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Kapitel 1 – Flucht in die Schattenwelt
ОглавлениеOskar und Lilly
Der Himmel glühte in kaltem, fast schwarzem Violett. Nacht in der Schattenwelt. Eine durchsichtig blasse Sichel am Himmel erhellte die Umgebung kaum. Sie legte nur eine Ahnung von Licht über graue Mauern, totes Felsgestein und die Lehmhütten, die sich an den Fels krallten. Hohl und geisterhaft wirkte die Nacht.
Oskar sah sich bang um. Er war nie zuvor in der Schattenwelt gewesen. Der junge Glitter kannte nur die Lichte Welt. Er hielt Lilly, eine zierliche Hexe, umfangen. Sie hielten einander fest, wie zwei erschrockene Kinder.
Lilly war schon einmal in dieser unheimlichen Welt gewesen und wusste, dass es ihr nicht gefallen würde hier zu leben. Sie sehnte sich nach den Feldern der Mandragora, aus denen sie geboren war und zu denen sie zurückkehren sollte. Lieber ungeboren in den Armen der Alraunen, dem Schatten des Mondes und im Schoß der Erde, ihrer Mutter, als lebendig in dieser kalten Welt, dachte sie.
Oskar fürchtete sich, weil er das kränkliche Licht der blauen Sichel zum ersten Mal sah.
Lilly wand sich aus Oskars Umarmung. „Wie heißt du?“
Neugierig sah sie in sein grünes Gesicht, das im phosphornen Licht eine geradezu beängstigend fahle Farbe annahm.
„Ich bin Oskar. Du bist so hübsch“, fügte er stotternd hinzu. „Ich wollte nicht, dass sie dich zurück in die Erde schickt. Manchmal ist Elsabe zu streng.“
Er schlug die Augen nieder, mied ihren sommerhimmelblauen Blick.
Gegen ihren Willen musste Lilly lachen. Sie hatte ihn in der Lichten Welt gesehen, aber noch kein Wort mit ihm gesprochen. Als er sie gepackt und weggetragen hatte, war das so überfallartig geschehen, dass sie gar nicht dazu kam, sich zu wehren.
Oskar wirkte so treuherzig und ohne Arg. Der kleine grüne Elf mit den roten Haaren, zwischen denen spitze Öhrchen hervor lugten, hatte sie retten wollen und wusste nicht, was er damit angerichtet hatte.
Einmal im Jahr wurde in der Lichten Welt eine Hexe geboren. Sie entsprang den Feldern der Alraunen, wenn der Mond seinen Schatten über sie legte. Sie durfte in der ersten Zeit ihres Daseins in der Feenwelt nicht fliegen.
Lilly hatte gegen dieses unumstößliche Gesetz verstoßen. Deshalb sollte sie zurück in den Schoß der Erde geschickt werden. So hatten es die Hexen der Lichten Welt, die von Elsabe geführt wurden, beschlossen.
Um das zu verhindern, hatte Oskar, seinem Naturell folgend und weil er sich in Lilly verliebt hatte, sie gepackt und war mit ihr in diese dunkle Welt geflogen.
Glitter waren ein verspieltes fröhliches Volk von Dieben.
Es lag ihnen im Blut, alles zu nehmen, was ihnen gefiel. Aber sie behielten nichts. Alles, was sie stahlen, gaben sie wieder her oder verschenkten es großzügig. Diese kleinere Art von Elfen bewegte sich am liebsten in der Luft und konnte durchsichtig, beinahe unsichtbar werden.
Oskar hatte nicht gezögert, Lilly zu entführen, als er hörte, dass Elsabe, die schwarzhaarige Hexe mit den blauen Augen, die denen Lillys so sehr glichen, sie zurück in die Erde schicken wollte.
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Richard
Richard stand an einer der vielen tausend Öffnungen, die in der Felsenburg die Fenster ersetzten. Schmale hohe Schlitze in meterdicken Mauern, die nur wenig Licht in die Räume fallen ließen.
Er musste ein Stück in den Lichtschacht hineinkriechen, um nach draußen blicken zu können. Senkrecht unter ihm fielen die Mauern in die Tiefe und vereinten sich mit dem Fels, auf dem sie erbaut waren.
Grauer Fels, hart, abweisend und kalt.
Das Bauwerk glich der Burg über der Erde, die das Portal zur Schattenwelt, dem Fürstentum seines Vaters Leathan darstellte. Allerdings war dieses hier viel gewaltiger. Es war groß wie eine Stadt.
Richard hatte nicht die leiseste Ahnung, wie viele Räume, Hallen und Kammern es hier gab. Er dachte an die Ausflüge, die er als kleiner Junge unternommen hatte, um die Größe seines Zuhauses zu erkunden.
Es war ihm nicht gelungen, die Gemächer, Versammlungsräume und Säle zu zählen. Immer wieder hatte Nathan, sein alter Lehrer, ihn gefunden, wenn er sich hoffnungslos verlaufen hatte. Der riesige Elf war der Haushofmeister seines Vaters. Richard liebte und bewunderte diesen Mann.
Nathan hatte ihm alles beigebracht, was er konnte. Er hatte ihn Reiten und Fechten gelehrt, ihm gezeigt, wie man mit Pfeil und Bogen umging. Und der kleine Junge mit den dunklen Locken und den hellen Augen war, nicht zuletzt aus Zuneigung zu ihm, ein gelehriger Schüler gewesen. Er war ein hervorragender Reiter und einer der besten Schützen geworden, die Nathan je unterrichtet hatte.
Richard hatte geglaubt, dass Nathan alles wüsste, aber auch er konnte ihm keine Auskunft über die Anzahl der Räume geben.
Die hohen Wohntürme waren bevölkert von allen Wesen der Schattenwelt, die seinem Vater dienten. Wie in einem Bienenstock war es niemals still hier.
Fackeltragende ungeschlachte Trolle eilten durch die langen nachtschwarzen Flure. Sie sorgten dafür, dass die Kreaturen, die nicht wie die Dunkelalben mit Katzenaugen geboren worden waren, ihren Weg durch diese Düsternis finden konnten.
Es gab Zwerge und Kobolde.
