich nur hoffen, dass es alles zu einem happy end – kommt, denn selbst Nietzsche sagte es: ‹Soll ein Band nicht reissen – muss man erst drauf beissen!›», scherzte Wangel.

Schnyder war erstaunt, dass es sich bei den Äusserungen Falckenbergs bloss um Vermutungen handelte. Dennoch lenkte er wieder ein: «Da es für mich als Regisseur von ausschlaggebender Bedeutung ist, kameradschaftlich mit dem Ensemble zusammenzuarbeiten und da ich nunmehr auch aus Ihrem eigenen Schreiben, das Sie an [ein] mir unbekanntes Mitglied richteten, ersehe, dass sich sogar Mitglieder des Ensembles für mich einsetzen, sehe ich wieder jede Möglichkeit für eine wertvolle Arbeit für mich gegeben.» Eine Weiterarbeit war für ihn aber nur möglich unter folgenden Bedingungen: «[E]ine eindeutige Erklärung mir gegenüber, ob Sie die in dem Schreiben vom 23.5.39 an ein unbekanntes Mitglied des Ensembles gerichteten beleidigenden Vorwürfe, insbesonders den der Taktlosigkeit, den ich hätte während der Probenarbeit private Antipathien wirksam werden lassen usw. aufrechterhalten oder zurücknehmen. Die gleiche Erklärung bitte ich bezüglich der von Ihnen Herrn Direktor Waldeck gegenüber geäusserten Bemerkung, ich hätte Frau Hanna Mertens auf der Probe mit unanständigen und beleidigenden Äusserungen bedacht.» Zum ersten Mal schrieb er nun in einem Brief die obligatorische Grussformel «Heil Hitler».

Weitere Korrespondenz in dieser Angelegenheit ist im Münchner Stadtarchiv keine mehr vorhanden. Offenbar hatten die beiden eine Aussprache, und Schnyder brachte «Im sechsten Stock» des Westschweizers Alfred Gehri zu grossem Erfolg. Hedwig Wangel erhielt Szenenapplaus. «Der unerschöpfliche Beifall dürfte auch mit zuerst dem so bewährten Gastregisseur Franz Schnyder gegolten haben, der die leisen wie die lauten Töne einzusetzen wusste und der sich mit der Schar des 6. Stockes zum Beschluss sehr oft noch zeigen musste», rühmte die Münchner Zeitung am 5. Juni 1939.


Franz Schnyders Inszenierung von «Im sechsten Stock» (1939) an den Münchner Kammerspielen überzeugte mit einem für die damalige Zeit ungewöhnlichen Bühnenbild.

Gemeinsam mit dem Bühnenbildner Eduard Sturm hatte sich Schnyder auch hier eine besondere Bühnengestaltung ausgedacht. «Betritt man den Zuschauerraum, den kein Vorhang wie sonst und gewohnt von der Bühne trennt, so sind wir gleichsam Mitbewohner des sechsten Stockwerkes», beschrieb die Volkszeitung vom 7./8. Juni das Theatererlebnis. Das ungewöhnliche Bühnenbild zeigte die Wohnräume im obersten Stock, von denen eine Wendeltreppe, vorbei an Dachschindeln, zu den unteren Stockwerken hinabführte.

In einem Interview sagte Schnyder: «Wie ein Märchen denke ich es mir, oder wie ein Träumen. Man kommt herein, setzt sich nieder und schaut in diese offen daliegende Welt des sechsten Stocks, schaut ins bunte Spiel des liebe- und ränkereichen Lebens dort, schwingt mit im Gefühl warmer Menschlichkeit, die alles Schicksal hier oben bindet.» Die Hauptrolle würde der sechste Stock selbst spielen, alles andere seien gleichwertige Rollen. «Jeder Schauspieler möchte, wenn er sich wünscht, lebensvolles und echtes Theater zu spielen, einmal eine solche Rolle verkörpern, wie sie hier im sechsten Stock von den zehn Menschen […] vorgelebt wird. Und das ist der Reiz des Stückes, wir spielen eigentlich einmal auch für uns selbst, wir spielen uns aus, denn dazu gibt das Stück beglückende Möglichkeiten; die Atmosphäre ist hier alles, sie verträgt kein erzwungenes Formen. […] Die Menschen des Stücks sind kleine Sterne am Himmel des sechsten Stockes irgendwo auf dem Montmartre – sous les toits de Paris.» Dass die Darstellerinnen und Darsteller Freude am Spiel hatten, fiel einem Kritiker auf: «Und weil das Spiel den Schauspielern so sichtlich gefällt, gefällt es den Zuschauern noch viel besser.»

