Читать книгу Tatjana - Stadt am Strom - Ursula Tintelnot - Страница 2
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»Beug dich weiter zurück, Tanja, wenn du den Speer wirfst.«
Tatjana hob folgsam den Arm. Ihr schlanker Körper wurde zum Bogen, zu einer Silhouette vor dem weißen Studiohintergrund. Das lange kastanienbraune Haar berührte fast den Fußboden. Ihr Nacken schmerzte.
»Gut, jetzt haben wir es.« Theo scrollte über sein Tablet und schaute noch einmal auf einen größeren Bildschirm. »Für heute können wir Schluss machen. Danke Tanja.«
Tatjana stieg über Kabelknäuel, umrundete Kameras, die auf Stativen herumstanden und eilte hinter einen Vorhang, um sich umzuziehen. Nach der Hitze unter den Lampen im Atelier fror sie jetzt. Sie zog sich einen Rollkragenpullover und eine schwarze Steppweste über.
»Ich bin weg, ciao.«
Theo winkte hinter ihr her.
Eine bezaubernde junge Frau, dachte er. Und immer gut gelaunt, nie zickig wie einige seiner anderen Models.
Aber strenggenommen war sie ja auch keines.
Tatjana sauste über den Parkplatz, schloss ihren uralten mintgrünen Van auf, startete und gab Gas. Schon wieder zu spät, verflixt. Monika war eine sehr geduldige Frau, aber irgendwann würde ihr der Kragen platzen. Und Max brauchte seinen Mittagsschlaf.
Tatjana mochte Theo. Er war ein guter Freund, aber sie liebte die Arbeit bei dem Fotografen nicht. Das Geld, das sie bei ihm verdiente, brauchte sie. Sie war ihm dankbar, dass er sie immer mal wieder buchte. Und sie hatte den Verdacht, dass er ihr mehr zahlte, als er müsste.
Jetzt parkte sie den Wagen völlig unvorschriftsmäßig in der zweiten Reihe und hoffte, dass die Aufschrift »Antiquariat Larina« die Polizei davon überzeugen würde, dass sie in einer dringenden geschäftlichen Mission unterwegs sei.
»Entschuldige, Monika, hat mal wieder länger gedauert.«
»Macht nix, Schätzchen«, erwiderte Monika grinsend.
Tatjana ging in die Hocke und breitet die Arme aus. Sie bewunderte die Geschwindigkeit, mit der Max auf sie zu krabbelte.
Als sie ihren Sohn wenig später im Kindersitz festschnallte, dachte sie, was für ein Glück sie mit Monika hatte. Diese runde dunkelhäutige Frau besaß ein wunderbar gelassenes Gemüt. Nichts konnte sie aus der Ruhe bringen und sie liebte Tatjanas elf Monate alten Sohn Maximilian.
Tatjana fädelte sich in den Verkehr ein. Wieder kein Parkplatz in der ganzen Straße, aber diesmal war wenigstens ihre eigene schmale Auffahrt frei. Sie hob Max aus seinem Kindersitz, ging an dem kleinen Schaufenster ihres Antiquariats vorbei und lief mit ihm auf dem Arm zu ihrer Haustür gleich daneben.
»Du musst jetzt schlafen, mein Kleiner.«
»Da dada«, war das Letzte, was das müde Kerlchen von sich gab.
Sie stellte das Baby-Phon an und benutzte die Wendeltreppe, die sie direkt aus ihrer Wohnung ins Innere ihres kleinen Antiquariates führte.
Es roch nach frischem Kaffee und alten Büchern. Sie mochte diesen staubigen, leicht muffigen Geruch nach altem Papier, der im Raum hing.
Fritzi stand auf der höchsten Stufe einer Leiter, mit der man an den Regalen entlangfahren konnte. Durch die offene Tür konnte sie Freak im Büro sehen. Er nannte sich selber so und erwartete auch, so angesprochen zu werden. Freak saß vor ihrem PC. Er trug wie üblich ein schwarzes Kapuzenshirt über seinen Jeans.
Ein Mann stand mit dem Rücken zu ihr an einem der Regale. Seine schlanken Finger glitten langsam an den Buchrücken entlang.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Er fuhr herum. Sie hatte ihn erschreckt.
»Suchen Sie etwas Bestimmtes?« Tatjana bemühte sich um einen ruhigen Tonfall.
»Führen Sie auch Musikalien?« Die Stimme war tief.
Seine Augen sind blau wie Stahl, dachte sie, und genau so hart.
Sie führte ihn zu einem niedrigen Schrank, schloss ihn auf und zog die oberste Schublade heraus. »Ich gebe Ihnen Handschuhe, falls Sie die Blätter aus den Hüllen nehmen möchten.«
Nachdem sie Fritzi ein Zeichen gegeben hatte, verschwand sie im Büro, um sich eine Tasse Kaffee zu holen. Im Baby-Phone auf dem Schreibtisch hörte sie das leise Schnurcheln von Max oben in der Wohnung.
«Wir haben in der letzten Woche so gut wie nichts verkauft«, sagte Freak statt einer Begrüßung.
Tatjana legte das Geld, das Theo ihr gegeben hatte, in eine Kassette und meinte trocken: »Erzähl mir was Neues.«
»Da ist eine Anfrage reingekommen.«
»Anfrage?«
»Naja, mehr ein Angebot.«
»Zeig her!« Sie beugte sich über Bildschirm und las die Mail. »Ich könnte morgen dort hinfahren.«
Freak schwenkte den Drehsessel herum und sah zu Tatjana auf. »Das können wir uns nicht leisten. Du solltest lieber die Sachen verkaufen, die hier im Laden rumstehen. Ich werde einen neuen Katalog erstellen.«
»Mach das.«
Sie nahm sich vor, trotzdem die Adresse aufzusuchen und sich die Bibliothek anzusehen, die da katalogisiert und aufgelöst werden sollte. Sie nahm jedenfalls an, dass der Besitzer sie verkaufen wollte.
Tatjana hoffte jedes Mal, wenn solch ein Angebot kam, dass sie auf einen Schatz stoßen würde. Ein verlorengeglaubtes Buch, eine Erstausgabe oder, sie sah den schweigsamen Kunden in den Noten blättern, das Libretto zu einer nie aufgeführten Oper des Belcanto.
~~~
Tatjana sah dem Fremden nach. Sein grauer langer Mantel verschwamm im niedergehenden Regen. Kaum war er verschwunden, öffnete sich die Ladentür erneut. Fritzi war gerade dabei, die Schublade mit den Notenblättern abzuschließen. Die beiden Männer, die den Laden betraten, waren nicht wirklich grob, aber sie verhinderten, dass sie den Schrank verschließen konnte.
»Wir interessieren uns für Noten, lassen Sie doch mal sehen.«
Tatjana kam, ihren Kaffeebecher in der Hand, aus dem Büro.