Es waren nicht die Zwerge der Lichten Welt, die unter der Erde nach leuchtenden Edelsteinen gruben. Hier waren sie Diener der Hexen und Feen, wie auch die Kobolde und Trolle. Mit ihren spitzen behaarten Ohren, den runden wimpernlosen Augen und den stark ausgeprägten O-Beinen, die in pelzigen Füßen mit Krallen endeten, sahen die Kobolde aus wie seltsame Tiere.
Es gab sogar einige der sich ewig drehenden Derwische. In ihren schneeweißen Gesichtern, kohlschwarze Augen ohne Pupillen
Sein Vater konnte die Kerle nicht leiden, aber für die Übermittlung von Nachrichten und geheimen Dokumenten eigneten sie sich gut. Solche Aufgaben erledigten sie zuverlässig und mit ihren unaufhaltsamen Drehungen bewegten sie sich schneller vorwärts als jeder Troll oder Kobold.
Es waren die weißen Derwische, deren größter Wunsch es war, wieder an einem Fürstenhof dienen zu dürfen. Derwische waren nirgendwo in der Anderswelt beliebt. Sie mochten Intrigen und hintertückische Angriffe ohne Sinn und Verstand.
Sie drehten sich in ihren weißen Gewändern unentwegt um sich selbst und die Glöckchen an den Säumen bimmelten bei jeder Bewegung. Der helle Ton war irritierend und brachte einen fast um den Verstand. Aber dieser Ton wies auch zu jeder Zeit darauf hin, wo sich diese unangenehmen Kerle aufhielten.
Vor Jahrhunderten waren sie verdammt worden, im ewigen Eis zu leben, nachdem sie den Versuch unternommen hatten, die damaligen Herrscher zu stürzen. Die Wenigen, die bei der Eisschmelze nicht ertrunken waren, hatte Leathan aufgenommen.
Vermutlich waren die Derwische noch unbeliebter als die Hexen, die der schwarzen Magie huldigten, in deren Küchen es brodelte und dampfte.
Die Hexen konnten ihr Aussehen ganz nach ihren Wünschen verändern.
Im Auge des Betrachters wirkten sie so wie sie es wollten. Verführerisch anmutig, oder abstoßend hässlich. Dann glühten ihre Augen, die Haare wanden sich in wildem Gewirr wie Schlangen im Nest.
Keiner der Bewohner der Schattenwelt mochte sich mit ihnen anlegen. Innerhalb von Sekunden konnte man sich als Frosch in einem stinkenden Tümpel wiederfinden. Sie trugen Schichten von wallenden Stoffen und man wusste nie, was sie daraus hervorzaubern würden.
Die Dunkelalben, die seinem Vater dienten, mit ihm auf die Jagd gingen, mit ihm tranken und an den Spieltischen die Nächte verbrachten, konnten alle, wie Leathan und auch Richard, ohne Licht sehen. Es waren raue, immer in Schwarz gekleidete Gesellen, gut ausgebildete Elfen, die sich ohne Skrupel nahmen, was sie begehrten.
Und es gab die Feen.
Sie waren schön, verführerisch, intrigant und verwöhnt. Köstliche Belohnung für die Männer, die nach der Jagd oder während der durchzechten Nächte Entspannung suchten.
Die Schönste unter ihnen war Aglaia.
Milchweiße Haut, das dichte glatte Haar glänzend schwarz wie Rabenflügel. Die verschiedenfarbigen Augen schienen ihr Gegenüber niemals richtig wahrzunehmen. Sie ging nicht, sie schwebte und sie schwieg fast immer. Sinnlich und undurchschaubar war sie. Und sie gestattete keinem der dunklen Elfen, außer Leathan, sich ihr zu nähern.
Richards Gedanken wanderten zurück zu der Nacht, in der er Faith zur Flucht verholfen hatte. Zu der Nacht, in der Leathan ihn gedemütigt und sogar gezüchtigt hatte.
Es war auch die Nacht, in der er in die Schattenwelt tief unter der Erde verbannt worden war, in der er den größten Teil seiner Kindheit verbracht hatte. Eine schreckliche Strafe, nachdem er die Welt der Sterblichen kennengelernt hatte und jederzeit die Lichte Welt Magalies hatte aufsuchen können.
Magalie war die Fürstin der Lichten Welt, die Frau, die sein Vater begehrte, Faith‘ Mutter. Zauberhaft und wunderschön.
Richard liebte die Sonne, die Helligkeit und die Farben, die es in der Schattenwelt nicht gab.
Nathan und Maia hatten ihn in die Verbannung begleitet.
An Maias Hand hatte er Laufen gelernt. Maia hatte ihm die Windeln gewechselt und seine ersten Worte gehört. Sie war eine Frau, die selten Emotionen zeigte, aber wenn sie Richard ansah, wurden ihre herben Züge weich.
Sie war die höchste Instanz in Leathans riesigem Haushalt. Niemals hatte Richard erlebt, dass jemand Maia widersprochen hätte. Nicht einmal Leathan, dachte Richard und ein Lächeln glitt über sein Gesicht.
Er hatte lange gebraucht, bis er begriffen hatte, wer Maia wirklich war.
Maia war, so lange Richard denken konnte, für ihn da gewesen. Sie war eine der Töchter des alten Herrschers der Schattenwelt. Die Mutter Leathans und Richards Großmutter.
Hatte Faith Leathan entkommen können?
Richard sah noch das feuerrote gleißende Licht, das seinen Vater gebannt hatte. Keiner Bewegung fähig hatte Leathan zusehen müssen, wie Faith auf Richards Stute Corone davonpreschte.
Faith, dachte Richard voller Sehnsucht. Mit wehenden roten Haaren war seine Freundin auf Corone, ohne sich noch einmal nach ihm umzusehen, in der Dunkelheit verschwunden.
Den kostbarsten magischen Gegenstand der Anderswelt hatte sie mitgenommen.
Zum ersten Mal, seitdem es sich nicht mehr in den Händen der alten Herrscher der Lichten Welt befand, hatte sich das Medaillon geöffnet. Zum ersten Mal hatte das blutrote Herz in seinem Inneren wieder geleuchtet und sich gegen den Fürsten der Schattenwelt gewandt.
