Читать книгу Tatjana - Stadt am Strom - Ursula Tintelnot - Страница 3

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Endlich war Max eingeschlafen. Tatjana hatte es sich zusammen mit den fettigen Auberginen-Küchlein vom Türken und einem Salat auf dem Sofa gemütlich gemacht. Sie sah die Tagesschau. In Afghanistan war wieder ein Lastwagen hochgegangen, wieder waren Menschen gestorben, wie es hieß, auch ein ausländischer Journalist. Sie stellte den Teller zur Seite. Ihr schmeckte es nicht mehr.

Jake, wo bist du? War er überhaupt dort? Sie stand auf und sah nach Max, der mit roten Bäckchen selig schlief. Wie gut, dass du noch nichts verstehst vom Krieg, noch nicht um deinen Papa bangst.

Als es klingelte, schrak sie zusammen. Sie zog die Tür zum Schafzimmer leise hinter sich zu und schaltete die Gegensprechanlage im Flur ein.

»Adam mit einer Flasche Wein.« Er hielt die Flasche in die Kamera über der Tür. »Mach auf, Mädchen.« Adam hatte, nach dem Tod ihres Vaters, auf dieser Sicherheitsmaßnahme bestanden.

Sie drückte auf den Türöffner, gleich darauf stapfte er die Stufen nach oben.

»Hübsches Nachthemd«, brummte er, als sie die Arme um seinen Hals schlang. Er schob sie von sich weg und feixte.

Sie hatte die Ärmel einer eindeutig männlichen Schlafanzugjacke, die ihr bis über die Knie ging, mehrfach umgekrempelt. Ihre Füße steckten in Ringelsocken aus dicker Wolle.

Sie stellte zwei Gläser auf den Tisch und legte einen Korkenzieher daneben. Mit untergeschlagenen Beinen setzte Tatjana sich in eine Sofaecke. Adam beobachtete sie, während er die Flasche öffnete. Sie machte sich Sorgen, er konnte es in ihrem Gesicht lesen. Er sah die Siebenjährige vor sich, die unglücklich unter den Olivenbäumen nach dem dritten Welpen suchte, der plötzlich verschwunden war. Mehr als zwanzig Jahre waren seitdem vergangen. Aus dem niedlichen Mädchen war eine schöne Frau geworden.

Sie hatte, genau wie er, die Nachrichten gesehen.

»Hier.« Er reichte ihr ein Glas.

»Danke, Adam, dass du gekommen bist.«

Sie waren sich so vertraut, dass es keiner Erklärungen oder Fragen bedurfte, warum er gekommen war. Eine Weile tranken sie schweigend.

»Von Jake hast du nichts gehört?«

Tatjana schüttelte den Kopf. »Seit acht Wochen nicht. Ich weiß nie, wo er sich aufhält, dieser verflixte Idiot.« Sie seufzte. »Er kann in Israel sein oder im Irak oder in …«

»Komm her.«

Wie damals, als kleines Mädchen mit einem aufgeschlagenen Knie, kam sie jetzt und ließ sich von ihm in die Arme nehmen.

Ich liebe dich, mein Mädchen, dachte er, und hielt sie fest. Er würde es ihr niemals sagen. Sie sah in ihm den großen Bruder und so musste es auch bleiben.

Ihre Atemzüge wurden regelmäßig. Tatjana war in seinen Armen eingeschlafen. Adam kannte Jake gut. Der Ire war ein Draufgänger, einer, der sich von einer Gefahr in die andere stürzte, und so charmant, dass ihm die Frauen zu Füßen lagen.

Musstest du dich ausgerechnet in Tatjana verlieben, mein Freund? Ja, das musste er wohl. Er konnte es ihm nicht übel nehmen. Sie war so lebendig und klug, besaß Humor und sie war verdammt sexy. Er hatte immer gezögert, ihr seine Liebe zu gestehen. Er hatte sich gescheut, ihr einen Mann mit so unsteten Lebensgewohnheiten wie den seinen zuzumuten. Auf der Suche nach verschwundenen Manuskripten und Kunstgegenständen führte sein Beruf ihn oft ins Ausland. Und ungefährlich war diese Suche auch nicht. Jake schien solche Skrupel nicht zu haben.

Es roch nach Kaffee, als Tatjana erwachte.

»Max?«

Ihr Sohn saß vollständig angezogen in seinem Kinderstuhl und saugte an seiner Milchflasche. Er verzog seine Lippen zu seinem süßen Lächeln, als er sie sah, hörte aber nicht auf zu trinken.