Auch Franz Schnyders Vater Max und Bruder Felix, die ihn zur Premiere in München besuchten, gefiel das Stück. Die beiden waren sehr stolz auf ihn, wie sie Mutter Louise berichteten, und alle drei bedauerten, dass sie nicht dabei sein konnte. Sie befand sich zu dieser Zeit mit einer Depression in der Klinik im bernischen Kehrsatz. Mitte Mai schrieb Louise an Conrad: «Ihr kommt nach Hause, es ist keine Mutter da. Zum Vater schaut auch niemand mehr. Kann man sich da etwas traurigeres denken als unsere Haushaltung? Vor einem Jahr war noch alles gut und jetzt sind wir alle so bitter bös daran.» Felix, Conrad, Max und auch Franz versuchten, sie mit Briefen aufzuheitern. Selbst die gute Frau Grünbaum, Franz’ Vermieterin in Berlin, schrieb ihr ein paar nette Zeilen.

Ein gescheitertes Engagement

Franz Schnyder erzählte im hohen Alter, dass er nie vorhatte, Schauspieler zu bleiben.71 Er liebäugelte bereits während seiner Zeit in Deutschland damit, in Kinoproduktionen mitzuwirken, und beantragte bereits 1936 die Aufnahme in die Reichsfilmkammer, die ihm auch gewährt wurde. Er liess sich als Schauspieler und Spielleiter registrieren. Das Theater-Tageblatt schrieb im Artikel «Die Bühne als Kraftquelle des Films», dass die meisten Leute über das Theater zum Film kämen und im Schnitt jeder neue Film drei Anfänger herausbringe. «Auch in die Front der Regisseure sind die vom Theater kommenden Leute aufgerückt. […] Hans Deppe, […] Veit Harlan, […] Carl Boese.» Vielleicht hat dieser allgemeine Trend Schnyder darin bestärkt, an seinem Vorhaben festzuhalten. Kurz nach der Premiere von «Im sechsten Stock» schrieb er am 7. Juni 1939, dass er nach Berlin gefahren sei, um Verhandlungen für einen Film zu führen, den er in einem Jahr drehen sollte. Aus dem Projekt wurde wohl nichts, da er am 4. Juni 1940 aufgefordert wurde, seinen Mitgliederausweis Nr. 8898 zurückzugeben, weil er in den vergangenen zwei Jahren seine «Filmtätigkeit als Film-Spielleiter-Anwärter» nicht wahrgenommen habe.72

Im Juni 1939 erhielt Schnyder endlich seinen Vertrag, in dem er von Hilpert für ein fixes Engagement an die Münchner Kammerspiele ausgeliehen wurde. Hierfür musste er bestätigen, dass er rein arischer Abstammung war und, eingeschlossen die vier Grosseltern, keinerlei nichtarische Vorfahren besass. Für die Spielzeit 1939/40 sollte er als Erster Spielleiter wirken. Sein Lohn betrug nun schon 750 Reichsmark brutto pro Monat. Bei der Unterzeichnung musste er auch den Sonderbestimmungen der Kammerspiele zustimmen. So durfte er etwa die Stadt ohne Urlaubsschein nicht verlassen.


Porträts von Franz Schnyder aus seiner Münchner Zeit, um 1939.