»Ist gut Fritzi, ich kümmere mich um die Herren.«
Vor dem Haus stand eine dunkle Limousine, mit laufendem Motor. Die Männer, die sich für die Notenblätter interessierten, fingerten mit schwarzen Lederhandschuhen die vergilbten Blätter aus ihren Plastikhüllen.
»So geht das nicht.« Tatjanas Stimme verlor ihren warmen Glanz. »Dafür gibt es besondere Handschuhe.«
Als die Ladentür sich erneut öffnete, verließen die Zwei erstaunlich schnell das Antiquariat.
»Alles in Ordnung bei dir?«
»Ich weiß nicht, Adam, diese Flegel«, sie wies mit dem Kopf zu dem Auto, das sich gerade in Bewegung setzte, »kamen mir sehr suspekt vor.«
Adam sah dem Wagen nach und registrierte automatisch die Autonummer.
»Meinst du, ich könnte auch einen Kaffee bekommen?«
»Freak hat die Macht über die Maschine, frag ihn.«
Sie sah ihm hinterher, als er ins Büro marschierte, nach einem Zettel griff, um die Nummer der Limousine zu notieren und sich gleichzeitig einen Kaffee einzuschenken.
»Soll ich mal nachsehen, wer der Halter ist?«, hörte sie Freak fragen.
»Untersteh dich, ich darf gar nicht wissen, dass du das kannst.«
Wenig später sah sie Freak Adam einen Zettel reichen. Die beiden verstanden sich gut, obwohl sie so unterschiedlich schienen. Freak war schmal, mittelgroß und trug einen nicht sehr überzeugenden Ziegenbart. Trotz seines jugendlichen Alters begann sich sein Haupthaar bereits zu lichten. Er war immer in Bewegung, nervös, selbst dann, wenn er vor dem PC saß.
Adam wirkte ausgeglichen und ruhig. Ein Bär, der aufmerksam durch sein Revier streifte. Ein auffallender Mann mit dichtem, immer ein wenig zu langem dunkelblonden Haar. Eines hatten sie allerdings gemeinsam, sie brannten für ihre Arbeit. Freak war ein Hacker aus Leidenschaft. Adam ein leidenschaftlicher Läufer. Er erledigte seine Aufträge, während er ging. Seine überaus kompetente Assistentin machte Telefonate, Termine und recherchierte im Internet. Er selbst lehnte es ab, viel Zeit in seinem Büro zu verbringen.
Tatjana lehnte sich an den Türrahmen. »Seit wann bist du wieder hier?«
»Seit gestern.« Adam trank einen Schluck Kaffee und fragte: »Kannst du dir für Samstag einen Babysitter besorgen?«
»Ich weiß nicht. Ich müsste Monika anrufen.«
Fritzi, die ihre Stellung auf der Leiter wieder eingenommen hatte, rief: »Ich kann am Wochenende auf Max aufpassen. Es sei denn, Adam, du möchtest lieber mit mir ausgehen.«
»Ja, da fällt mir die Entscheidung jetzt sehr schwer.« Er lachte. »Aber nein, Fritzi, lieber nicht, ich habe Angst, dass mich dein eifersüchtiger Macker verprügelt.«
Das Baby Phone gab Geräusche von sich. Tatjana löste sich vom Türrahmen, reichte Adam ihre Tasse und eilte die Eisentreppe hinauf, um nach ihrem Söhnchen zu sehen.
~~~
Max hatte sich am Gitter seines Bettes hochgezogen und streckte ihr beide Arme entgegen. »Mama.«
Außer Tatjana verstand noch niemand sein Geplapper. Sie drückte ihr Gesicht in seinen roten störrischen Haarschopf. Seine Bäckchen glühten vom Schlaf.
»Mein Schatz,« flüsterte sie. »Wo dein Papa wohl gerade ist?«
Jake war vor Wochen mal wieder in eines der Kriegsgebiete aufgebrochen, aus denen einige Journalisten nicht mehr zurückgekehrt waren. Sie wusste, dass sie ihn nicht zurückhalten konnte und versuchte es auch nicht, aber sie hatte Angst um ihn. Seine Suche nach dieser Form von Abenteuern, die in ihren Augen fast einer Todessehnsucht glich, konnte sie nicht verstehen.
Jake war Ire. Sie hatte sich vor fast zwei Jahren Hals über Kopf in diesen großen schlaksigen Kerl mit seinen unzähligen Sommersprossen verliebt. Geblieben war ihr ein bezauberndes Baby, das seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich war, und eine unbestimmte Sehnsucht nach dem Mann, der sich auf liebenswerte Weise immer Distanz bewahrte. Eine Eigenschaft, die ihn zum Einzelgänger machte.
»Nein«, hatte er einmal gesagt, »ich bin kein Mann, den man heiratet.«
Er hat Recht, dachte Tatjana. Mit ihm verheiratet zu sein, konnte sie sich nicht vorstellen. Sie fütterte Max mit Bananenbrei und fragte sich, warum sich heute drei Kunden für ihre Notenblätter interessiert hatten.
Tatjana bot eine, für einen so kleinen Laden, ungewöhnlich große Menge Musikalien an. Sie liebte Musik und das Studium der Musikwissenschaft, neben ihrer Ausbildung in einem großen Auktionshaus in London, hatte ihr Interesse daran noch weiter geweckt. Ihr damaliger Mentor war ein hervorragender Lehrer und ihr Doktorvater gewesen. Professor Jones hatte sie ihr ausgezeichnetes Wissen zu verdanken. Noch heute konnte sie ihn anrufen und fragen, wenn sie selber nicht zurechtkam. Ihre Doktorarbeit hatte sie ihrem Vater gewidmet.
Normalerweise verschickte sie Angebote online. Mit der Zeit hatte sie sich einen kleinen ausgesuchten Kundenstamm aufgebaut. Sie kannte die Sammler und wusste, wer was suchte. Geeignete Objekte bot sie gezielt per Mail an. Ihr Antiquariat lag in einer engen Straße, in die sich nur wenig Laufkundschaft verirrte.
Das Haus stand eingeklemmt zwischen zwei wesentlich höheren und breiteren. Es hatte zwei Stockwerke mit jeweils drei Zimmern, einer großen Küche und einem kleinen Bad. Und es gehörte ihr. Seit ihr Vater vor einem halben Jahr gestorben war, stand die Wohnung im zweiten Stock leer.
Nachdem sie Max gewickelt hatte, ging sie mit ihm auf dem Arm nach unten. »Wir gehen jetzt arbeiten, mein Schatz.«
~~~
»Adam meldet sich bei dir«, rief Fritzi ihr zu. »Freak ist auch gegangen, er musste zur Uni.«
Tatjana zerrte das Laufställchen aus einer Ecke im Büro und setzte Max hinein. In dem winzigen Hof hinter dem Haus saß der Rote auf einer Bank und starrte sie an.
