Читать книгу Faith und Richard - Ursula Tintelnot - Страница 8

Kapitel 4 - Die Unterstadt

Оглавление

Volk der Eulenelfen

Lilly streckte sich. Dann setzte sie sich mit einem Ruck auf. Verwirrt sah sie sich um.

Wo war sie?

Sie lag zum ersten Mal im Leben in einem Bett. Neben sich den grünen Glitter, über sich einen Baldachin. Wie ein Dach, wunderte sich die junge Hexe.

Leise, um Oskar nicht zu wecken, ließ sie sich von ihrem hohen Lager gleiten und schlich zum Tisch. Erst jetzt merkte sie, wie hungrig sie war. Bei dem Anblick, der sich ihr bot, lief Lilly das Wasser im Mund zusammen.

Zuckrige geröstete Walnüsse, kandierte Veilchen, in Schokolade getauchte Erdbeeren, gebackene Feigen, in Honig eingelegte Mandeln. Karaffen mit klarem Wasser und solche mit dunklem Traubensaft, Brot und sahniger frischer Ziegenkäse. Lilly stopfte sich von allem etwas in den Mund und kaute andächtig mit geschlossenen Augen.

„Lass mir was übrig.“

Oskar stand neben ihr und betrachtete die Herrlichkeiten auf dem Tisch.

„Wo ist die Fee mit dem Fledderhaar?“

Oskar sprach undeutlich mit vollem Mund.

„Weiß ich nicht. Sie heißt Atena.“

Lilly ging zu Tür.

„Wohin gehst du?“

Oskar lief mit vollen Backen hinter Lilly her ins Freie.

Die Eule, die geräuschlos neben ihnen landete, war groß, sehr groß und sehr hell. Ihre gelben ausdrucksvollen Augen waren starr auf sie gerichtet.

Gelb, wie das Sonnenlicht.

Langsam schlossen sich ihre Augenlider. Goldene Funken sprühten. Geblendet schlossen Lilly und Oskar die Augen.

„Ihr habt einen Tag und eine Nacht geschlafen.“

Lächelnd stand Atena vor ihnen, die Eule war verschwunden.

„Wo ist sie?“ Verwirrt blickte Oskar um sich.

Aber bevor Atena antworten konnte, vernahmen sie ein gedämpftes unheimliches Geräusch. Es kam näher, wurde lauter. Oskar hetzte durch den Hof. Da vorne war das Eisentor, durch das Lilly und er zwei Tage zuvor hereingekommen waren. Jetzt hörte er das scharfe Getrappel von tausend Hufen, das auf hartem Fels widerhallte. Hörte Gebrüll von aufgeregten Stimmen.

Schwarze Rösser, dunkle Reiter.

Er klammerte sich an die Eisengitter. Oskar rüttelte am Tor. Er musste näher heran. Seine kindliche Neugier war nicht zu bremsen. Was er sah, erschreckte ihn. Dennoch, obwohl er Atenas Ruf vernahm, öffnete er das Tor. Die schwarzen Umhänge und Uniformen der dunklen Elfen waren nur noch blutverschmierte Fetzen. Die Reiter hetzten, wie vom Teufel gejagt, an dem geöffneten Tor und dem Glitter vorbei. Viele der Pferde rannten herrenlos, mit hängenden Zügeln, hinter dem Tumult her. Keiner der panisch Flüchtenden achtete auf Oskar, bis auf einen.

Der athletische Elf erinnerte sich an den Kleinen. Bei der roten Fürstin hatte er ihn gesehen.

Sie hatte ihn herablassend behandelt. Damals war er mit einer Botschaft Leathans zu ihr gekommen.

Er hatte sich tiefer, als er wollte, vor ihr verbeugt. Sie hatte es ihm mit einem spöttischen Lächeln gedankt und ihn weggeschickt.

Damals hatte Kastor Rache geschworen. Er war tief in seiner männlichen Eitelkeit gekränkt gewesen. Fühlte sich verhöhnt.

Heute hatte Magalie ihn und seine Männer wieder auf eine besonders demütigende Weise weggeschickt. Sie hatte sich dem Kampf nicht gestellt. Stattdessen hatte sie die Erde geöffnet und ihn und seine Männer in die Schattenwelt geschickt, geprügelt wie eine Horde ungezogener Schüler.

Dies war der Moment der Vergeltung.

Tief beugte er sich nach unten und erwischte den schockstarren grünen Elf an einem Arm. Er riss ihn zu sich aufs Pferd. Ohne eine Sekunde anzuhalten, raste er hinter den Gefährten her. Der dunkle Fürst würde zufrieden mit ihm sein. Wenn Leathan zurückkehrte, würde er ihm dieses kleine Pfand überreichen.

„Tu doch was!“

Hilflos musste Lilly zusehen, wie Oskar mit seinem Entführer davonjagte. Eine unsichtbare Hand schloss das schwere Eisentor vor Lilly. Wenn Atena sie nicht festgehalten hätte, wäre sie hinter den furchterregenden Gestalten hergeflogen. Sie zappelte verzweifelt, im unerbittlichen Krallengriff der Fee.

Krallen?

Lilly blickte sich um.

Auf den gekalkten Mauern, den Dächern sämtlicher Gebäude rings herum, auf dem stählernen Pfählen des Eisengitters und auf den Bäumen saßen sie, die größten Eulen, die Lilly je gesehen hatte. Mit gesträubtem sandfarbenem Gefieder und weit ausgebreiteten Flügeln saßen die Vögel und bedeckten das Verzauberte Tal, machten es unsichtbar.

„Halt still!“ Die Krallen packten fester zu.