In den Händen eines Mädchens, das wie Richard selbst seine Wurzeln zur Hälfte in der Welt der Sterblichen hatte, war das Medaillon zum Leben erwacht.
Richard kam wieder zu sich und richtete seine Aufmerksamkeit auf das, was im Labyrinth vor der Burg geschah.
Das Labyrinth war ein sich ständig verändernder Irrgarten, der alles Leben verschlang sobald es dunkel wurde. Wer hier hineingeriet, kam nicht lebend wieder heraus.
Grüne Hecken verschoben sich zu unüberwindlichen Mauern. Immer neue Wege taten sich auf. Giftige Pflanzen säumten die Pfade und in den Hecken verbargen sich Schlingpflanzen, die Flüchtende in ihre tödlichen Umarmungen nahmen.
Tausende der abstoßenden Klapperer warteten in den Büschen, um sich auf ihre Opfer zu stürzen. Sie krochen beständig klappernd in die Ohren ihrer Opfer, um ihnen das Gehirn auszusaugen.
Seelendiebe besorgten den Rest. Diese geheimnisvollen furchterregenden Kreaturen erschienen grässlich stöhnend und umarmten im Schutz der Finsternis ihre Beute, die in ihren Armen zu seelenlosem Staub zerfiel.
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Leathan
Die Macht verloren.
Eingeschlossen in der riesigen Muschel, die nur ein Gesetz kannte: Sich zu öffnen, aufzunehmen in ihren feuchten weichen Schoß, wieder zu entlassen, auszustoßen, was sich in ihrem Innern befand.
Ein ständiges Auf und Nieder, Öffnen und Schließen. Unbewusst und gefühllos folgte sie ihrer Bestimmung.
Auch ihn würde sie ausstoßen, irgendwann.
Leathan sah die Algenwälder, durch die er schwebte, sah die Korallenriffe, die auch Faith gesehen hatte. Das Mädchen war ihm in der Muschel entkommen. Für Faith war sie ein Schutz gewesen. Für ihn war die Molluske ein Gefängnis.
Leathan erkannte die Chimären, deren weiche Lippen an der grünen durchsichtigen Muschelschale klebten. Ständig sich wandelnde Wesen, deren bevorzugtes Element das Wasser war.
Die selbstvergessene Wut ließ ihn rasend werden. Sein schönes männliches Gesicht mit den violetten zornig funkelnden Augen verzerrte sich, wurde im Zorn fast hässlich.
Für den Moment war er besiegt. Hass auf Annabelle, seine Zwillingsschwester, stieg in ihm hoch.
Faith, Magalies rothaarige Tochter, hatte sie beide überlistet. Kaum hatte sich die Muschel, in der sie Schutz gefunden hatte, geöffnet, hatte sie mit Hilfe ihres Mondsteinringes ihn und seine Zwillingsschwester erstarren lassen.
Der Zauberring mit dem Mondstein war ein Geschenk Magalies an ihre Tochter. Mit ihm konnte sie ihr Gegenüber für kurze Zeit außer Gefecht setzen.
Annabelle war Sekunden vor Leathan aus dieser Erstarrung erwacht.
Sie hatte die Situation ausgenutzt. Kaum war die Starre, in der sie und er selbst sich befunden hatten, von Annabelle gewichen, hatte sie ihn vom Felsen in das geöffnete Riesenmaul der stacheligen Molluske gestoßen.
Er hörte noch Annabelles gellendes Gelächter.
Während er stürzte, sah er das Mädchen mit dem roten Haar. Magalies Tochter in den Krallen, entschwebten die Adler, die Magalie gesandt hatte, über ihm, während das Molluskenmaul sich unerbittlich um ihn schloss.
Ein Mädchen, Leathan schäumte. Wieder hatte ihn ein weibliches Wesen besiegt. Auch ihre schöne Mutter hatte ihn, damals als er das Zeichen der Macht gestohlen hatte, vertrieben und besiegt.
Und jetzt auch noch seine Zwillingsschwester.
Sogar die sanfte Agnes, die Mutter seines Sohnes Richard, hatte ihn überlistet und war gegangen.
Agnes, eine Sterbliche.
Niemals würde er diese Demütigungen vergessen oder verzeihen. Die Stunde der Abrechnung würde kommen.
“Sie sollten vor ihm zittern.”
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Flug der Adler
Der zweifach schrille Schrei der Weißkopfadler riss Magalie aus ihrer Verzweiflung.
Sanft entließ der riesige Vogel Faith aus den Krallen. Magalie hatte ihre Tochter wieder.
Endlich hatte die Muschel sich geöffnet.
Die Magie des Medaillons hatte Magalie die Gegenwart gezeigt und ihr erlaubt, die Zukunft zu beeinflussen. In dem rotglühenden Herzen des Medaillons hatte sie gesehen, dass die Muschel ihre Tochter entlassen würde. Die Fürstin hatte die Adler ausgesandt, um Faith zu ihr zurückzubringen.
Magalies Hoffnung war es gewesen, Vater und Tochter gemeinsam zurückschicken zu können in die Welt der Sterblichen.
Aber Robert befand sich noch immer in der Höhle hinter dem Wasserfall. Wenn er nicht den Mut fand, durch die Säule aus brodelnd blauem Feuer zu gehen, die dort in die Höhe schoss, würde er sterben, sobald er in seine Welt zurückkehrte. Seit Tagen saß Magalie vor der Feuerhöhle, die sich hinter dem Wasserfall verbarg. Sie bat und flehte, versuchte ihm Kraft ihrer Gedanken Mut zu geben. Sie hoffte, dass er ihre Gegenwart spürte.
Jetzt wandte sie sich ihrer Tochter zu, es gab so viel erklären.