»Jaja, ich komm schon.«
Sie öffnete ihm die Tür. Ohne sie zu beachten, schritt er, den Schwanz wie eine Flagge gehisst, an ihr vorüber zu seinem Futternapf. Eines Tages war der Kater aufgetaucht und geblieben.
Sie fuhr den Computer hoch und sah sich den neuen Katalog an, den sie heute noch rausschicken wollte. Für einige der Bücher aus einem Nachlass, hoffte sie schnell einen Käufer zu finden. Das Läuten der Ladenglocke ließ sie aufblicken.
»Jemand Lust auf Kaffee?« Helen stand zwischen den Regalen und brachte den süßen Duft von Zimt mit. Sie balancierte ein Tablett mit Franzbrötchen und drei Coffee to go. »Was war denn bei euch heute los?«, fragte sie und stellte das Tablett neben Tatjana auf dem Schreibtisch ab.
Helen betrieb mit Herbert, ihrem Mann, die Konditorei gegenüber und hatte neben köstlichstem Gebäck auch einen hervorragenden Blick auf Tatjanas Laden. Ihr entging nichts, was in der Straße passierte.
Tatjana dachte: Helen weiß sogar, dass nur sie, Maximilian und Fritzi im Laden waren.
»Hallo Maximilian.« Max bekam ein Milchbrötchen.
»Mumm.« Ihr Sohn lachte Helen an und griff danach. Die beiden hatten ein sehr inniges Verhältnis, was nicht zuletzt auf dieser Art von Bestechung beruhte.
»Ja, wir hatten eine Kundenschwemme wie selten.«
»Die Männer waren auch bei mir«, sagte Helen. »Sie haben am Stehtisch Kaffee getrunken und deinen Laden beobachtet. Als der Typ in dem langen grauen Mantel deinen Laden verließ, sind sie rübergegangen.« Sie trank einen Schluck Kaffee und meinte dann: »Ich hatte den Eindruck, sie hätten darauf gewartet. Pass bloß auf, Tanja.«
Fritzi kaute mit offensichtlichem Genuss ihr Franzbrötchen. »Die sind auffällig schnell verschwunden, als Adam erschien.«
»Ist mir auch aufgefallen«, Helen schnappte sich ihr Tablett und zauste Maximilians Locken, »ich geh dann mal. Wenn was ist, schick ich Herbert mit der Teigrolle.«
»Eine beängstigende Vorstellung.« Tatjana lachte.
Herbert war ein Riese mit Händen wie Schaufeln und dem Gemüt eines Rehkitzes. Aber auch ihr war nicht ganz wohl, wenn sie an die heutigen Besucher dachte.
~~~
Tatjana schloss die Tür hinter Fritzi ab, löschte das Licht und setzte sich ihren Sohn auf die Hüfte. Der Rote schlich hinter ihr her. Meistens war er nachts unterwegs. Manchmal allerdings suchte er ihre Nähe und schlief in der Küche auf der Fensterbank. So wie heute.
Sie setzte Max in sein Kinderstühlchen und machte ihm ein Butterbrot, das sie in winzige Stücke schnitt. Nach dem Essen ließ sie sich in einen Sessel sinken und gab ihm sein Fläschchen. Ein Ritual, das sie beide liebten. Eine knappe Stunde später saßen Mutter und Sohn in der Badewanne und plantschten im warmen Wasser. Nach einer weiteren Stunde schlief Max in seinem Bettchen, während Tatjana, eingewickelt in ihren Bademantel, auf dem Sofa lag und sich »Eugen Onegin«, eine Oper von Tschaikowsky, ansah.
Sie liebte diese Musik und die Geschichte rührte sie immer wieder tief: Ein junges Mädchen, Tatjana, verliebt sich in einen Mann, Eugen Onegin, der sie kühl, ja arrogant abweist. Jahre später trifft Onegin auf eine schöne gereifte Frau, in die er sich unsterblich verliebt. Es ist Tatjana, inzwischen Fürstin Gremin. Jetzt ist sie es, die ihn zurückweist. Obwohl sie ihn noch liebt, wird sie ihrem Mann treu bleiben. Sein letzter Aufschrei: »Du bist Mein«, verhallt ungehört. Tschaikowsky hatte diese Oper nach einer Vorlage Alexander Puschkins komponiert.
Sie griff nach dem Buch, das neben dem Rotweinglas auf dem Tisch lag. »Geliebte Freundin: Tschaikowskys Leben und sein Briefwechsel mit Nadeshda von Meck.« Die beiden hatten sich lange schmachtende Briefe geschrieben, aber vereinbart, sich niemals zu treffen.
Mitten in der Nacht wurde Tatjana von einem Geräusch geweckt. Sie war mit dem Buch in der Hand eingeschlafen. Der Kater kratzte am Fenster und maunzte.
»Ich komm ja schon.« Sie stand auf, um ihm das Küchenfenster zu öffnen. Er sprang auf das kleine Vordach darunter und verschwand. Tatjana registrierte eine Bewegung. War da ein Schatten in ihrem kleinen Hof? Sie stand noch eine Weile, versuchte etwas zu erkennen und seufzte erleichtert, als sie kurz darauf das Liebesgeschrei einer Katze hörte, die den Roten vermutlich aufgescheucht hatte. Er sorgte pflichtschuldig und unermüdlich für Nachwuchs im gesamten Quartier.
Wie gut, dachte sie, während sie Max zudeckte und schläfrig in ihr Bett kroch, dass ich keine rollige Katze habe.
Tatjana lag ganz still. Sie konnte das Gebrabbel ihres Sohnes hören. Sie wusste, dass er bereits im Bettchen stand und sie beobachtete. Wenn sie sich ruhig verhielte, würde er noch eine Weile mit sich selbst sprechen, wenn sie auch nur mit der Wimper zuckte … Sie öffnete ihr rechtes Auge einen winzigen Spalt. Der Wecker zeigte sechs Uhr.
Max rüttelte glücklich am Gitter seines Bettchens. »Mamamam.«
Natürlich hatte er erkannt, dass seine Mutter endlich aufgewacht war. Sie holte ihn zu sich ins Bett. Das allmorgendliche Aufwachritual begann.
~~~
Tatjana stellte das Radio lauter. »Ein bewaffneter Raubüberfall …«, der Rest der Nachricht ging in Maximilians Gebrüll unter.
»Nicht schlimm, mein Schatz. Mama pustet.« Sie stellte ihre heiße Kaffeetasse außer Reichweite und nahm Max auf den Arm. »Mama hat nicht aufgepasst.« Sie pustete auf seine Finger, während sie mit ihm in der Küche hin und her lief. Er strahlte sie unter Tränen an und fand ihr Pusten offenbar sehr erheiternd. Der Schrecken war schon vergessen.
Das Wetter war schön. Sie beschloss, Max zu Fuß zu Monika zu bringen. Auf dem Rückweg konnte sie einkaufen und dann das Geschäft öffnen.
»Hast du gehört?«
»Was?« Tatjana stand nach dem Einkaufen an einem der Stehtische vor Helens Konditorei, trank einen Kaffee und biss in ihr Croissant.