Lilly schrie auf. „Du tust mir weh.“

“Es wird noch viel mehr wehtun, wenn diese wüste Horde uns entdeckt. Nur wenn das Tor geschlossen ist, bleibt das Tal unsichtbar. Wenn Leathans Elfen es nicht so eilig gehabt hätten, hätte Oskars Neugier uns verraten.“

Lilly erkannte Atena nur an der Stimme.

~~~~~

Nebelnächte

Richard lag schlaflos in seiner Kammer. Es war eine besonders dunkle Nacht. Nicht einmal die blaue Kugel goss ihr kaltes Licht in die Finsternis. Durch die Fensteröffnungen drang feuchter Nebel in sein Zimmer. Er hatte ganz bewusst den kleinsten Raum, den er finden konnte, für sich ausgewählt.

Auch dieser Raum war noch groß wie ein Fußballfeld, aber kleiner und vor allem weiter entfernt von den Gemächern seines Vaters, als alle anderen. Dennoch hörte er den Lärm der Männer, die in dieser Nacht zurückkamen.

Er lauschte ihren lauten wütenden Stimmen, auch wenn er nicht genau verstand, was sie sprachen. Er hörte den Namen Magalies und glaubte zu verstehen, dass sie über Elsabe und ihre Schwestern sprachen. Unschlüssig lag er da. Sollte er wirklich durch die kalten Flure gehen, um zu hören, was die Männer besprachen?

Die Neugier brannte und Richard erhob sich fröstelnd. Der Nebel hüllte ihn ein, wurde immer dichter, füllte den Raum fast vollständig aus. Es fühlte sich an, als ob Mund und Nase mit feuchter Watte verstopft wären.

Diese Nächte in der Schattenwelt waren sogar für Richard unheimlich und beängstigend. Dies war eine der Nebelnächte, in denen die Hexen Leathans mit glühenden Augen durch die Dunkelheit flogen und die Kräuter ernteten, die sie für ihre schwarze Magie benötigten.

In diesen Nächten molken sie die Giftschlangen, indem sie den Zähnen der Reptilien ihr Gift entzogen, fingen Frösche und Spinnen für ihre Tränke. Die Elfen und Feen der Schattenwelt waren süchtig nach den Drogen der Hexen. Sie gaukelten ihnen Glück und eine Zufriedenheit vor, die es in dieser Welt nicht mehr gab, seit der alte Herrscher der Schattenwelt vergangen war.

Cybills und Maias Vater, der einst die Schattenwelt regierte, hatte die alten Riten respektiert, er hatte nie versucht in die Lichte Welt zu gelangen, um sich diese zu unterwerfen.

Maia hatte die Gene dieses Dunkelalben, ihres Vaters, geerbt, aber die dunkle Seite, die in ihr wohnte, ignoriert.

Cybill war offensichtlich geboren für die Lichte Welt. Ihre Jadeaugen waren hell und klar und nicht für die Dunkelheit gemacht.

Leathan und Annabelle besaßen die violetten Nachtaugen ihrer Mutter Maia und die ihres Großvaters. Aber sie hatten nicht wie diese gelernt, ihre dunklen Gelüste zu beherrschen. Annabelle war in der Lichten Welt geblieben. Sie besaß ein Fürstentum am Rande des alten Meeres. Leathan war der Erbe der Schattenwelt, aber das genügte ihnen nicht. Beiden war eine nicht zu beherrschende Gier nach Reichtum und Macht eigen und eine tiefe gegenseitige Abneigung.

Lange hatte Richard gebraucht, um diese verworrenen Familienverhältnisse zu durchschauen, hatte gelauscht und beobachtet und eins und eins zusammengezählt.

Nie hatte er Maia oder seinen Vater darauf angesprochen.

Er hatte gefürchtet, keine Antworten auf seine Fragen zu bekommen.

Was für eine Familie, dachte Richard, als er sich dem tumultartigen Lärm näherte, der ihm aus den Hallen entgegenkam, in denen die Spießgesellen seines Vaters ihre Nächte zum Tage machten.

Heute Nacht allerdings war der Lärm nicht das Gegröle betrunkener Männer, die mit ihren Taten protzten. Heute klangen die Stimmen wütend und aufgebracht. Richard betrat den Saal, aus dem ihm das Geschrei entgegenkam, nicht.

Er blieb vor der halb offenen Tür stehen und lauschte.

Hier konnte er sehen und hören, was in dem Raum vor sich ging. Die Verletzten hatten sich ihrer schwarzen ledernen Uniformen entledigt und ließen sich von den Hexen und Feen die Wunden auswaschen und Verbände anlegen.

Es würde nicht lange dauern, bis die äußeren Verwundungen geheilt wären. Die Feen verstanden ihr Handwerk und die Magie der Hexen würde ein Übriges tun. Mit der glühenden Wut im Inneren war das eine andere Sache.

Richard erschrak, als er Oskars Namen hörte. Er wusste, dass Maia ihn und Lilly weggeschickt hatte. Aber Richard wusste nicht wohin.

„Ich hab mir das Froschgesicht geschnappt. Hatte keine Ahnung, dass in der Gegend überhaupt jemand lebt. Gewaltiger Zaun aus Eisen, da stand er davor. Scheinen Eulen dort zu leben. Saßen überall auf Mauern und Bäumen. Wo ein Zaun ist, ist meist auch was dahinter. Das sollten wir uns mal genauer ansehen. Keinen Schimmer, ob Leathan davon was weiß.“

Der Sprecher befand sich genau neben der Tür, hinter der Richard stand und lauschte.

„Und wo ist der Glitter jetzt?“

Also war von Oskar die Rede. Richard hielt den Atem an. Wo war der niedliche grüne Elf, der sich so oft in Magalies Nähe aufgehalten hatte?

„Ich hab ihn runtergebracht in den Keller. Da ist er erst mal sicher verwahrt. Morgen können wir ihn befragen. Er wird uns sicher ein bisschen was erzählen über die Gegend hinter dem Zaun, wenn wir ihn freundlich bitten. Ich brauch jetzt einen ordentlichen Schluck zu trinken.“

Die Ironie war nicht zu überhören. Richard ahnte, wie die „freundlichen Bitten“ aussehen würden.

Armer Oskar.

Er würde die Nacht zitternd und frierend, voller Angst alleine verbringen.

Die Schritte der beiden Männer entfernten sich.

Der Keller war ein schrecklicher feuchter Ort.

An mit grauen Flechten überzogenen Mauern lief unablässig Wasser herunter. Nirgendwo gab es eine trockene Stelle.

Weit unter der Felsenstadt war dieser Kerker gebaut worden, um Gefangene zu verhören und wenn es nötig schien, auch zu foltern. Die Zellen waren vergittert, aber kaum gesichert. Es gab nur wenige Aufseher, die hier unten Dienst taten. Sie kamen aus der Unterstadt und waren froh, überhaupt eine Arbeit gefunden zu haben. Letzten Endes waren sie jedoch genauso gefangen wie die Insassen selbst.

Hier unten zu arbeiten, war wie lebendig begraben zu sein.

Keinem der Gefangenen konnte es gelingen zu entfliehen, solange der Zauber der Hexen um die Kerker eine unsichtbare Mauer errichtete. Die schwarze Magie der Hexen war für die, die ihrer nicht mächtig waren unüberwindlich.

Richard lugte um die Ecke. Alle waren noch in der Halle versammelt. Er musste etwas tun.

So schnell er konnte, rannte er durch die nur mäßig erhellten Flure. Die Trolle hatten die Fackeln in die Halter an den Wänden gesteckt. Sie waren schon in ihren eigenen Unterkünften verschwunden. Jetzt hatten nur noch die Kobolde Dienst. Sie waren zuständig für die Bedienung der Elfen und Feen.

Richard suchte Maia.

Vielleicht konnte er sie oder Nathan dazu bewegen, Oskar zu helfen.