Nach dem Wechsel der Münchner Kammerspiele in den Besitz der Stadt konnte die Spielstätte an der Maximilianstrasse umgebaut werden – und zwar nach den persönlichen Anweisungen Adolf Hitlers. Der Innenraum, der gemäss Hitler in der «derzeitigen Verfassung entsetzlich» sei, würde der hohen Qualität der Aufführung nicht entsprechen und müsse dringend renoviert werden. Hitler gab sehr direkte und genaue Anweisungen für die Neugestaltung, welche die Besucher beeindrucken sollte. Für die einjährige Renovierungsphase zog man in das Variété-Theater Colosseum, dessen Lage aber allgemein als schwierig beurteilt wurde. Es war etwas abseits gelegen, und der Weg dorthin war aufgrund der Verdunkelung sowohl für die Besucher, aber auch für die Schauspielerinnen sehr umständlich und gefährlich. Umso mehr sollte in der Presse positive Stimmung zu diesem einjährigen Provisorium verbreitet werden. Deshalb produzierten die Kammerspiele eine Spezialausgabe ihres Werbehefts, das das Publikum auf möglichst humorvolle Weise auf die räumliche Veränderung vorbereiten sollte. «Lieber Herr Schnyder! Wir haben zwar für unser Propagandaheft schon ein Bild von Ihnen, das ich seinerzeit vorsorglich zurückbehalten habe. Aber es ist uns zu ernst. Wir machen nämlich ein komisches Propagandaheft – seit ‹Im 6. Stock› werden bei uns nur noch komische Dinge gemacht. […] Alle Schauspieler erscheinen nur in Liebhaberfotos irgendwelche für sie symbolische Gegenstände mit sich schleppend. Bitte senden Sie mir sofort auch ein derartiges Bild von sich, das ganz irr sein darf – wenn auch in Grenzen!», wurde er von der Theaterleitung aufgefordert.

Bereits im Sommer 1939, den er wie gewohnt in Burgdorf verbrachte und von wo aus er gelegentlich Bergtouren unternahm,73 besprach er sich schriftlich mit Falckenberg über die zu inszenierenden Stücke. Im Juli erhielt er «Die gefesselte Phantasie» zur Lektüre, ein Zauberspiel in zwei Aufzügen von Ferdinand Raimund. Gegenüber Falckenberg gab er zu bedenken, ob dieses Stück nicht doch zu harmlos und «kindlich-verspielt» sei, um dem heutigen Publikum zu gefallen. Falckenberg wies darauf hin, dass es Aufgabe der Regie sei, das Werk entsprechend zu inszenieren, und überliess deshalb ihm die Entscheidung, ob er nicht lieber «Der Arzt am Scheideweg» übernehmen wolle. Jedoch würde Friedrich Domin, der darin die Hauptrolle spielte, gerne selbst Regie führen. Schnyder präferierte «Die gefesselte Phantasie», da er Domin nicht kränken wollte. Daraus wurde jedoch nichts. Am 9. August bat ihn Direktor Waldeck, die Regie von «Mensch und Übermensch» zu übernehmen. «Seien Sie uns nicht böse, dass es nun mit der Regie von ‹Die gefesselte Phantasie› nichts geworden ist. Intendant Falckenberg möchte sie selbst gerne gemeinsam mit Herrn Wery, der sich als Bayer ungemein gerade für dieses Stück interessiert, machen.» Doch auch «Mensch und Übermensch» wurde aus verschiedenen Gründen fallen gelassen. «Über unsere weiteren Pläne, insbesondere auch mit Ihnen, erhalten Sie Nachricht sobald Herr Intendant Falckenberg und Herr Direktor Waldeck wieder aus ihrem Urlaub zurück sein werden», liess ihn Chefdramaturg Wolfgang Petzet wissen.

Auch nach den Ferien Waldecks und Falckenbergs herrschte Funkstille. Obwohl Schnyders Vertrag am 1. September 1939 in München begonnen hätte, reiste er wieder zurück in die Schweiz, da er von München noch nichts vernommen und auch in Berlin nichts mehr zu tun hatte. Erst am 19. Oktober erhielt er die Aufforderung, nach München zu kommen, da die Stellprobe für «Schuss im Rampenlicht» auf Ende Monat festgelegt worden war und Falckenberg ihn als Regisseur bestimmt hatte.