Pünktlich um zehn Uhr öffnete sie ihren Laden. Ihre Einkäufe stellte sie auf der Treppe ab.
Sie dachte an das, was Helen ihr gerade erzählt hatte. »Muller & Töchter«, ein großes Antiquariat, war in der Nacht überfallen worden. Mehrere Männer sollten sich Zugang verschafft haben. Von ihnen gab es bisher keine Spur. Ob die Männer, die gestern bei ihr gewesen waren, etwas damit zu tun hatten?
Sammler waren das jedenfalls nicht. Mit Lederhandschuhen, pah, niemals. Jemand, der sich auskannte, hätte diese kostbaren Blätter nicht ohne Schutz berührt. Der Kunde im grauen Mantel ja, er schien zu wissen, wie man sich verhielt. Er hatte die Noten nicht aus ihren schützenden Hüllen entfernt.
Ach verdammt, dachte sie, als sie den PC hochfuhr. Mein Tiefkühlspinat und das Eis. Sie rannte die Stufen der Wendeltreppe mit den Einkäufen hinauf und verstaute beides im Tiefkühler.
Als sie Minuten später wieder im Laden war, stand er da. Der Mann im grauen Mantel. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Er nickte kurz und wandte sich wieder den alten Musikzeitschriften zu. Die Tür zum Büro ließ sie offen, setzte die Kaffeemaschine in Gang und hoffte auf Fritzi.
Sie fühlte sich nicht sonderlich wohl alleine mit diesem Kunden. Erleichtert hörte sie, wie sich die Eingangstür öffnete. Aber es war nicht Fritzi, die eintrat.
»Moin!« Der Briefträger warf einen Stapel Briefe auf einen der Tische und wandte sich zum Gehen.
»Manni!« Tatjanas Stimme klang anders als sonst.
»Hi, Tanja.« Er blieb stehen. »Ich hab frische Franzbrötchen von Helen mitgebracht und der Kaffee ist fertig.« Einer solchen Verlockung konnte Manni nicht widerstehen.
»Bin spät dran.«
Das sagte Manni immer. Aber seine Figur sprach davon, dass er selten nein sagte zu einer Einladung zu Kaffee und Gebäck. Und ganz sicher nicht bei Tatjana, die er still verehrte. Er nahm den Stapel Briefe und ging an dem einzigen Kunden vorbei ins Büro.
»Wie geht’s? Deine Frau hat die Grippe überstanden?«
»Ja, alles gut, sie hat die Kinder und mich nicht angesteckt. Und gestern durfte sie zum ersten Mal wieder aufstehen.«
Er legte die Briefe auf ihren Schreibtisch, folgte ihrem Blick, und hob fragend eine Braue. Tatjana nickte kaum merklich.
»Haben Sie noch mehr davon?« Ihr Kunde hielt jetzt zwei Hefte, die sich mit Tschaikowsky beschäftigten, in den Händen. »Leider, nein. Aber ich kann für Sie danach suchen und Sie benachrichtigen, wenn ich etwas finde.« Sie ging auf ihn zu.
»Danke, ich komme wieder.«
Oh je, dachte sie.
»Was kostet dieses?« Er zahlte den überhöhten Preis, den Tatjana verlangte, ohne mit der Wimper zu zucken, und ging.
»Alles klar?«
»Danke Manni, der war mir ein bisschen unheimlich.«
»Gerne.« Manni hob die Hand zum Gruß. Als er die Tür öffnete, kam Fritzi herein.
»Hi, Manni. Tut mir leid«, sagte sie atemlos zu Tatjana.
»Manni hat mich bewacht. Der graue Mantel war wieder da.«
»Oh? Du hast ihn schon getauft, kommt er wieder?«
»Ich fürchte ja.«
Fritzi zog die Lade der altmodischen eisernen Kasse auf. »Er hat was gekauft?«
»Ja. Ich habe einen absurd hohen Preis verlangt in der Hoffnung, dass er nicht wiederkommt. Ich fürchte, es wird nichts nützen.«
Fritzi lachte, sie amüsierte sich über Tatjanas Angewohnheit, ihren Kunden Spitznamen zu geben. »Der graue Mantel«, ja, das passte.
Tatjana wandte sich wieder dem Bildschirm zu.
Fritzi sprach mit einem Jungen, der Comic Hefte verkaufen wollte. »Nein, wir kaufen so etwas nicht«, erklärte sie ihm. »Damit musst du zu …«
Tatjana hörte nicht weiter zu. Ihre Aufmerksamkeit galt einer Mail, die sie gerade geöffnet hatte. Einer ihrer Kunden suchte eine englische Ausgabe von Daniel Defoe. »Fritzi? Kannst du mal nachsehen, ich bin sicher, dass wir ein Exemplar davon …«
»Ja«, sagte sie, »haben wir, das muss …«, sie ging zu einem Regal, das mit gläsernen Schiebetüren verschlossen war. »Hier, ich hab es.« Sie schob eine der Türen zur Seite.
Der Rest des Vormittags verging damit, bestellte Bücher zu verpacken. Tatjana fuhr zur Post und gab die Päckchen auf.
~~~
»Ach, Adam, ich hab’s vergessen.« Tatjana sah ihn schuldbewusst an.
»Vielleicht sollte ich doch Fritzi fragen, ob sie mit mir in die Oper geht?«
»Oh, nein, Adam, Konzert gerne, Theater auch, aber nicht Oper.« Fritzi blickte von der höchsten Stufe der Leiter herab.
»Fritzi, steht dein Angebot noch? Es ist zu spät, Monika zu fragen.«
»Ja, klar, ich hab Zeit. Ich bring Freddy mit. Er ist begeistert von der Größe deiner Glotze.«
»Du hörst es, Adam, was gibt es denn?«
»Eugen Onegin.«
»Oh.«
Er bemerkte das leise Zögern in ihrer Stimme. Da er wusste, wie gerne sie in die Oper ging, verstand er es nicht. »Was ist? Die Besetzung ist ausgezeichnet.«
Tatjana ging vor Adam her ins Büro. »Gar nichts, oder doch. Gestern war der Mann im grauen Mantel wieder hier. Er interessiert sich offensichtlich für Tschaikowsky.« Sie reichte Adam einen Becher Kaffee. »Als ich fragte, ob ich ihn benachrichtigen soll, wenn ich etwas finde, hat er abgelehnt. Im Moment begegnet mir Tschaikowsky dauernd im Netz.« Sie seufzte. »Irgendwie ist die Branche in Aufruhr. Anfragen nach Noten häufen sich. Ich verstehe es nicht.« Sie sah kurz auf den Bildschirm und klappte ihn dann zu.