~~~~~

Streunender Wolf

Murat lief durch den Wald hinter der alten Villa. Er schnüffelte bis er fand, was er gesucht hatte.

Verführerischer Duft.

Eine Stunde später verließ er gesättigt die fremde Welt und tauchte wie ein grauer Schatten in seiner eigenen wieder auf.

Er hatte keine Mühe, jederzeit eine Öffnung in die jeweils andere Welt zu finden.

Sein Herr hatte ihn lange nicht gerufen. Er hasste Leathan und fürchtete ihn manchmal, aber er war durch einen Zauber an ihn gebunden.

Murat musste erscheinen, sobald er rief.

Seine Befehle jedoch legte das kluge Tier so aus, wie es ihm richtig erschien, ohne sich allzu weit vom Inhalt zu entfernen. Manchmal war seine Auslegung recht eigenwillig.

Den Befehl Robert zu bewachen, als Leathan ihn im Feental gefangen hielt, hatte er auf seine Weise ausgeführt.

Er hatte gespürt, dass dieser Mann irgendwie zu Richard gehörte. Er hatte ihn also nicht nur nicht an der Flucht gehindert, sondern ihn bei der Suche nach einem Fluchtweg wachsam begleitet, sogar geführt.

Das Mädchen hatte ihm eine Nachricht mitgegeben, die er Richard bringen musste. Er hatte es nicht eilig.

Murat sagte die Zeit nichts.

Einzig seine Treue und Dankbarkeit trieb ihn zu Richard. Er umging das Neue Meer und suchte den Weg durch dunkle Wälder, die Leathans Festung umgaben. Er patschte durch feuchte Mangrovenwälder und achtete darauf, den Reptilien, die dort lebten, nicht zu nahe zu kommen.

Jetzt lief der Wolf vorsichtig dicht an den Wänden der Stallungen entlang, die den Hof der Burg säumten. Er wollte nicht gesehen werden.

Sein Ziel war die kleine, kaum sichtbare von Efeu überwucherte Tür an der Rückseite des Kastells.

Das Holz war alt und so verrottet, dass eine Lücke entstanden war, durch die er sich zwängen konnte.

Er tappte über die steilen steinernen Stufen nach oben, dorthin wo Richards und Leathans Räume lagen. Die scharfen Krallen klickten leise auf dem harten Boden. Seine feine Nase fand weder Richard noch Leathan.

Bewegungslos stand das Tier in dem düsteren Gang, die gelben Augen schmal, starrte er in den leeren Raum vor ihm. Tief sog er alle Gerüche in sich hinein, bis er endlich weit entfernt Richard witterte.

Murat fand das Portal sofort, durch das er seinem Gefährten in die Schattenwelt folgen konnte.

Er nahm sogar Richards mit Zorn gemischte Angst wahr, nachdem Leathan ihn verbannt hatte, weil er Faith zur Flucht verholfen hatte. Er spürte den Jungen, als er die Felsenstadt erreichte. Der Geruch der Angst verstärkte sich.

Richard lief über grob behauene steile Stufen, die ihn in Spiralen immer weiter nach unten führten. Die Einsamkeit und Dunkelheit hier waren überwältigend. Aus angelehnten Türen verfolgten ihn leere Blicke.

Bleiche Gesichter.

Haut so fahl, wie sie nur sein konnte, wenn sie noch nie die Sonne gesehen hatte.

Aber Richard musste noch weiter in die Tiefe steigen.

Maia hatte er nicht gefunden.

Er lief über Eisenbrücken, welche die Wohntürme der Felsenstadt miteinander verbanden.