Entsetzt hörte Faith ihrer Mutter zu:
„Dein Vater ist zu lange in der Anderswelt geblieben. Er war länger als neunzig Tage hier. Und es gibt nur eine Möglichkeit ihn von dem Fluch zu erlösen. Er kann sein Leben zurückbekommen, aber er muss durch das Feuer gehen.“
„Warum hast du ihn nicht rechtzeitig nach Waldeck gebracht? Du weißt doch, dass er für immer hier bleiben muss oder in unserer Welt stirbt, wenn er nicht rechtzeitig zurückkehrt. In der Feenwelt zu überleben ist für einen Sterblichen ohne magische Fähigkeiten fast unmöglich. Deine Welt ist schön und erbarmungslos zugleich. Wir können hier nicht bleiben.“
Von der Angst um ihren Vater überwältigt, wurde Faith sehr laut. Sie wollte Magalies Antwort gar nicht hören.
Nachdem Robert ihr offenbart hatte, dass ihre Mutter eine Fee sei, konnte sie ihm zunächst nicht glauben. Aber die Ereignisse der nächsten Tage und Wochen waren so verwirrend und unheimlich gewesen, dass sie ihm glauben musste.
Alles hatte mit Roberts Entführung durch Leathan begonnen. In der Silvesternacht, in der sie mit ihren Freunden ihren siebzehnten Geburtstag gefeiert hatte.
Faith war ihrem Vater in die Anderswelt gefolgt, um ihn zu suchen.
Und um die Prophezeiung zu erfüllen, nach der sie, die Tochter einer Fee und eines Sterblichen, die Feenwelt vor Leathan retten sollte.
Sie sollte diese Welt retten, indem sie den kostbarsten magischen Gegenstand fand, den diese besaß.
Ausgerechnet Leathan, der Zerstörer aller Schönheit mit einem Machthunger, der ihn über Leichen gehen ließ, hatte dieses zauberhaft schöne Schmuckstück besessen. Faith fuhr aus ihren Gedanken, als sie Annabelles Namen hörte.
„Sie hat versucht, Robert zu sich zurückzuholen. Es hat viel Zeit gekostet, Annabelle zu vertreiben.“
Magalie schwieg und sah ihre Tochter abwartend an.
„Mit Robert in ihrer Gewalt“, ergänzte sie, „hätte sie dich erpressen können, das Zeichen der Macht nicht mir, sondern ihr zu überlassen.
„Macht, Macht, immer geht es hier um Macht. Ich kann es nicht mehr hören.“ Faith starrte ihre Mutter zornig und enttäuscht an.
Annabelle, die Zwillingsschwester Leathans, besaß wie er diese irritierenden violetten Augen. Das silbern glänzende Haar umfloss lang und glatt ihr betörend schönes Gesicht, mit einem Mund, der hinreißend lächeln konnte, wenn er wollte.
Aber ihr Aussehen täuschte.
Genauso machthungrig wie er ging auch sie über Leichen, um zu bekommen, was sie wollte.
Anders als Leathan allerdings war sie eine besessene Bewahrerin der Schönheit.
Krankhaft war ihre Gier danach und natürlich wünschte sie sich nichts sehnlicher als das Zeichen der Macht. Das geheimnisvolle Medaillon, dessen Schönheit nur Wenige wahrnehmen konnten.
Annabelle konnte seine zauberhafte Schönheit nicht erkennen, wollte es dennoch besitzen. Faith riss sich aus ihren Gedanken.
„Du hast ihn nicht beschützt.“ Sie konnte sich nicht zurückhalten. So voller Furcht musste sie jemandem die Schuld geben. Was lag näher, als ihrer Mutter diese Vorwürfe zu machen.
„Faith, bitte.“ Magalie streckte die Hand nach ihrer Tochter aus.
„Nein, lass mich. Hol Robert aus der Feuerhöhle, wozu hab ich dir das Medaillon gebracht?“ Gereizt fuhr sie herum, um ihre Tränen zu verbergen.
„Das kann ich nicht, mein Kind. Es würde nichts nützen, er würde den Tod in sich tragen, wenn er in seine Welt zurückkehrt. Dein Vater muss es ohne meine Hilfe schaffen. “
„Wie lange soll er sich noch quälen?“ Faith fühlte sich hilflos und allein. „Wäre ich nie geboren. Dann stünde ich jetzt nicht hier und Robert würde ein normales Leben führen können. Du hast es gewusst. Du hast die Prophezeiung gekannt. Niemals hättest du mit einem Sterblichen ein Kind haben dürfen.“
Faith holte tief Luft, ließ aber Magalie nicht zu Wort kommen. „Du hast in Kauf genommen, dass ich diese verdammte Prophezeiung erfüllen muss. Allein, ohne deine Hilfe. Was bist du nur für eine Mutter?“
Fassungslos hörte Magalie ihre Tochter toben. Alles, was sie sagte, stimmte und war doch nicht richtig. Sie hatte Faith immer begleitet, ohne dass sie es bemerkte, und geholfen, wo es möglich war. Aber für das Mädchen musste es so ausgesehen haben, ja. In den Augen ihrer Tochter hatte sie versagt.
„Du weißt, wie sehr ich deinen Vater liebe. Gefühle sind nicht zu steuern.“
„Rede du nicht von Gefühlen. Hilf ihm.“ Faith wandte sich wieder ihrer Mutter zu. Sie konnte und wollte nicht begreifen, warum Magalie das Medaillon nicht einsetzte, um Robert zu retten.
„Ich will nach Hause. Bring mich weg von hier.“ Sie ging wie eine Furie mit geballten Fäusten auf die Fürstin los.
Die Adler saßen reglos in der Sonne. Mit ihren weißumrandeten Pupillen beäugten sie das Geschehen.
Magalie legte beide Arme um das tobende Mädchen, hielt ihre Tochter ganz fest.
Eine blaue Wolke hüllte Magalie und Faith ein, erhob sich und brachte sie zurück in die Welt der Sterblichen.
Das Sonnenmal auf Magalies Stirn verblasste. Sie sah auf Faith hinab, die bleich und reglos auf einem Bett der Krankenstation des Internats lag. Hier würde sich Schwester Dagmar um ihre Tochter kümmern.
Kein Wunder, dieser Nervenzusammenbruch musste kommen. Wenn Faith erwachte, würde sie vieles nicht mehr wissen. Sie hätte vergessen, dass sie ihre Mutter angegriffen hatte, und die Gewissheit spüren Robert wiederzusehen. Das Vergessen erleichterte ihr die Gegenwart.