»Die beiden Männer, die so schnell gegangen sind, als du den Laden betreten hast, das kann doch kein Zufall sein.« Fragend sah sie zu ihm auf. »Und der Überfall auf das Antiquariat Muller & Töchter? Ich weiß, dass die eine riesige Musikaliensammlung besitzen.«
Adam fragte sich, ob er ihr sagen sollte, was er wusste, entschied sich aber dagegen. Ich muss sie nicht noch mehr beunruhigen, dachte er.
In diesem Moment öffnete sich die Tür lautlos und erinnerte Tatjana an das fehlende Gebimmel der kleinen Glocke darüber. Sie vergaß es allerdings sofort wieder, als sie in das glückliche Gesichtchen ihres Sohnes sah.
»Mamam.« Er streckte ihr beide Arme entgegen.
Monika gab Max an seine Mutter weiter. »Morgen um die gleiche Zeit?«
»Ja, bis morgen, danke Monika.«
Monika schob die Kinderkarre neben den Eingang, winkte und ging. Tatjana nickte ihr zu und gab Max einen Kuss. Als sie aufblickte, sah sie Adams amüsierten und gleichzeitig zärtlichen Ausdruck.
»Hallo Maximilian.« Er legte ihm den Finger an die Nase. Max patschte begeistert auf Adams Nase.
Dieses Begrüßungszeremoniell liebte Max. »Da dada.« Er strahlte Adam an und ließ sich von dem großen Mann auf den Arm nehmen. In seinen Armen, dachte Tatjana, sieht mein Baby winzig aus.
»Erzählst du mir, was du in Paris gemacht hast?«
»Ja, aber nicht heute, ich muss noch arbeiten.« Er überließ ihr Max und verabschiedete sich, indem er sie auf beide Wangen küsste.
Sie roch den angenehmen Duft seiner abgewetzten Lederjacke.
»Ciao, bis Samstag, ich hol dich ab.«
Adam war ein halber Italiener. Seine Mutter, eine schöne Römerin, hatte ihm dunkelgraue Augen und ein klassisches Profil vererbt. Das Interesse an Musik, Kunst und Literatur war ohne Frage das Erbe seines Vaters.
~~~
»Wow!« Freddy stieß einen bewundernden Pfiff aus, als Tatjana die Tür öffnete.
»Reiß dich zusammen, Freddy«, drohte Fritzi und umarmte sie, »du siehst toll aus, Tanja.«
»Danke. Bier steht im Kühlschrank. Nehmt euch zu essen, was ihr mögt.« Freddy balgte sich bereits mit Max auf dem Sofa und kitzelte ihn durch.
»Adam muss jeden Moment kommen.« Als es klingelte, warf sie sich ihren Mantel über und lief die Treppe hinab. Noch auf den letzten Stufen hörte sie das glucksende Lachen ihres Sohnes. Freddy war verrückt nach Kindern. Fritzi liebte Max, aber eigene Kinder wollte sie nicht.
Dreieinhalb Stunden später, an der Garderobe, noch ganz erfüllt von der Musik Tschaikowskys und einer herzerweichenden, tragischen Liebesgeschichte, ließ Tatjana sich von Adam den Mantel über die Schultern legen.
»Ich habe einen Tisch im 'Opera' reserviert.«
»Wunderbar, ich habe einen Bärenhunger.«
»Kein Wunder, nach dem, was wir gerade auf der Bühne gesehen haben.«
Tatsächlich hatte die Regie geschwelgt in bäuerlichen Gelagen zum Erntedank und einem äußerst appetitanregenden Fest im Haus des Fürsten Gremin.
Tatjana lachte. »Das wird dich einiges kosten, mein Lieber.«
Adam betrachtete sie. Sie trug ein schmales hochgeschlossenes Kleid mit langen Ärmeln, einem geschlitzten Rücken, raffiniert und schlicht. »Vielleicht sollte ich dich doch gleich nach Hause bringen, dann musst du dir keine Sorgen um die Figur machen.«
»Geizhals.«
Das Restaurant lag auf der anderen Straßenseite, gegenüber der Oper. Es war laut, und die Gespräche drehten sich, soweit sie hören konnten, um die Aufführung. Tatjana griff nach der Karte. Aber in Gedanken war sie weit weg. Sie dachte an die Zeit, die sie auf einem Gut in der Nähe von Rom verbracht hatte.
Sie war sieben Jahre alt gewesen, als sie zum ersten Mal mit ihrem Vater dorthin gefahren war. Die Zeit des Erntedankfestes. Und dort war sie Adam begegnet. Die erste Liebe meines Lebens, dachte sie. Sie hatte es ihm nie gestanden.
»Tatjana!« Sie sah auf. »Woran denkst du?« Adam lächelte sie an. »Was willst du bestellen?«
»Oh, ich war ganz wo anders.« Sie sah noch einmal in die Karte. »Ich nehme das Cordon bleu von der Maispoularde.«
Adam bestellte für sie beide.
»Und wo genau ist ‘ganz wo anders’?« Seine Finger drehten den Stiel seines Weinglases, während er sie abwartend ansah.
»Cascina Posa.« Der Name kam weich, fast zärtlich aus ihrem Mund.
Damals, vor mehr als zwanzig Jahren, war er siebzehn gewesen. Er konnte sich gut an Tatjana erinnern. An ihr kastanienbraunes üppiges Haar, das in der Sonne wie flüssiges Gold schimmerte, ihre grünen Augen, ihre zierliche Gestalt. Ein zauberhaftes Kind, wie eine Elfe aus einer anderen Welt, wenn sie unter den silbernen Olivenbäumen mit den weißen Welpen seiner Hündin Zita tobte. Ihr Vater war ein freundlicher ruhiger Mann, der mit seiner Tochter sprach, als sei sie eine Erwachsene. Er wusste nicht, wann seine Mutter die Geliebte dieses Mannes geworden war. Es hatte eine Weile gedauert, bis er es begriff.
‘Cascina Posa’ war das Landgut seiner Mutter in der Nähe Roms. Seine Eltern lebten seit zehn Jahren getrennt. Die Römerin hatte sich im kalten Norden nicht wohlgefühlt und war mit ihm zurück in ihre Heimat gegangen. Acht Jahre lang verbrachte Tatjana mit ihrem Vater alle Ferien in Italien. Auch nach dem frühen Tod seiner Mutter war der Kontakt nicht abgerissen. Tatjanas Vater war für ihn ein väterlicher Freund geworden, auf dessen Rat er nicht verzichten wollte.
»Du warst ein süßes kleines Mädchen.«
»Und du eine Art großer Bruder, der mir kaum Beachtung schenkte.«
Ja, dachte Adam, bloß ein großer Bruder.
»Nachtisch?«
»Danke, nein, ich möchte nur noch einen Espresso. Dann muss ich nach Hause, damit Fritzi und Freddy ins Bett kommen.
~~~
»Moin«, grummelte Freak, als Tatjana ihren Laden betrat.