Eiserne Brücken, die Leidenschaft seines Vaters.

Der Lärm der wutentbrannten Ritter war längst nicht mehr zu hören. Was hier, in den unteren Gefilden stattfand, war weitaus beängstigender für ihn.

Die Elfen und Feen seines Vaters waren ihm vertraut. Auch die Hexen brauchte er nicht fürchten. Er war der Sohn des Fürsten und damit, so glaubte er, tabu.

Hier unten war es anders.

An diesem Ort mischten sich unvorstellbare Armut und Aggressivität und legten sich auf die Haut wie eine dicke Paste.

Misstrauische Blicke folgten ihm, maßen ihn und seine Kleidung. Die zerlumpten Gestalten, denen er begegnete, hatten nichts zu verlieren. Sie würden ihn bestehlen oder Schlimmeres mit ihm anstellen, wenn sie die Gelegenheit dazu bekämen.

Richards blaue Augen wurden stählern und hielten die gierigen Blicke fest, die sich auf ihn richteten.

Er wandte eine Gabe an, von der nur Wenige wussten, dass er sie besaß.

Seine Umgebung nahm ihn nun so wahr, wie er es wollte. Sie sah das, was er wünschte, dass sie sah. Einen ärmlich gekleideten Jungen, der, wie sie selbst, nichts besaß außer seinem bisschen Leben.

Er kannte den Weg, wusste wohin er sich wenden musste.

Wann immer er sich aus Maias oder Nathans Obhut hatte stehlen können, war er in die Unterstadt gelaufen, die ihm so viel interessanter, wenn auch gefährlicher schien als seine Umgebung in den prachtvollen Räumen seines Vaters.

Diese Stadt aus grauem Stein war ihm sehr vertraut. Er kannte hier jede Stufe, jede Brücke, jeden schmalen Weg und all die düsteren verwinkelten Straßen. Und er hatte Freunde hier.

Zwei Brüder, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Die Bewohner dieser Unterstadt hatten keinerlei Rechte. Keiner von ihnen durfte je den hellen Teil der Anderswelt betreten. Die Ausflüge in die Lichte Welt hatten Richard das Leben erträglicher gemacht, aber auch die Sehnsucht nach Sonne und Freiheit in ihm geweckt, die diese Ärmsten der Armen nicht einmal dem Namen nach kannten.

Die Brüder, die wie alle anderen hier von Betrug und gelegentlichen Diebstählen oder Überfällen lebten, waren ihm auf einem seiner einsamen Streifzüge aufgefallen.

Er hatte mit angesehen, wie sie versuchten, einen der dunklen Elfen zu bestehlen, die hier unten patrouillierten.

Das war tollkühn und dumm gewesen und obendrein lebensgefährlich.

Richard war dem Elf gefolgt.

Die beiden Burschen, die ungefähr in seinem Alter waren, hatten ihm Leid getan. Er hatte damals all seinen Mut zusammengenommen und war dem überraschten Wächter von hinten auf die Schultern gesprungen.

Diesen Bruchteil einer Sekunde nutzten die Beiden, um sich loszureißen und aus dem Staub zu machen. Als der Wächter sich wutschnaubend umdrehte, sah er im kalten blauen Blick Richards, was der ihn sehen ließ. Nämlich nichts.

Hypnose war doch eine überaus nützliche Gabe, hatte er damals gedacht und war, wie die beiden jungen Diebe, blitzschnell und sehr zufrieden im Gewirr der Gassen untergetaucht.

Die Brüder hatten auf ihn gewartet.

Seit dieser Zeit besaß er zwei Freunde, Jesse und Julian, von denen allerdings niemals jemand erfahren durfte. Leathan hätte diese unpassenden Gefährten seines Sohnes getötet.

Für ihn wären sie Abschaum.

Einmal hatte er die Brüder mit in die Lichte Welt genommen. Mit der Fähigkeit, Andere zu täuschen, hatte er es geschafft, sie durch das Portal zu schmuggeln.

Nur eine hatte ihn durchschaut.

In Magalies Gärten hatten sie so viele von den herrlichen Früchten in sich hineingestopft wie möglich. Nie hatten Jesse und Julian solchen Überfluss gesehen.

„Nehmt euch so viel ihr mögt.“

Jesse und Julian fuhren herum.

Die Sprecherin vor ihnen hatte ihren Wallach kurz angehalten, ignorierte Richards kalten Blick vollständig und musterte die Brüder aufmerksam.

Sie konnte sie erkennen! Richard hatte keine Macht über Magalie.

Sein Gesicht glühte, als sie sich, ohne ihn weiter zu beachten, abwandte. Mit einem Schnalzen gab sie Chocolat ein Zeichen und ritt davon. Als sich die drei Jungen von ihrem Schrecken erholt hatten, waren die Fürstin und das herrliche Pferd längst nicht mehr zu sehen. Jesse und Julian aber waren in Panik geraten.

Dieser einzige Ausflug war auch der letzte gewesen. Die Brüder konnten gar nicht schnell genug zurück in die Schattenwelt gelangen. Wenn sie verraten worden wären, hätte das ihren sicheren Tod bedeutet.

Der Durchgang, den Richard jetzt leise betrat, war so schmal, dass er mit den Schultern die schmutzigen Häuserwände berührte. Es stank nach Katzenpisse, Unrat und Verwesung.

Ein paar aufgescheuchte Ratten brachten sich in Sicherheit.

Kaum war er aus dem stinkenden Gang in den kleinen Innenhof getreten, als ihm die Arme auf den Rücken gedreht wurden.

„Verdammt ihr Idioten, lasst mich los.“

Sofort lockerte sich der Griff. Grinsend standen Jesse und Julian vor ihm.