Magalie hauchte einen Kuss auf die Stirn ihrer Tochter. „Du wirst deinen Vater wiedersehen, ich verspreche es dir.“ Leise schloss die Fürstin die Tür.
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Robert hinter dem Wasserfall
Robert sah an sich hinunter, betrachtete seine Hände und spürte weder die Schmerzen, die in der Nähe der Feuersäule unerträglich geworden waren, noch sah er Brandwunden. Er war durch die Flammen gegangen. In der Höhle, in der er sich befunden hatte, war es heiß und trocken gewesen. So trocken, dass seine Lippen aufgeplatzt waren, seine Haut sich gerötet und gelöst hatte. Sein Atem ging noch immer schwer und er kämpfte mit den Tränen, Tränen der Erleichterung.
„Komm zurück zu mir.“
Er hatte Magalies verzweifelte Bitten, ihre herzzerreißenden Rufe, ihr Locken und auch ihre Drohungen tief im Inneren gespürt.
Robert wusste nicht, wie lange er in der Feuerhöhle gewesen war.
Er würde leben, obwohl er zu lange in der Anderswelt geblieben war. Den Kampf mit sich selbst, den Kampf gegen die Angst hatte er aus Liebe gewonnen.
Jetzt stand er hinter dem Wasserfall, der die Feuerhöhle verbarg, und beobachtete die beiden Frauen, die er mehr als sein Leben liebte. Das ohrenbetäubende Tosen der stürzenden Wassermassen vor ihm verhinderte, dass er hörte, was Faith und Magalie sprachen. Er sah verständnislos zu, wie Faith versuchte, auf Magalie einzuschlagen.
Bevor er sich bemerkbar machen konnte, hatte Magalie ihre völlig aufgelöste Tochter eng an sich gezogen und war mit ihr, eingehüllt in die blaue Wolke, verschwunden.
Was war mit Faith los? Warum hatte sie ihre Mutter angegriffen?
Er sah sich um. Von den Hexen war nichts zu sehen. Die Grotten, in denen Elsabe mit ihren Schwestern lebte, lagen verwaist da. Das Rauschen des Wassers übertönte fast alle anderen Geräusche. Robert fuhr herum, als er eine Stimme direkt hinter sich hörte.
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Begegnung
Hochaufgerichtet stand sie vor ihm. Der Rabe auf ihrer Schulter ließ ihn nicht aus den Augen. Das lange Gewand, das sie trug, war einen Ton dunkler als ihre grünen Augen, die ihn unverhohlen neugierig musterten. Das dichte weiße Haar war zu einem schlichten Chignon im Nacken zurückgesteckt, der ihren eleganten Hals betonte.
Ihr Lächeln war bezaubernd und plötzlich erkannte Robert, wen er vor sich hatte. Die Frau vor ihm war alt, aber sie besaß eine Schönheit, die ihr die Jahre nicht hatten nehmen können. Unwillkürlich verneigte er sich. Von ihr ging etwas Gebieterisches aus.
Die Ähnlichkeit Magalies mit dieser beeindruckenden Frau war unverkennbar.
Magalie hatte nicht gewusst, wer ihre Mutter war, bis Elsabe ihr eines Tages die Wahrheit gesagt hatte.
Sie war bei ihrem Vater aufgewachsen. Einem der Fürsten der Anderswelt. Die alte Herrscherin hatte ihre Tochter bei ihm gelassen, um sie vor Leathan und Annabelle zu schützen. Denn Magalie war wie die Zwillinge berechtigt, das Zeichen der Macht zu tragen. Hätten Leathan und Annabelle das gewusst, wäre Magalie ihres Lebens nicht mehr sicher gewesen.
“Du bist Robert.“ Sie blickte ihn unverwandt an. “Du hast es geschafft, durch die Feuersäule zu gehen. Nicht jeder hätte den Mut dazu gehabt.“
„Ich liebe sie.“ Robert musste nicht erklären, wen er meinte.
„Ich weiß.“
Die alte Herrscherin sah Robert forschend an und begriff, was ihre Tochter an diesem Sterblichen so anziehend fand. Aus einem markant geschnittenen Gesicht blickten ihr sanfte, fast melancholische Augen entgegen. An den feinen Fältchen in den Augenwinkeln aber erkannte sie Humor und die Lust zum Lachen. Der Mund zeigte eine Härte, die von einem festen Willen zeugte. Zurückhaltend wirkte er und gleichzeitig sehr präsent. Er war groß, von athletischer, lässiger Statur.
Ja, sie konnte Magalie verstehen.
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Hexen
Die Hexen konnten es Lilly nicht durchgehen lassen, dass sie sich ihrem Befehl widersetzt hatte. Sie war ungehorsam gewesen. Sie war mehrmals geflogen, ohne die Erlaubnis dazu erhalten zu haben. Diese junge Hexe schien unlenkbar zu sein.
Elsabe und ihre Schwestern hatten die Höhlen verlassen, um Lilly zu finden und sie zurück in den Schoß der Erde zu schicken. Bis der Mond seinen Schatten wieder auf die Felder warf, würde noch einige Zeit vergehen. Erst dann konnten die Alraunen sich die Hexe wiederholen. Sie würden sie unter die Erde ziehen, aus der sie geboren war. Dass auch Oskar verschwunden war, fiel nur Elsabe auf. Der Glitter war zwar häufig in Magalies Nähe zu finden, aber er ging auch oft genug seine eigenen Wege.
Konnte er mit Lillys Verschwinden zu tun haben?
Es war ihr nicht entgangen, dass Oskar Lilly sehr interessiert betrachtet hatte.
Mit ihren Schwestern machte sie sich auf die Suche nach Lilly.
Sie befragten die Wesen der Luft, die bunten Schmetterlinge in den lauen Lüften, die glänzenden diamantfarbenen Libellen, die kreischenden Stare.
Die Kreaturen in den Flüssen, den schimmernden Seen. Sie fragten die Fische und Wasserschlangen. Aber weder die bleichen Nixen noch die blauen Wassermänner konnten ihnen Auskunft geben.