Die Glocke läutete wieder nicht, verdammt. Sie hatte Max zu Monika gebracht. Er würde dort auch seinen Mittagsschlaf halten. Zeit, sich um ihren Laden zu kümmern. »Kaffee?«
Freak blickte auf. »Sieh mal, das ist doch Adam?« Er drehte den Monitor zu ihr.
The Daily Mirror berichtete vom spektakulären Wiederauftauchen einer verschwundenen Handschrift. Unter dem Artikel ein etwas unscharfes Bild. Eine Gruppe von Männern in Anzügen lächelte zufrieden in die Kamera. Adam in seiner zerschlissenen Lederjacke starrte verdrießlich ins Objektiv.
Tatjana lachte. »Er wird sich ärgern. Seinem Beruf ist es eher abträglich, wenn man ihn erkennt.«
»Idioten.« Freak ließ offen, wen er damit meinte, die Männer auf dem Foto oder die Fotografen.
»Such mir doch bitte die Adresse raus, die …«
»Wir haben kein Geld, Tanja.«
»Ich habe noch zwei Jobs bei Theo, das krieg ich schon hin. Außerdem ist noch gar nicht gesagt, dass ich was kaufe.« Sie drückte ihm eine Tasse Kaffee in die Hand. »Ich will doch nur mal sehen, was genau die anbieten.
»Ich kenn dich«, seufzte Freak und suchte die Mails von letzter Woche heraus. »Da ist sie, ich schreib sie dir auf. Und denk an meine Worte, wir haben kein Geld.« Er streckte die Hand nach ihrem Handy aus. »Ich geb dir die Daten ins Navi ein.«
»Danke.«
Tatjana genoss die Fahrt. Noch hatte sich der Hochnebel nicht verflüchtigt. Aber die Sonne suchte sich schon ihren Weg. Felder und Wiesen lagen ganz verwaschen da.
Am Telefon hatte sich eine Frau mit einer so tiefen Stimme gemeldet, dass sie im ersten Moment glaubte, mit einem Mann zu sprechen. Sie könne zwischen zwölf und sechzehn Uhr kommen. Jetzt bog sie in eine Lindenallee ein, wie das Navi ihr befahl, und fuhr auf ein Haus zu, dessen honiggelbe Mauern in der gerade hervorbrechenden Sonne aufleuchteten. »Sie haben Ihr Ziel erreicht«, sagte das Navi.
Ein Schlösschen, dachte Tatjana.
Ihr klappriger grüner Van passte weder farblich, noch was seine Eleganz anging, in diese Umgebung.
»Ich kann dich schließlich nicht in meine Schultertasche stecken«, sagte sie leise und parkte ihn zwischen einem dunklen Mercedes und einem niedrigen Sportwagen.
Ein lang gezogener Pfiff ließ sie innehalten. Tatjana drehte sich um, steckte zwei Finger in den Mund und erwiderte mit einem gellenden Pfiff.
Ein junger Mann, halb verborgen hinter einer niedrigen Hecke, verbeugte sich und lachte. Seine dunklen Locken leuchteten in der Sonne. »Ah, Bella!«
Tatjana winkte, lachte zurück und schritt über weißen Kies bis zu einer hohen Eingangstür aus dunklem Holz. Keine Klingel. Sie bewegte einen eisernen Klopfer. Die Tür öffnete sich fast sofort. »Geh an deine Arbeit, Giovanni«, rief er über sie hinweg. Er musste sie beobachtet haben.
Herrlich, dachte sie, wenn Arroganz einen Namen hätte … Der Mann vor ihr trug weiße Handschuhe und, nein …, dass es das noch gab, er war offensichtlich der Butler.
Er betrachtete sie von oben herab. Die hochgezogenen Augenbrauen zeigten deutlich, dass er sie lieber am Dienstboteneingang gesehen hätte. Tatjana trug enge Jeans, Stiefel mit halbhohen Absätzen, die ihre langen Beine noch länger wirken ließen, und unter ihrer warmen Jacke ein weißes Herrenhemd.
»Mein Name ist Larina, ich werde erwartet.«
»Hansen!« Sie hörte die tiefe Stimme, die sie vom Telefon kannte. »Bringen Sie Frau Doktor Larina in die Bibliothek.«
Der Ausdruck in seinem Gesicht veränderte sich augenblicklich. Er öffnete die Tür ein gutes Stück weiter, verbeugte sich und ließ sie eintreten. Was so ein kleiner Titel ausmachen konnte. Amüsant.
Hinter ihm durchquerte sie eine riesige Halle, in deren schwarzweißen Fliesen sie sich spiegeln konnte. Die Wände waren vertäfelt und ein blankpolierter Handlauf begleitete eine geschwungene Treppe in den ersten Stock des Hauses.
Beim Anblick der Bibliothek, in die der Butler sie führte, stockte Tatjana der Atem. Der Raum war größer als ihr Laden. Er schob sich weit in einen gepflegten Garten hinein. Eine Glaskuppel hoch oben bildete die Decke. Dieser lichtdurchflutete Raum sah aus, als sei er dem Haus nachträglich hinzugefügt worden. Es war völlig ausgeschlossen, dass sie hier etwas kaufen würde. Freak konnte ganz beruhigt sein. Wie kamen die Besitzer nur auf sie? Muller & Töchter wäre hier eher der Ansprechpartner gewesen.
Tatjana war allein und versank in dem Duft von Papier, Zigarren und Leder. Sie hatte nicht bemerkt, dass Hansen gegangen war. Sie ließ ihre Tasche von der Schulter gleiten und ging an den Bücherschränken vorbei.
Rötlich schimmerte das Holz. Jedes Bord war einzeln durch eine gläserne Schiebetür verschlossen, um die Bücher vor Staub zu schützen. Sie schob keine der Türen zur Seite. Aber sie las die Titel und genoss den Anblick der zum Teil ledergebundenen kostbaren Buchrücken. Einige der Titel waren weder alphabetisiert, noch standen sie in erkennbarer Beziehung zueinander. Reiseberichte standen zwischen Romanen, Biographien und Sachbüchern über Musik, ein scheinbar wahlloses Durcheinander.
Tatjana beugte sich gerade über einen Tisch, unter dessen Glasplatte einige Handschriften zu sehen waren, als sich die Tür hinter ihr öffnete. »Guten Tag, Doktor Larina.« Er mochte um die fünfzig sein. Ein Mann mit einem ausgeprägten Kinn und aufmerksamem Blick. Sein dichtes Haar war fast weiß. Tatjana fuhr hoch. Sie war völlig versunken in dieser Welt, wusste nicht einmal wie lange sie schon hier war.
»Ich sehe, Sie haben sich nicht gelangweilt?«
Sie lächelte. »Nein, in diesem Raum kann man sich selbst dann nicht langweilen, wenn man keine Zeile liest.«
Er quittierte das mit einem flüchtigen Lächeln. »Ich bin Alexander Lenski.« Er reichte Tatjana die Hand.