Es sollte für Schnyder in München zu keinem Auftrag mehr kommen. Später sagte er oft, dass der Krieg seine Karriere in München beendet habe. Doch waren es vielmehr sein Stolz und die Differenzen mit Falckenberg. Zwar erhielt er regelmässig seinen Lohn; kreativ tätig sein konnte er jedoch nicht. Das Hin und Her der Kammerspiele bewog ihn wohl dazu, sich nach weiteren Möglichkeiten umzusehen und Regieaufträge in Zürich anzunehmen. Am 26. Oktober 1939 war ein Telegramm aus München in die Schweiz unterwegs, adressiert an «Franz Schnyder, Schauspiel, Zürich: Bestätigen telefonische Vereinbarung, wonach Ihr Vertrag ab 1. November gelöst ist. September und Oktober-Gage wird von uns bezahlt.» Das Telegramm konnte aber nicht übermittelt werden, da die Telegrafenverbindung unterbrochen war. Was auch immer genau geschehen war – Schnyder kam dann später doch noch zur Besinnung und schrieb am 19. November 1940 von Zürich aus an Falckenberg: «Sie haben mir einmal prophezeit, ich würde beim Film landen. Diese Prophezeiung ist in Erfüllung gegangen; ich mache gegenwärtig meinen ersten Film. Aus diesem Anlass heraus fühle ich mich gezwungen, Ihnen zu schreiben. Und zwar einzig und allein aus dem Grunde, weil ich Ihnen gegenüber ein sehr schlechtes Gewissen habe. Was mich bei der ganzen Geschichte beruhigt, ist nur, dass ich allein der Leidtragende bin. Ich denke sehr ungern an meine Münchner Zeit zurück, weil sie eng verbunden ist mit meiner Riesen-Dummheit. Ich hätte an Ihrem Theater die Möglichkeit gehabt, in jeder Beziehung künstlerisch und menschlich zu reifen: diese Möglichkeit habe ich mir selbst genommen und das werde ich mir nie verzeihn. Nicht dass ich mich in einer Notlage befinde; im Gegenteil: financiell ist es mir noch nie so gut gegangen wie jetzt. Aber umso mehr bin und kann ich objektiv sein und Fehler erkennen, aus denen ich zwar viel gelernt habe, die ich aber leider leider nicht gut machen kann. Sehr verehrter Herr Intendant! Ich kann Sie zwar nicht bitten, mein damaliges Gebaren zu verstehn – ich kann es heute selbst nicht mehr verstehn –, aber eines muss ich Sie bitten, mir, so weit es Ihnen möglich ist, meine Fehler nicht mehr nachzutragen.»74 Vielleicht war es die Reue über die verpatzte Chance und die Bosheit gegenüber sich selbst, weshalb er sich später einredete, die politische Situation sei Grund für seine Heimkehr gewesen.75

Vielleicht hatte Schnyder aber auch gerade Glück, wieder in die Schweiz gekommen zu sein, denn die Lage an den Kammerspielen verschlechterte sich. «Der Krieg […] bestimmte mehr noch als die Erfahrungen mit der behelfsmässigen Wirkungsstätte des Kolosseums manche wesentliche Umstellung und Änderung des angekündigten Spielplans», war im Völkischen Beobachter im Juli 1940 zu lesen. Immerhin konnte man am 12. Februar 1940 wieder in das modernisierte Schauspielhaus zurückkehren. Doch der Krieg verschlimmerte die Arbeitsbedingungen, und der grosse Kleider- und Kostümmangel war nur eine der vielen Sorgen der Schauspielerinnen und Schauspieler. Die Situation am Schauspielhaus Zürich war gewiss besser.

Rückblickend sagte Schnyder in den 1970er-Jahren,76 dass die Nazis ihn in künstlerischer Hinsicht nicht eingeschränkt hätten. «Das Deutsche Theater und die Münchner Kammerspiele waren ‹Inseln im Sturm.›» Diese Aussage mochte für ihn persönlich vielleicht stimmen, weil er nicht direkt miterlebt hatte, was in den Büros der Direktion geschah oder es ihn schlicht nicht interessierte. Der Einfluss der Nazis auf die Spielplangestaltung – in München ja gar in die baulichen Massnahmen – war offensichtlich, aber solange er die vorgegebenen Stücke frei inszenieren konnte, schien ihn das Geschehen nicht sonderlich beunruhigt zu haben – oder er ignorierte es einfach. 1991 schrieb er: «Die Theaterleute waren ja alle keine Nazis. Doch Op[p]ortunisten – dazu feige. Sie wollten doch gefeierte Stars sein – und da lässt man Gewissen Gewissen sein.»