„Wolltest du dich anschleichen? Wir dachten, eine Horde trampelnder Trolle würde uns überfallen.“

Jesse boxte Richard freundschaftlich gegen die Schulter.

„Was gibt’s, alter Freund? Was tust du mitten in der Nacht in der Unterstadt?“ Julian war der Ältere der Brüder und ernster als Jesse. Er spürte, dass Richard nicht zum Spaß hier aufgetaucht war.

Richard berichtete, was er gehört hatte und warum er gekommen war.

„Ich will ihn nur kurz sehen und ihm sagen, dass er nicht allein ist. Oskar ist noch jung und nicht daran gewöhnt, sich in geschlossenen Räumen aufzuhalten. Er wird sterben, wenn wir ihn da nicht rausholen.“

„Und was stellst du dir da vor, sollen wir die Hexen verhauen?“

Jesse feixte.

„Halts Maul.“

Julian trat Jesse gegen das Schienbein, dann wandte er sich wieder an Richard.

„Dein Onkel?“

„Mein Onkel macht da zwar immer noch den Aufseher, aber er ist der größte Feigling, den ich kenne, und doof wie Stulle.“

„Bitte“, beschwor Richard Julian, „es muss doch eine Möglichkeit geben, in den Keller zu kommen.“

„Und du sagst, der Kleine gehört zu der Frau mit den Obstgärten, die uns hat laufen lassen?“

Richard nickte wortlos.

„Dann lass mal überlegen.“

~~~~~

Roberts Bitte

Frau Dr. Kirchheim – Zschiborsky hielt den Hörer des Telefons so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.

Bitte nicht schon wieder, dachte sie. Das halten meine Nerven nicht aus. Aber konnte sie Robert diesen bescheidenen Wunsch wirklich abschlagen?

„Die Mädchen könnten hier in der alten Villa übernachten. Ich bin nur wenige Tage unterwegs, allerhöchstens eine Woche. Es wäre mir einfach lieber, wenn Faith nicht alleine sein müsste. Dazu ist es, nach den Aufregungen der letzten Zeit, vielleicht doch zu früh.“

Dass Murat aufgetaucht war, erzählte er ihr lieber nicht.

Die Direktorin schnappte hörbar nach Luft.

Die Lebensgefahr, in der sich Faith, einige ihrer Freunde und Robert in den letzten Monaten befunden hatten, als „Aufregungen“ zu bezeichnen, war die Untertreibung des Jahrhunderts.

Drei Monate hatte sie gebangt und gelitten, bis alle ihre Schüler mehr oder weniger wohlbehalten wieder ins Internat zurückgekehrt waren, aus einer Welt, von der sie bis dahin nicht geglaubt hatte, dass sie existierte.

In der alten Villa, in der Faith mit ihrem Vater lebte, hatte das, was Robert als „Aufregung“ bezeichnete, begonnen. Und jetzt wünschte Robert, dass sie zwei der ihr anvertrauten Schülerinnen wieder dorthin schickte. Das war zu viel.

Sie konnte verstehen, dass er seine Tochter nicht alleine in dem großen Haus lassen wollte. Aber Lisa und Valerie wieder in die alte Villa zu schicken, widerstrebte ihr. Ganz gegen ihre Überzeugung antwortete sie:

„Also gut, Robert, ich werde es mir überlegen und mit den Mädchen darüber sprechen. Wenn die beiden nicht einverstanden sind, werden sie Faith klar machen müssen, dass sie hier bei Lisa schlafen sollte.“

Am liebsten hätte sie sich auf die Zunge gebissen. Robert konnte so überaus überzeugend sein. Hinzu kam, dass sie eine uneingestandene Schwäche für diesen anziehenden Mann hatte.

Frau Dr. Kirchheim – Zschiborsky legte den Hörer auf die Gabel ihres altmodischen Telefons. Sie hatte sich überreden lassen. Warum hatte sie nicht einfach nein gesagt? Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es Zeit wurde. Madame Agnes erwartete sie zum Tee.

Wolle begrüßte sie begeistert, sprang an ihr hoch und riss sie fast um, als Madame ihr die Tür öffnete. Er benahm sich so ungezogen, wie ein junger Hund nur sein konnte.

„Er war in der Hundeschule, aber ich bin nicht streng genug mit ihm. Ich glaube, er wäre doch besser bei Faith aufgehoben.“ Madame Agnes seufzte. „Gibt es etwas Neues?“

„Eben hat Robert angerufen. Er bat mich, Lisa und Valerie eine Woche bei Faith übernachten zu lassen. Er muss verreisen. Aber es widerstrebt mir, ehrlich gesagt, die Mädchen dort allein zu lassen. Wer weiß was da wieder passiert.“

Madame nickte, schenkte Tee ein und hörte aufmerksam zu. „Vielleicht wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, Wolle wieder abzugeben. Er ist ein guter Wächter.“

„Ja sicher, obwohl er bestimmt nichts ausrichten kann gegen Zauber oder Magie. Aber er würde möglicherweise die Mädchen rechtzeitig auf eventuelle Gefahren aufmerksam machen.“

„Von Richard haben sie nichts gehört?“

„Leider nein.“ Die Direktorin wusste, wie dringend die alte Dame auf eine Nachricht von ihrem Enkel wartete. Bedrückt berichtete Madame von Faith Besuch.

„Werde ich ihn jemals wiedersehen? Er ist ein so liebenswerter Junge. Er liebt die Helligkeit und muss nun in dieser dunklen Welt leben.“ Ihr versagte beinahe die Stimme.

Und Frau Dr. Kirchheim – Zschiborsky fand keine Worte des Trostes.

Nachdem sie sich von Madame Agnes verabschiedet hatte, ging sie durch den kleinen Ort zurück zum Internat.

Seit die „Kinder“ wieder da waren, war ihre Welt einigermaßen in Ordnung. Und das sollte auch so bleiben, dachte die Direktorin der Eliteschule. Sie musste ihre Schüler unbedingt vor dieser erschreckenden Anderswelt schützen.

Auf dem kurzen Weg, der durch den Wald führte, beschleunigte sie unbewusst ihre Schritte. Es ging auf den Abend zu und die Dämmerung zeichnete ein ungewisses Licht. Fast wäre sie auf die Überreste eines frisch gerissenen Kaninchens getreten.