Sie sprachen mit den Wassergeistern in den kleinsten Tümpeln und Quellen. Sie tauchten hinunter in das riesige neu entstandene Meer, das die Anderswelt so völlig verändert hatte. Hinunter in die Fluten, die Wälder und kostbaren Ackerboden verschlungen hatten.
Das Wasser des Vergessenen Flusses hatte den gewaltigen Canyon, der seit einiger Zeit die Anderswelt in zwei Teile teilte, gefüllt und viele der Bewohner, ja, ganze Dörfer und Städte mit sich gerissen.
Als Elsabe wieder auftauchte, fand sie eine der Nixen am Ufer.
Odine saß am Rande des Meeres. Ein Schleier aus grünem Haar floss über ihre nackten Schultern. Ihr silbrig schillernder Schuppenschwanz peitschte ungeduldig das Wasser.
„Was willst du?“
Elsabe setzte sich zu ihr. Die Kleider klebten an ihr wie eine zweite Haut und ließen ihren sinnlichen Körper beinahe ebenso nackt erscheinen wie Odines schlanken Leib.
„Das Wasservolk ist unruhig.“ Die grüne Muschel ist abgetaucht und hat den Dunklen Fürsten mitgenommen.“
Odine seufzte. Sie dachte an den Schatz, den die Nixen in ihrer Stadt unter Wasser hüteten. Einen Schatz von unermesslichem Wert.
„Leathan ist gefährlich, sogar im Bauch der Molluske. Sein violetter Blick tötet die Fische, von denen wir leben, ganz ohne Not. Schau dir das an.“
Elsabe sah sich um und erkannte, dass Odine Recht hatte. Aufgeschwemmte Fischleiber trieben, die leichenblassen Bäuche nach oben, auf der Wasseroberfläche.
Wusste Magalie, was sie angerichtet hatte? Wusste sie, dass Leathan mit der Muschel untergegangen war? Hatte sie mit Hilfe des Medaillons Leathan für kurze Zeit eingesperrt?
„Wie ist er in die Muschel gelangt?“
Die Nixe sah Elsabe erstaunt an. „Das weißt du nicht? Annabelle hat ihn vom Felsen gestoßen.“
Elsabe lachte ihr mitreißendes Lachen, wurde aber sofort wieder ernst. Hatte das denn nie ein Ende? Musste alles, was Leathan berührte oder ansah, sterben?
„Du suchst jemanden?“ Odine fragte es ganz beiläufig.
„Ja?“ Erwartungsvoll wandte sich Elsabe ihr zu.
„Versprich mir erst, dass du über unser Problem mit der Fürstin sprichst. Ihr müsst uns helfen, Leathan loszuwerden.“
„Natürlich helfen wir euch, wenn wir können. Ich spreche mit Magalie.“
„Gestern habe ich einen kaum wahrnehmbaren grünen Schleier über den Nachthimmel geistern sehen. Er war schneller als ein Augenzwinkern wieder verschwunden. Er flog dorthin.“
Elsabes Blick folgte dem ausgestreckten Arm der Nixe.
„In die Schattenwelt?“ Sie hielt den Atem an. Oskar, dieser dumme kleine Kerl. Das konnte nur er gewesen sein. Sie konnte sich vorstellen, was ihn dorthin trieb.
Die Schattenwelt war ein Ort, den, wenn es möglich war, sogar die Hexen der Lichten Welt mieden. Oskar glaubte, dass sie Lilly in der Schattenwelt nicht suchen würden. Dass sie dort unten sicher wäre. Dunkel war es dort, kalt und unwirtlich und die Kreaturen, die sich dort sammelten, waren giftig oder böse. Oft auch beides, dachte Elsabe. Lilly und Oskar waren jung und unerfahren. Sie waren in der Welt Leathans weitaus gefährdeter, als sie es in der Lichten Welt je sein konnten.
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Zurück in Waldeck
Als Schwester Dagmar völlig aufgelöst ohne anzuklopfen die Tür aufriss, schrak Frau Dr. Kirchheim-Zschiborsky so heftig zusammen, dass ihr die Kanne mit dem frisch aufgebrühten heißen Kaffee fast aus der Hand geglitten wäre.
Das freundliche runde Gesicht der Krankenschwester war gerötet und sie atmete schwer.
„Faith! Sie ist wieder da. Dr. Schrader ist schon auf dem Weg. Ich habe angerufen und ihn gebeten sofort herzukommen.“
Langsam kam Schwester Dagmar wieder zu Atem.
“Er muss sie sich ansehen. Noch schläft das Kind.“ Jedes Mal, wenn sie sich Sorgen um einen ihrer Schützlinge machte, wurde er in ihren Augen wieder zum Kind.
„Ich weiß nicht, was mich geweckt hat. Es war so, als zöge mich etwas ins Krankenzimmer. Es war unheimlich.“
Die Schwester war noch ganz aufgeregt und redete ohne Punkt und Komma.
Die Direktorin wischte hektisch an den Kaffeeflecken auf ihrer Bluse herum, bis sie erkannte, wie sinnlos ihre Aktion war. Ihr Puls raste und sie hatte das Gefühl, gleich selbst einen Arzt zu benötigen.
Frau Dr. Kirchheim-Zschiborsky war eine sehr beherrschte Frau, die normalerweise nichts so schnell aus der Fassung bringen konnte. Aber nach den Vorfällen der letzten Monate waren ihre Nerven noch sehr angegriffen.
„Kommen sie.“ Resolut schob sie Schwester Dagmar hinaus auf den Flur und bemühte sich, Ruhe zu bewahren.
Zusammen mit ihr schritt sie den langen Gang unter den kitschigen Stuckengelchen entlang.
Endlich war nun das Letzte ihrer verlorengegangenen Schafe wieder zurück.
Einige der Schüler des Internats, dessen Leiterin sie war, waren über Wochen verschwunden gewesen. Sie hatte sich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass es außer ihrer festgefügten realen Welt noch eine zweite, nicht für jeden wahrnehmbare, gab.
Es gab eine andere Dimension. Eine Spiegelwelt, Parallelwelt oder Anderswelt, wie immer man sie nennen wollte.