Rückkehr in die Schweiz

In diversen Texten liest man, und Schnyder sagte es öfters auch selbst, dass der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sein Engagement an den Münchner Kammerspielen vereitelt habe und er zurück in die Schweiz gekommen sei, um in den Militärdienst einzurücken. Probenzettel und Aufführungsanzeigen widerlegen diese Begründung jedoch. Denn zum einen ging er in der zweiten Hälfte des Jahres 1939 direkt ans Schauspielhaus Zürich, wo er regelmässig inszenierte. Auch wenn er bei den Aufführungen, in denen er nicht Teil des Schauspielensembles war, nicht jedes Mal anwesend sein musste, brachten die Inszenierungen doch viele Probentermine mit sich. Zum anderen fanden die Dreharbeiten zu «Gilberte de Courgenay» im Februar und März 1941 statt, also musste er sich spätestens ab Herbst 1940 mit den Vorbereitungen beschäftigen. Somit blieb nicht viel Zeit für Militärdienst. Es könnte höchstens sein, dass er während der Sommerpausen seiner Militärpflicht im Rahmen der obligatorischen Wiederholungskurse nachkam, doch diese hätten ein Engagement in Deutschland nicht verhindert. Wegen des Kriegs zurückzukehren, um seinem Vaterland zu dienen, hört sich natürlich im Nachhinein besser und heroischer an und ist auch nicht grundsätzlich falsch. «Ich musste einrücken. Und ich bin gerne eingerückt. Die Schweiz schien mir ein Paradies. Keine Nazis, jeder konnte seine Meinung sagen und frei leben. Und jeder musste natürlich auch seine Pflichten gegenüber dem Staat erfüllen.»77

Franz Schnyder liess sich in Zürich an der Hottingerstrasse 30 nieder, wo er die kommenden acht Jahre gewohnt hat.78 Die Zeit am «Pfauentheater», dem Aufführungsort des Zürcher Schauspielhauses, war von entscheidender Bedeutung. Hier traf er viele berühmte jüdische und systemkritische Bühnenkünstler, die seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten aus dem Deutschen Reich geflohen waren und mit denen er später noch oft zusammenarbeiten sollte. Schauspieler wie Heinrich Gretler, Therese Giese, Anne-Marie Blanc, Erwin Kohlund, Leopold Biberti – aber auch Regiegrössen wie Leonard Steckel oder Leopold Lindtberg, den Musiker Paul Burkhard, den Bühnenbildner Teo Otto und den Dramaturgen Kurt Hirschfeld. Mit der Annexion Österreichs 1938 hatte eine zweite grosse Emigrationswelle eingesetzt. Zürich entwickelte sich damit zum rettenden Hafen der Elite deutschsprachiger Kultur, deren Vertreterinnen und Vertreter der Stadt eine blühende Ausstrahlung verliehen, auch wenn sie zum Teil nur auf der Durchreise waren. An seiner neuen Wirkungsstätte konnte sich Franz Schnyder einer äusserst hochkarätigen Truppe anschliessen, die nicht nur das schweizerische Theater-, sondern auch das Filmgeschehen entscheidend mitprägte.

Bereits am 2. November 1939 feierte Schnyder seine erste Premiere in Zürich. Es handelte sich um das Stück «Das schöne Abenteuer», das er ein Jahr zuvor in Berlin inszeniert hatte. Nachdem er am Stadttheater Basel «Cäsar und Cleopatra» nach George Bernard Shaw und am Stadttheater Bern Goethes «Egmont» inszeniert hatte, konnte er nach der Sommerpause wieder in Zürich arbeiten und spielte dabei auch selbst. Am 10. Oktober 1940 feierte «Die Fassade» von Robert Faesi Premiere, worin er den Jakob Rütschi verkörperte. Daraufhin folgte am 2. November «Der Soldat Tanaka». Das Stück des in der Schweiz lebenden deutschen Autors Georg Kaiser ist in Japan angesiedelt und handelt von einem Soldaten, der in sein Dorf zurückkehrt. Der Autor entlarvt den japanischen Militarismus und thematisiert ganz allgemein die Ohnmacht und das Elend von Unterprivilegierten in einem kriegerischen Regime. Werk und Inszenierung erhielten gute Kritiken. Auf Druck des japanischen Gesandten in Bern, Yutaka Konagaya, wurde jedoch von der Schweizer Bundesregierung auf das Schauspielhaus eingewirkt, das Stück abzusetzen. Am 9. November sagte die Direktion dies zu, jedoch konnten die Vorstellungen vom 10. und 12. November nicht mehr abgesagt werden. Kaiser war über die Absetzung äusserst verbittert, starb am 4. Juni 1945 in Ascona und sollte die Erstaufführung in Deutschland, wenige Jahre später, nicht mehr erleben.79

Franz Schnyder

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