~~~~~

Maia vermisst Richard

Maia spürte, dass etwas durch das Portal in die Felsenstadt eingetreten war. Sie spürte auch, dass keine Gefahr von diesem Eindringling ausging. Trotzdem konnte sie nicht wieder einschlafen. Die Nacht war fast vorbei.

Das Licht veränderte sich bereits. Ein heller Streifen blasser Bläue drang durch die hohe Fensteröffnung ihres Zimmers. Richard war nicht da, wo er ihrer Meinung nach sein sollte, nämlich in seinem Bett.

Sie hatte ihn gesehen, als er in der Nacht lauschend vor dem Saal der heimgekehrten Elfen stand. Seither war er verschwunden.

Sie hatte das leise Tapsen vor ihrer Tür gehört, das Schnüffeln vor Richards Räumen. Dann waren die Geräusche schwächer geworden, hatten sich entfernt. Murat. Es konnte nur Murat gewesen sein, der Richard suchte. Wenn einer ihn fand, dann der Wolf.

Maia blieb trotzdem unruhig. Irgendetwas stimmte nicht. Was hatte der Junge gehört?

Sie war überzeugt davon, dass sein Verschwinden mit dem zusammenhing, was er erlauscht hatte. Was hatten die beiden dunklen Gestalten besprochen, die sie auf der anderen Seite der Tür beobachtet hatte?

In einem der beiden Sprecher hatte sie Kastor, einen der engeren Vertrauten ihres Sohnes, erkannt.

Arrogant und überheblich.

Obwohl sie sich nicht gerne in den Hallen der immer schwarz gekleideten Männer aufhielt, musste sie diesen Abend dort verbringen, wenn sie etwas herausfinden wollte.

Nicht alle dunklen Elfen Leathans waren grob, unhöflich und derb. Aber es wurde viel getrunken. Bitteres Bier für die Männer und süßer Wein für die Frauen floss in Strömen. Der Umgangston war rüde, Prügeleien an der Tagesordnung.

Bevor sie den Schlafraum verließ, warf sie noch einen liebevollen Blick auf ihren Gefährten. Nathan schlief noch. Er war für sie ein verlässlicher Partner. Für Richard war er Vaterersatz, Freund und Lehrer in Einem. Sie wusste, sie konnte sich auf ihn verlassen. Nathan fürchtete Leathan nicht, dachte Maia lächelnd. Ganz im Gegenteil.

So manches Mal hatte sie den Eindruck gehabt, dass Leathan sich vor dem hünenhaften Lehrer seines Sohnes fürchtete. Sie dachte an die Szene, die sich im Hof der Burg oberhalb der Schattenwelt abgespielt hatte.

Nathan hatte Leathan, der außer sich vor Wut Richard geschlagen und sogar getreten hatte, festgehalten und Richard in ihre Obhut gegeben. Der Dunkelalb hatte sich nicht gegen diesen Übergriff gewehrt.

In Gedanken versunken schloss sie die Tür und wandte sich ihren täglichen Pflichten zu.

Maia war nicht naiv. Sie wusste, dass ihr Sohn mehr Magie besaß als die meisten Wesen der Anderswelt. Aber seine Selbstüberschätzung und sein hemmungsloser Jähzorn hinderten ihn daran, seine Macht richtig einzusetzen. Annabelle, seine Zwillingsschwester, war schlauer als er und disziplinierter. Wenn er es je schaffte sich zu zügeln, sich zu mäßigen und nachzudenken, bevor er handelte, oder sich mit Annabelle zu einigen …! Daran wollte Maia jetzt lieber nicht denken.

Sie hatte sich nicht gewundert, als Leathan nicht erschien. Er war immer lieber in der Burg oberhalb der Felsenstadt gewesen, die das Portal in die blaugetönte Welt bildete, in die er seinen Sohn jetzt verbannt hatte. Sie war erleichtert, dass er sich nicht blicken ließ. Hier würde er Richard nur weiter schikanieren oder ihn mit Nichtachtung strafen.

Die Reiter, die gestern Abend geschlagen zurückgekehrt waren, hatten den wahren Grund für sein Fernbleiben genannt. Leathan saß fest. Er konnte gar nicht kommen.

Belustigt dachte Maia, dass Annabelle ihrem Bruder immer voraus gewesen war. Sie ergriff die Gelegenheit, ihn zur Weißglut zu bringen, wann immer sie sich bot.