In diese Anderswelt waren Faith und einige ihrer Freunde gegangen, nachdem Faith’ Vater Robert in der Silvesternacht entführt worden war. Um ihn zu suchen, hatten sich die Schüler auf ein gefährliches Abenteuer eingelassen. Jetzt waren sie alle wieder zurück, nur Robert war noch, oder besser gesagt wieder, bei den Feen.
Und Richard? Richard hatte sich bei ihr abgemeldet, um in die Welt, aus der er gekommen war, heimzukehren. Anders als Faith war er in der Anderswelt aufgewachsen.
Er war der Sohn des Dunklen Fürsten der Schattenwelt und einer Sterblichen, Agnes.
Wie Faith hatte er seine Wurzeln in beiden Welten.
Noch einen kurzen Moment lang weilten ihre Gedanken bei dem geheimnisvollen Jungen, der so kurz nur ihr Schüler gewesen war.
Ein gut aussehender schlaksiger Junge mit einer ganz besonderen Ausstrahlung, der sich niemand so leicht entzog.
Leicht getönte Haut, helle Augen, dichtes dunkles Haar.
Ja, dachte die Direktorin, ein sehr anziehender Junge, in den sich Faith verliebt hatte.
Als Faith die Augen aufschlug, sah sie in zwei besorgte Gesichter.
Zu Hause.
Die Direktorin und Schwester Dagmar waren ihr so vertraut. Am liebsten hätte sie beide umarmt und geküsst. Stattdessen setzte sie ein strahlendes Lächeln auf.
„Wie bin ich …“ Sie stockte und verschluckte die Frage. Keine der beiden Frauen vor ihr konnte wissen, wie sie hierhergekommen war. Sie erinnerte sich an das Gefühl zu fliegen. Dann war alles um sie herum versunken.
Magalie musste sie hierhergebracht haben.
„Robert?“ Unbewusst hatte sie den Namen ihres Vaters laut ausgesprochen.
„Er wird wiederkommen. Sei ganz unbesorgt.“
Dr. Dr. Schrader war eingetreten. Er war der Hausarzt des Internats. Er hatte sowohl in Allgemeinmedizin als auch in Psychologie promoviert.
Die Direktorin verschluckte sich fast. Überrascht sah sie zu dem grauhaarigen, etwas fülligen Arzt auf.
Robert war, als sie ihn zuletzt gesprochen hatte, verzweifelt gewesen. Soweit sie von ihm selbst wusste, war er dem Tode näher als dem Leben.
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Das Labyrinth
Oskar sah die Ansammlung von Wohntürmen, die mit dem Fels verschmolzen.
Sah Säulen direkt aus dem Gestein gehauen. Rostfarben und gewaltig. Er sah unendliche Reihen von hohen schmalen Fensteröffnungen. Wie tote Augen in dunkler Nacht starrten sie auf ihn herab, drohend und unheimlich. Nur wenige dieser schmalen Schlitze in den meterdicken Mauern waren erleuchtet.
Er hatte das Oval eines Gesichts entdeckt, das ihm bekannt vorkam. Unbeweglich verharrte das Gesicht in einem dieser spärlich erleuchteten Fenster.
Oskar spürte den Blick wie eine Flamme. Seine spitzen Ohren bewegten sich unruhig hin und her. Seine Augen wurden ganz schmal.
„Was ist?“ Wisperte Lilly neben ihm. Sie folgte dem Blick ihres Gefährten.
„Oh, das ist der Junge, den Leathan geschlagen hat. Ich habe gehört, wie er ihn in die Schattenwelt verbannt hat.“
„Richard.“ Oskar verschlug es die Sprache. Was machte Richard hier? „Er ist Faith’ Freund und der Sohn Leathans.“
Entsetzt sah Lilly Oskar an.„Das hat mir Faith verschwiegen.“
„Richard ist nicht schlecht wie sein Vater. Er liebt Faith. Wir sollten ihn um Hilfe bitten.“
„Wobei sollte er uns helfen?“
Oskar antwortete Lilly nicht. Vor den beiden tat sich ein dunkles Labyrinth auf. Meter um Meter zog es sich bis zur Burg hin. Je weiter sie den Wegen folgten, desto unübersichtlicher wurde es. Immer neue Pfade taten sich vor ihnen auf.
Lilly sah zurück und bemerkte entgeistert, dass sich die hohen Hecken hinter ihnen schlossen. Geräuschlos und langsam schoben sich die akkurat beschnittenen Büsche zu dichten Mauern zusammen. Dunkles undurchsichtiges Grün.
Als sie sich zu Oskar umwandte, war der kleine Elf verschwunden. „Oskar?“
Sie hörte den schrillen Ton der Klapperer. Diese winzigen Tiere ließen sich aus Bäumen oder Hecken fallen. Wurmartige Geschöpfe, deren schwarze stecknadelgroße Köpfe in einem langen fleischfarbenen Rüssel endeten.
Eklig, die kleine Hexe schüttelte sich. Lilly hielt sich beide Ohren zu und schwang sich in die Luft. Bloß weg hier. Aus der Luft würde sie den besseren Überblick haben und den abscheulichen Saugern entgehen.
Lilly wollte Oskar wiederfinden, sie fühlte sich verteufelt allein. Aber das lebendige bösartige Labyrinth entließ sie nicht.
Kaum hatte sie den Boden unter den Füßen verloren, griffen die Äste der Hecken nach ihr und hielten sie fest. Wütende Peitschen aus Tollkirsche fuhren, giftig und tödlich, aus den Spitzen der Pflanzen hervor und griffen nach ihr.
Nachdem er Lilly aus den Augen verloren hatte, glitt Oskar am Fuß der Hecke entlang. Die Brechnuss, die dort in dichten Büscheln wucherte, nahm ihm schier den Atem.
Dunkle Schatten strichen stöhnend über die graugrünen Mauern, die sich immer dichter um ihn schlossen, belauerten ihn. Nicht nur die giftigen Pflanzen nahmen ihm den Atem. Angst würgte ihn.
Richard konnte wie viele Geschöpfe der Schattenwelt auch im Dunkeln sehen. Er hatte die Bewegung dort unten im Irrgarten, der Fremden leicht zum Verhängnis werden konnte, gesehen. Er erkannte die Not, in der sich Oskar und Lilly befanden.