»Lenski?« Sie wiederholte den Namen. »Die Mailadresse war eine andere.«
»Ich weiß, Borodin, der Name meines Onkels, er ist vor drei Wochen gestorben.«
»Das tut mir leid.« Du hast es eilig, diese wunderschöne Bibliothek zu verscherbeln, dachte Tatjana und ihre anfängliche Sympathie verflog. Sie sah auf die Uhr. »Ich habe mir nur einen flüchtigen Eindruck verschaffen können«, sagte sie, »aber Sie sollten sich einen anderen Käufer suchen.«
»Warum?«
»Dies ist eine Nummer zu groß für mich, ich habe nur ein kleines Antiquariat.« »Was würden Sie mir empfehlen?«
Dir, du geldgeiler Mistkerl, würde ich empfehlen, diese Kostbarkeit zu hüten wie einen Schatz.
»Wenden Sie sich an Muller & Töchter. Ich gebe Ihnen die Adresse.«
Ihre eben noch warme Stimme klang jetzt kalt und abweisend. Genau so hatte sein alter Freund sie ihm beschrieben.
>Sie war eine meiner besten Studentinnen, intelligent und achtsam, wenn es um die Sache ging, aber aufbrausend und ungeduldig wenn ihr etwas nicht gefiel< >Und<, hatte Professor Jones grinsend hinzugefügt, >sehr attraktiv, für mich leider zu jung<
Er blieb ganz ernst, als er sagte: »Sie missverstehen mich, ich will diese Bücher nicht verkaufen.«
»Was, aber …?«
»Ich hatte Sie lediglich gebeten, die Bücher zu schätzen.« Er sah, wie es in ihr arbeitete. Sie wünschte sich, jedes einzelne Buch in die Hand nehmen zu dürfen, aber sie traute ihm nicht. Wenn sie glaubte, er wolle sie verkaufen, würde sie keinen Finger für ihn rühren. »Und ich suche jemanden, der diese Sammlung katalogisieren kann.«
Die Verwirrung und der Kampf mit sich selbst standen ihr ins Gesicht geschrieben.
»Warum ich? Ich bin sicher, es gibt sehr kompetente Kollegen, die diese Arbeit auch leisten könnten.«
»Da bin ich mir sicher«, sagte er mühsam beherrscht, »aber ich will Sie. Sie sind mir empfohlen worden.«
»Von wem?«
Er wurde der Antwort enthoben, als die Tür sich öffnete und eine ältere Frau eintrat. Mit ihr erschien ein junges Mädchen, das einen kleinen Serviertisch vor sich herschob. »Danke, Millie, Sie können gehen.«
»Olga, das ist Doktor Larina.« Er schenkte eine Tasse Kaffee ein und reichte sie Tatjana. »Olga macht den besten Käsekuchen, den ich je gegessen habe, Sie müssen ihn probieren.«
»Sagen Sie Olga zu mir.« Die ältere Frau reichte Tatjana die Hand.
»Ich habe Doktor Larina gebeten …«
»Lassen Sie den Doktor weg«, unterbrach Tatjana ihn.
»Gut, ich habe Frau Larina gebeten, die Sammlung hier zu katalogisieren.«
»Dann werde ich Sie in Zukunft öfter sehen«, sagte Olga mit ihrer schönen tiefen Stimme.
»Der Kuchen ist wirklich vorzüglich.« Tatjana griff nach ihrer Serviette.
»Und, werden Sie diese Arbeit übernehmen?«
»Ich brauche Bedenkzeit, ich habe ein Kind, einen Laden …«
»Es ist nicht eilig, vielleicht können Sie einen oder zwei Tage in der Woche herkommen?«
Tatjana stand auf. »Ich denke drüber nach und rufe Sie an.«
Das würde eine Sisyphusarbeit werden, dachte sie, und Monate dauern. Selbst wenn sie es schaffte, zweimal in der Woche hier zu arbeiten, was nicht sehr wahrscheinlich war, wie sollte sie das organisieren? Auf der anderen Seite konnte sie das Geld gebrauchen. Was sie wirklich neugierig machte, war die Frage, wer sie empfohlen hatte. Lenski hatte ihre Frage nicht beantwortet.
Lenski, wie merkwürdig, ein Name aus Eugen Onegin. Schon wieder Tschaikowsky. Plötzlich fröstelte sie. Sie fuhr schneller. Die letzten Sonnenstrahlen hingen tief und blendeten sie. Es wurde höchste Zeit, Max abzuholen.
~~~
Als sie ihren Sohn bei Monika abholte, war es bereits dunkel und Max so müde, dass er im Kindersitz eingeschlafen war, bevor sie den Van auf ihrer Einfahrt parken konnte. Nur die Schaufenster ihres Ladens waren noch erleuchtet. Das Innere lag im Dunkeln.
Mit Max auf dem Arm versuchte sie das Schloss ihrer Eingangstür zu finden, als sie Schritte hörte. Die Straße war dunkler als gewöhnlich. Auch aus der Konditorei gegenüber drang kein Licht herüber.
»Abend, Tanja.«
Sie zuckte zusammen. »Herbert, du hast mich erschreckt.«
»Tut mir leid, wollte ich nicht. Die Straßenlaternen sind ausgefallen und Helen meinte, ich sollte mal nachsehen, wo du bleibst.«
»Danke, Herbert. Es ist alles in Ordnung.«
Herbert nahm ihr den Schlüssel ab und öffnete die Tür. »Gute Nacht.«
»Schlaf gut.« Sie lief mit Max die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf. Tatjana drückte den schlafenden Jungen an sich, es war tröstlich den warmen kleinen Körper zu spüren.
Herbert ging noch einmal die Straße entlang, die jetzt ruhig da lag. Von den dunklen Gestalten, die Helen glaubte, beobachtet zu haben, war nichts zu sehen. Du siehst gerne mal Gespenster, meine Liebe. Und liest zu viele Fantasy Romane.
Max wachte auch nicht auf, als sie ihn in sein Bettchen legte. Tatjana küsste ihn auf die roten Locken und atmete seinen Duft tief ein. Sie kramte ihr Handy aus der Tasche, die sie achtlos auf den Boden hatte fallen lassen.
Keine Nachricht von Jake. Wo bist du, du verdammter sturer Ire? Dein Sohn wird ohne dich aufwachsen müssen. Sie seufzte auf, ich mach mir Sorgen um dich und erzähle Max jeden Tag von dir.
Sie rief Jakes Bild auf dem Display auf. Ein Abenteurer mit gegerbter Haut, kräftigen weißen Zähnen und dem Lächeln eines Gewinners. Er hatte nicht lange gebraucht, sie in sein Bett zu kriegen. Die Wochen mit ihm waren ein Rausch. Er ging, wann es ihm passte, aber er kehrte immer wieder zu ihr zurück. Wie ihr Kater. Er hatte nichts Verletzendes an sich, sie verzieh ihm alles. Vermutlich war er nicht einmal treu. Sein Selbstbewusstsein machte seine Umgebung sprachlos.