Zweifellos würde die grüne Muschel ihn entlassen. Seelenlos schluckte die Molluske, was sich ihr bot, um es irgendwann wieder von sich zu geben.

~~~~~

Annabelles Wünsche

„Das Medaillon ist wunderschön. Die blauen Edelsteine sind geschliffen wie Sterne. Und sie liegen auf einem Netz von geflochtenen Gold und Platinfäden.“

So hatte Leathan diesen Schatz beschrieben. Selbst er geriet ins Schwärmen, als er Annabelle das verlorene Kleinod beschrieb.

Endlich hatte Leathan seiner Schwester erklärt, was es mit dem Zeichen der Macht auf sich hatte. Er hatte es ihr erklärt, weil er ihre Hilfe suchte.

Ohne diese Auskünfte, hatte Annabelle ihm versichert, würde sie keinen Finger für ihn rühren.

Nur gemeinsam könnten sie Magalie dieses Kleinod wieder abnehmen.

Das Medaillon, das vor Leathan die alte Herrscherin besessen hatte, war von unbeschreiblicher Schönheit und voller Magie. Nur ganz wenige Auserwählte konnten diese Schönheit überhaupt erkennen.

Um es zu bekommen, hatte Leathan den alten Sitz der Herrscher in der Lichten Welt mit seinen dunklen Reitern überfallen. Nachdem er gefunden hatte, was er suchte, hatte er die Festung in Flammen gesetzt.

Magalie war es zu verdanken, dass seine Horden im Blutrausch nicht noch mehr Unheil anrichten konnten. Aber auch sie hatte ihm weder das Medaillon abnehmen noch die Festung retten können. Er war entkommen.

Magalie hatte Annabelle und vielen der anderen Wesen, die in dieser furchtbaren Nacht arglos ein großes Fest feierten, das Leben gerettet.

Ja, dachte Annabelle, sie hatte recht daran getan Leathan vom Felsen in die geöffnete grüne Muschel zu stoßen. Sie wünschte sich, dass die Muschel ihn noch lange nicht entließe. In ihr war er auf den Grund des Neuen Meeres gesunken.

Sie glühte vor Gier, dieses Schmuckstück zu besitzen, obwohl sie dessen Schönheit nicht wahrnehmen konnte. Ebenso wenig wie Leathan würde auch sie die volle Kraft der Magie nutzen können, wenn sie es besäße. Das Medaillon würde sich auch ihr nicht öffnen. Aber das konnte Annabelle nicht wissen. Ihr Bruder hatte ihr nicht gestanden, dass dieser geheimnisvolle magische Gegenstand ihm den Gehorsam verweigert hatte.

„Edelsteine wie Sterne.“

Sie hörte noch immer seine Worte: „Und wenn diese kleine Hexe zurückgekehrt war, besaß Magalie jetzt diesen magischen Gegenstand.“

Ausgerechnet Magalie.

Faith hatte es tatsächlich geschafft, Leathan das Medaillon zu entwenden. Ganz wie die Prophezeiung es vorhergesagt hatte. Annabelle schrak aus ihren Gedanken.

Aufgeregt flatterten drei ihrer Lulabellen durch die hohen geöffneten Türen. Zarte Tücher wehten in den Raum und gaben den Blick auf das silbrig schillernde spiegelglatte Meer frei.

Die kleinen grünen Feen mit den regenbogenfarbenen Flügeln sprachen alle gleichzeitig, sodass Annabelle kein Wort verstand.

„Nicht alle auf einmal. Ich hatte befohlen, mich nicht zu stören. Also was gibt es so Wichtiges.“

„Die Herrscherin ist wieder da.“

Nicht schon wieder. Sie hatte genug.

Die Reifen, wie hier die Alten genannt wurden, bewohnten einen Flügel ihres Palastes, den Annabelle so gut wie nie betrat. Und dort sollten sie bleiben. Stattdessen trieben sie sich neuerdings überall herum.

Sie wollte diese alten Feen nicht sehen, die seit dem Brand, den Leathan gelegt hatte, hier lebten. Sie lehnte alles ab, was nicht ihren Vorstellungen von Schönheit und Jugend entsprach. Aber die Reifen blieben nicht unsichtbar in ihrem Flügel, wie sie es wünschte. Und sie konnte nichts dagegen tun.

„Erstens ist Cybill nicht mehr die Herrscherin. Zweitens interessiert mich nicht, dass sie wieder da ist.“

„Aber sie will dich sprechen.“

Wütend fuhr Annabelle die Lulabellen an. „Sagt ihr, ich habe zu tun und jetzt raus hier.“

„Charmant wie immer. Du solltest mich lieber anhören.“

Die alte Herrscherin hatte nichts von ihrer Würde verloren. Sie mochte alt sein, aber immer noch hatte sie etwas Achtungsgebietendes, dem auch Annabelle sich nicht entziehen konnte.

Jetzt stand Cybill kerzengerade in der Tür. Die Sonnenstrahlen ließen ihr dichtes schlohweißes Haar wie einen Strahlenkranz leuchten. Die grünen lebendigen Augen brannten dunkel und machten Annabelles Abwehr zunichte.

Sie ergab sich. „Also, was willst du.“

Die alte Herrscherin setzte sich unaufgefordert.

Annabelle wand sich innerlich. Sie wusste wie unhöflich es war, Cybill keinen Platz angeboten zu haben. Andererseits hatte sie es ganz bewusst nicht getan. Sie wollte das Gespräch so kurz wie möglich halten.

„Annabelle“, begann die Alte, „ich bin zwar alt, aber ich bin nicht dumm. Und ich sehe, dass wir alle, alle Bewohner der Anderswelt ein Problem haben werden, wenn die grüne Muschel deinen Zwillingsbruder wieder ausspeit.“

Sie lächelte spöttisch. „Du wirst die Erste sein, die seine Rache zu spüren bekommt. Seine Begeisterung, von dir in die Muschel gestoßen worden zu sein, wird sich in Grenzen halten.“

Annabelle machte den Mund auf, um etwas zu erwidern, aber Cybill ließ sie nicht zu Wort kommen.