Wenn er sie befreien wollte, musste er sich beeilen.
Schon krochen die dunklen Schatten der Seelendiebe mit ausgestreckten gierigen Armen durch das Labyrinth, um sich die beiden Eindringlinge zu holen. Nichts würde übrigbleiben von dem Glitter und der Hexe.
Richard hatte Oskar erkannt.
Als Leathan seine giftige Saat streute und die tödliche Falle pflanzte, hatte er sich köstlich damit amüsiert, nächtelang von einem der Türme aus zuzusehen, wie der Irrgarten sich seine Opfer holte.
Er weidete sich an ihrem Grauen und dem blanken Entsetzen. Wenn sich die dunklen Schemen auf die Verirrten stürzten, leuchteten seine violetten Augen.
Auch nachdem er sich satt gesehen hatte, ließ er den Garten, wie er war.
„Ein guter Schutz für uns“, meinte er kalt.
Richard griff sich eine der Fackeln, die in Eisenhaltern an den Wänden steckten, und jagte die endlosen Steinstufen hinunter. Solange Dunkelheit herrschte, würden die Schatten im Labyrinth jedes Leben vernichten.
Richard fand den kleinen Glitter verzweifelt nach Luft ringend. „Lilly“, flüsterte er.
Richard zog Oskar auf den Weg, weg von den giftigen Pflanzen.
„Ich finde sie, warte hier.“
Mit der Fackel, die Richard bei sich trug, entzündete er die erste der Feuerschalen. Nackte, aus Eisen gegossene Frauenleiber hielten mit hoch über den Köpfen erhobenen Armen die Eisenschalen.
Wie von Geisterhand übertrugen sich die Flammen auf hunderte dieser mit Öl gefüllten Gefäße. Die Irrgärten erstrahlten in ihrem hoch auflodernden Licht. Die jähe Helligkeit vertrieb die tödlichen Schatten, die klagend zerrannen.
Richard fand Lilly hoch oben in der Umarmung der bösartigen Ranken. Sie zappelte und wand sich, um ihnen zu entgehen. Oskar hatte nicht gewartet. Er war hinter Richard hergeflogen. Jetzt erhob er sich, um Lilly aus dem Gebüsch zu befreien.
Mit der Helligkeit verlor der Irrgarten seine Macht.
Richard sah Oskar fragend an.
„Was machst du hier, wo kommst du her? Zuletzt hab ich dich bei Magalie gesehen, hast du was von Faith gehört? Und wer ist sie?“ Er wandte sich zu Lilly um.
Lilly empörte sich wütend. „Du kannst mich ruhig selbst fragen, ich bin des Sprechens mächtig.“
Richard grinste. Sie war eine wirkliche Hexe. „Also gut, ich frage dich. Wer bist du?“
„Ich glaube nicht, dass es günstig ist, hier draußen zu plaudern. Hier gibt es tausend Ohren.“
Nathans ehrfurchtsgebietende Gestalt war so leise aufgetaucht, dass keiner der drei ihn bemerkt hatte. Wie konnte ein solcher Riese sich so unbemerkt nähern?
Mit einer Handbewegung bedeutete er Richard, Lilly und Oskar, ihm zu folgen.
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Maia webt
Maia webte aus den gemahlenen schwarzen Daunenfedern des „Kwynk“ und der Asche des gelben „Wulstlings“ einen Umhang. Die Federn des Vogels konnten Verbrennungen heilen, in Verbindung mit der Asche des Pilzes, zu einem zarten Gespinst gewebt, konnte es seinem Träger das Leben retten. Mit diesem Tuch wurde man zu einem Schemen der Schattenwelt, kaum zu unterscheiden von den geisterhaften Seelendieben.
Selbst Nathan besaß einen solchen Umhang. Maia bestand darauf, dass er ihn immer bei sich trug. Sie wandte ihre ganze Aufmerksamkeit der Arbeit zu. Der kleinste Webfehler konnte alles zunichtemachen. Maia war bewandert in allen Künsten der Magie. Selbst die schwarze Magie war ihr nicht fremd, aber sie hatte sie nie genutzt. Sie besaß Kräfte, von denen außer Nathan niemand wusste.
Auch in ihr ruhte das Böse und sie hatte es ihren Kindern, Annabelle und Leathan, vererbt. Die Tochter des letzten Herrschers der Schattenwelt hielt sich, wie es auch ihr Vater getan hatte, noch an Regeln, die Leathan, der Erbe der Schattenwelt längst über Bord geworfen hatte.
Maias graue Augen mit den violetten Punkten blitzten amüsiert auf, als Nathan mit seinen drei Begleitern erschien. Sie legte die gedrehten spinnwebfeinen Fäden aus der Hand. „Lilly!“ Maia lächelte die junge Hexe an.
Lilly sah entzückend aus. Die kleine Stupsnase in die Luft gereckt, sahen blaue Augen unter dem dunklen in die Stirn fallenden Haar Maia erstaunt an.
„Woher kennst du mich?“ Sie war unsichtbar gewesen, als sie das erste Mal die Schattenwelt betreten hatte. Jedenfalls hatte sie das bis jetzt geglaubt.
„Du bist vor einiger Zeit durch das Portal gegangen, hast die Schattenwelt erkundet und bist sehr schnell wieder verschwunden.“ Die dunkle Stimme Maias klang freundlich und beruhigend zugleich.
„Ich dachte nicht, dass mich jemand sehen könnte.“
„Es gibt viele Arten etwas wahrzunehmen, Lilly. Was machen wir nun mit euch?“
„Wir können nicht in die Lichte Welt zurück. Ich hab Lilly geklaut. Die Hexen würden sie zurück auf die Felder, hinunter zu den Alraunen schicken, wenn sie Lilly fänden.“ Oskars Stimme bebte. Sie schwankte zwischen Stolz und Verzweiflung.
„Elsabe wird euch auf jeden Fall finden, oder hast du schon mal erlebt, dass sie nicht bekam, was sie wollte, Oskar?“
Auch ihn kannte sie. Woher?