Und dann war Jake weg. Er sagte ihr nie, wohin er fuhr.
Eine Woche nach Maximilians Geburt stand er wieder vor ihrer Tür. Unrasiert und hohlwangig. Er war begeistert von seinem Sohn. Aber bei ihm bleiben konnte er nicht.
Die Krisengebiete der Welt zogen ihn an. Für Jake bestand das Leben aus dem Dreigestirn Liebe, Krieg und Tod. Und die Bilder, die er mitbrachte, zeugten von seinem Mitleiden. Fast zärtlich ging seine Kamera mit dem Entsetzen um.
Menschen blickten in Jakes Kamera, Menschen, die vor Minuten noch gelebt hatten. Verstümmelt und blutüberströmt lagen sie da und sahen dem Betrachter direkt in die Augen. Flehend und voller Angst, als ob sie ihr Sterben noch nicht begriffen.
Er wollte aufrütteln und es gelang ihm. Wenn er zu Hause war, arbeitete er unermüdlich, machte Ausstellungen, reiste, hielt Vorträge und kam erschöpft zu Tatjana zurück.
Acht Wochen und kein einziges Wort von ihm. Wo bist du?
Sie liebte ihn und wollte, dass er lebte, wollte, dass Max einen Vater hatte. Tatjana fand in dieser Nacht wenig Schlaf. Die Gedanken an Jake hielten sie wach. Kurz nachdem sie endlich doch eingeschlafen war, weckte sie ein sehr ausgeschlafener fröhlicher Max. Er lenkte sie auf das aktuelle Problem.
Sie schaute aus dem Küchenfenster hinunter in den kleinen Hof. Der Rote saß zwischen den Pflanzkübeln und starrte zu ihr hinauf. Du wirst dich noch eine Weile gedulden müssen.
Max krähte erwartungsvoll in seinem Kinderstühlchen, während sie die Milchflasche unter laufendem Wasser kühlte. Zuerst musste sie mit Freak und Fritzi sprechen. Und dann natürlich mit Monika. Monika hatte selbst zwei schulpflichtige Kinder. Sie würde Max regelmäßig einmal in der Woche einen ganzen Tag nehmen müssen.
Sie hob Max auf ihren Schoß. Er griff mit beiden Händchen nach der Flasche, saugte gierig und sah sie dabei unverwandt an.
»Mal sehen, ob wir das hinkriegen, mein Schatz.« Es juckte sie in den Fingern, diese Bücher zu berühren und zu schätzen. Das war einer der interessantesten Aspekte ihres Berufes.
Mit Max auf der Hüfte stieg Tatjana die Treppe hinunter. Im Büro öffnete sie zuerst die Tür für den Kater. Er würdigte sie keines Blickes, aber rieb sich ganz kurz an ihrem Bein.
»Morgen.« Fritzi erschien mit einem Becher Kaffee von Helen in der Hand.
Die Glocke, Mist, sie hatte es wieder vergessen. »Geh doch mal schnell rüber und frag Hermi, ob er sich um unsere Türglocke kümmern kann.«
Hermi war der Besitzer von 'Löffel und Gabel' neben der Konditorei. Er führte Küchengeräte und Eisenwaren und war äußerst hilfsbereit, wenn es um kleinere Reparaturen in der Nachbarschaft ging.
Fritzi machte kehrt. Die Tür öffnete sich ein zweites Mal. Katja, Helens sechzehnjährige Tochter kam herein.
»Hi, Tanja, darf ich mit Max in den Park gehen?«
Als ihr Sohn Katjas Stimme hörte, rüttelte er am Gitter seines Ställchens wie ein Schimpanse an den Käfigstangen und stieß ganz ähnliche Laute aus.
Katja lachte und hob ihn hoch. »Wollen wir einen Ausflug machen, Mäxchen?«
»Hast du keine Schule?«
»Ne, Brückentag.«
Tatjana fuhr ihren PC hoch. Gleich die erste Mail war von Lenski. Er machte ihr ein sehr ordentliches Angebot. Wenn sie den Auftrag annähme, müsste sie sich für die nächsten Monate keine Sorgen mehr machen.
Erst muss ich meine Termine sortieren. Und ich will wissen, für wen ich da arbeite. »Mal sehen, ob ich dich finde«, murmelte sie vor sich hin. Sie tippte einige Suchworte ein, aber sie fand keinen Hinweis auf einen Sammler mit dem Namen Borodin.
Eine wissenschaftliche Abhandlung über ein Werk von Tschaikowsky gab es. Der Verfasser war ein Borodin. Er hatte dem russischen Komponisten eine Messe zugeordnet, die nach Meinung anderer Fachleute nicht von ihm komponiert worden sein konnte.
Sie erinnerte sich, während ihres Studiums über ihn gelesen zu haben. Seine Thesen zum Werk des Komponisten waren immer umstritten gewesen. Er galt als streitbarer eitler Wissenschaftler. Seine Arbeit war dennoch ein Standardwerk geworden.
Sie fand einen Pianisten mit diesem Namen und einen Komponisten, dessen einzige Oper sie sogar kannte. Aber der war vor mehr als hundert Jahren gestorben.
Merkwürdig. Er musste doch irgendwo zu finden sein? Der Onkel von Alexander Lenski war aber nicht zu finden, er blieb ein Phantom. Eigentlich kannte sie die meisten Sammler, und diese Bibliothek hätte ihr eigentlich nicht entgehen dürfen. Sie machte sich eine Notiz. > Jones anrufen < Vielleicht konnte ihr alter Lehrer ihr weiterhelfen.
Als sie aus dem Büro kam, sah sie Hermi über der Tür auf einer Leiter schweben. »Hallo, Tanja«, schrie er von oben.
»Hallo, Hermi«, schrie sie ebenso laut zurück.
Hermi war schwerhörig und weigerte sich, ein Hörgerät zu tragen.
»Ich bin gleich fertig«, brüllte er, »ist nur eine Kleinigkeit.«
Tatjana ging ins Büro, um frischen Kaffee zu machen. Erfahrungsgemäß würde Hermi die Glocke umsonst reparieren, aber ein Tasse Kaffee mit ihr und Fritzi und den dazugehörigen Plausch nicht ausschlagen.
Die Nachrichten, die Hermi zum Besten gab, waren beunruhigend.
»Gestern gegen acht Uhr habe ich zwei Kerle gesehen, die sich vor deinem Schaufenster herumgedrückt haben.« Er nahm einen Schluck Kaffee. »Dann, als Herbert rüberging, sind sie ziemlich schnell verschwunden.«
»Das hat mir Herbert gar nicht gesagt.«
»Er wollte dich sicher nicht beunruhigen«, vermutete Fritzi. »Oder er hat sie nicht gesehen, es war ja stockdunkel in der Straße.«
In dieser schmalen Straße, mitten in der Altstadt, war die Nachbarschaft noch in Ordnung. Jeder kannte Jeden. Sie war nicht besonders ängstlich.