Gebieterisch hob sie die Hand. „Lass mich ausreden. Du musst einen Weg finden, deinen Bruder im Zaum zu halten.“

„Wie stellst du dir das vor? Leathan ist ignorant und stur. Er ist der verzogene Sohn seiner Mutter. Maia ist mit ihm in sein Land gezogen, nachdem er den alten Herrschersitz in Schutt und Asche gelegt hat, obwohl auch sie dabei fast zu Tode gekommen wäre.“

Cybill beobachtete Annabelle sehr genau, als sie sprach. Da saß eine aufgebrachte aber offensichtlich auch traurige Frau vor ihr, die es nicht ertrug, dass der Bruder ihr vorgezogen wurde. Wie abhängig wir doch ein Leben lang von der Zuneigung und Liebe unserer Umgebung sind, dachte Cybill.

Annabelle machte normalerweise einen unabhängigen, geradezu gefühlskalten Eindruck. Das was sie jetzt aus ihren Worten heraushörte, sagte ihr etwas ganz Anderes. “Ich kann sehr wohl auf mich selbst aufpassen und was die Anderen angeht, jeder ist sich selbst der Nächste.“

Da war sie wieder die alte Annabelle, anmaßend und gefühllos.

Annabelle ärgerte sich über sich selbst. Was ging es die Alte an, wie sie über Maia und Leathan dachte. Sie hatte schon viel zu viel gesagt.

„Und nun lass mich allein, es gibt Wichtigeres für mich. Ich bin noch immer mit meinem Bruder fertig geworden. Solange er in der Muschel sitzt“, sie lachte gehässig, „besteht kein Anlass etwas zu unternehmen.“

Cybill erhob sich. „Er wird nicht mehr lange dort eingeschlossen sein. Er tötet die Fische und andere Lebewesen. Odine verlangt, dass er das Neue Meer verlässt. Sie hat Magalie um Hilfe gebeten. Die Nixen sind alleine nicht imstande, die Muschel zu öffnen.“ Damit begab sich die alte Herrscherin zur Tür.

„Dort bist du also gewesen, bei Magalie.“

„Ich war bei den Grotten. Ich wollte den Mann sehen, den meine Tochter liebt.“

„Deine Tochter?“

„Magalie ist meine Tochter.“ Amüsiert betrachtete Cybill Annabelles Mienenspiel, das von Fassungslosigkeit zu Verstehen und dann zu blinder Wut wechselte.

„Deswegen also diese Prophezeiung. Faith sollte die Macht für Magalie sichern. Sie war immer als deine Nachfolgerin vorgesehen? War das so? Weder Leathan noch ich sollten jemals eine Chance bekommen?“

„Annabelle, ich habe immer gehofft, dass weder du noch Leathan meine Nachfolger werden würdet. Mit dieser Hoffnung stand ich aber nicht allein. Selbst euer eigener Vater, der alte Herrscher, und Maia, eure Mutter, hielten euch für zu egozentrisch, zu gierig. Wenn man nicht imstande ist sich selbst zurückzunehmen, sich nicht für den Nabel der Welt zu halten, kann man keine Verantwortung für andere übernehmen. Das ist der Grund, weshalb ich die beiden Teile des magischen Medaillons getrennt versteckt habe. Denn wer es besitzt und seinen Zauber entdeckt, hat die größte Macht in der Anderswelt. Magalie war damals noch zu jung, um die Macht zu übernehmen.”

„Zwei Teile?“ Annabelles Augenbrauen fuhren in die Höhe. Ihr Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

„Das Zeichen der Macht besteht aus zwei Teilen. Eines der Teile hat dein Bruder in der Festung gefunden, im Glauben es sei vollständig. Das Andere war immer ganz in deiner Nähe.“

„In meiner Nähe?“

Wie ein Papagei wiederholte Annabelle alles, was Cybill ihr zu erklären versuchte.

Die alte Herrscherin zeigte auf die beiden wunderschön gearbeiteten Jadefiguren, die auf einem Podest aus purem Gold standen.

„Ohne das kleine Medaillon, das einst um den Hals dieser männlichen Jadefigur hing, war das Kleinod, das dein Bruder trug, unvollständig und weniger mächtig. Wenn ihr beide nicht in ständiger Feindschaft gelebt hättet, wäre es möglich gewesen, die beiden Teile zusammenzufügen. Das war die Chance für euch, die einzige.“

„Es ist mit Robert verschwunden.“

Cybill drehte sich um und verließ eilig den Raum. Sie musste das Lachen unterdrücken, als ihr einfiel, was Magalie ihr erzählt hatte.

Robert hatte das kleine Medaillon tatsächlich in Gedanken eingesteckt. Oskar hatte es ihm gestohlen, bevor er es wieder zurückbringen konnte. Und Oskar war es auch, der es Magalie „geschenkt“ hatte.

Sie lachte wieder. Diese Glitter, nichts war vor ihnen sicher. Sie waren begnadete Diebe. Es lag ihnen im Blut zu stehlen. Was sie erbeutet hatten, gaben sie bereitwillig wieder her oder verschenkten es. Diesen grünen Elfen ging es nur um das Vergnügen, sich zu nehmen, was ihnen nicht gehörte, besitzen wollten sie nichts.

Annabelle sah wie Cybill mit zuckenden Schultern den Raum verließ. Lachte diese alte Frau etwa über sie? In ohnmächtiger Wut blieb sie zurück.

Verschwendete Zeit.

Wäre ihr Bruder bei ihr willkommen gewesen, hätte er ihr Medaillon als Teil seines Eigenen erkannt. Dann wäre es vielleicht möglich gewesen, sich die Macht zu teilen, wie es eigentlich vorgesehen war.

Jahrhundertelang hatte es immer zwei Herrscher gegeben. Jetzt besaß Magalie die Macht alleine. Wen würde sie bitten, sie mit ihr zu teilen?

Faith und Richard

Подняться наверх