Adam stellte einen Korb mit frischem Gebäck auf den Tisch. »Gut geschlafen?«

»Sehr gut«, sie streckte sich, »ich kann mich nicht erinnern, wie ich in mein Bett gekommen bin.«

»Ich habe mir erlaubt, dich hineinzulegen, nachdem du nach übermäßigem Alkoholgenuss eingeschlafen warst.«

Sie lachte. »Du hast mich betrunken gemacht?«

»Soweit ich gesehen habe, hast du das selbst bewerkstelligt.« Adam reichte ihr eine Tasse Kaffee. »Dein Sofa ist ein bisschen zu kurz für mich.« Er verzog sein Gesicht und rieb sich den Rücken. »Ich war froh, dass Maximilian mich geweckt hat. Schönen Gruß von Helen.«

»Danke. Ich möchte nicht wissen, was sie jetzt denkt.«

»Ich auch nicht. Mein Ruf ist vermutlich dahin.« Tatjana verschluckte sich beinahe, und lachte ihr überwältigendes Lachen.

~~~

Tatjana ließ sich Zeit mit ihrer Entscheidung. Sie hatte Professor Jones noch nicht erreicht. Er würde erst in vierzehn Tagen wieder zurück im Museum sein. Wo er sich aufhielt, hatte man ihr nicht gesagt und sie hatte nicht gefragt. Alexander Lenski war mit einer längeren Bedenkzeit einverstanden. Den Grund für diese Bitte nannte sie ihm nicht.

Sie saß an ihrem Schreibtisch im Büro und dachte nach. Adam hatte gezögert mit der Antwort auf ihre Frage am Telefon.

»Kennst du eine Sammlung Borodin?«

»Ich meine mich zu erinnern.« Er überlegte. »Vor Jahren muss es einige Aufregung in der Branche gegeben haben. Damals, meine ich, sei auch der Name Borodin gefallen. Soweit ich weiß, ging es um angeblich wieder aufgetauchte Tschaikowsky-Briefe, aber es war nur ein Gerücht. Vielleicht wurden auch Briefe gesucht, so genau weiß ich das nicht mehr.«

Schon wieder dieser Komponist. Sie fragte: »Das ist Jahre her? «

Er nickte in sein leeres Büro hinein. Ruth war noch nicht da. Seit er sich von Clara getrennt hatte, schlief er im Hinterzimmer seines Detektivbüros.

Ich muss mir endlich eine richtige Wohnung suchen.

»Bist du noch da?«

»Entschuldige, ja, ich habe überlegt. Mindestens zehn Jahre.«

»Ich konnte im Netz nichts finden«, drängte Tatjana.

Es war möglich, dass die Meldung nie die Öffentlichkeit erreicht hatte. Um Nachforschungen nicht zu gefährden oder um zu vermeiden, dass sich Betrüger, die Geld witterten, einmischten. Wenn die Branche schwieg, konnte nichts nach außen dringen.

Er selbst war zu dieser Zeit hinter einem verschwundenen Picasso her gewesen. Als er ihn fand, hatte sich herausgestellt, dass die ebenfalls verschwundene Gattin des schwerreichen Eigentümers mit Bild und Chauffeur nach Südamerika unterwegs war. Er stellte das Paar in Brasilien. Sie hatte in der Halle des Flughafens ihre Damenpistole auf ihn gerichtet. Dem Chauffeur war es zu verdanken, dass er nur mit einem Streifschuss davongekommen war. Der Wert des Bildes betrug dreieinhalb Millionen Dollar.

»Ich werde nachsehen, ob ich etwas in meinen Aufzeichnungen habe«, sagte er. »Wenn es jemand findet, dann Ruth.«

»Danke, Adam, ruf mich an, wenn sie etwas gefunden hat.« Tatjana legte das Handy zu Seite.

Ruth war Adams rechte Hand. Eine attraktive intelligente Frau. Adam hatte sich vor einigen Monaten von seiner langjährigen Geliebten getrennt. Tatjana fragte sich, ob Ruth ihn tröstete. Aber vielleicht hatte er gar keinen Trost nötig? Den Grund für die endgültige Trennung kannte sie nicht.

Die Beziehung zu seiner Freundin war dramatisch gewesen. Stoff für eine Oper mit tragischem Ausgang. Clara, eine exzentrische schöne Lügnerin, war im Begriff, einen zehn Jahre jüngeren Erben zu ehelichen.

Du hast ihm bestimmt nicht dein wahres Alter verraten, vermutete Tatjana. Clara war zehn Jahre älter als sie selbst. Adam machte nicht den Eindruck, als ob er litte.

Sie sah auf den Kalender. Freak müsste gleich kommen. Es war Zeit für einen neuen Katalog und Rechnungen mussten überwiesen werden. Sie rief ihr Online-Banking auf und versenkte sich in eine Tätigkeit, die sie besonders wenig schätzte. Ihr Konto war bedenklich geschrumpft.

Fritzi machte gerade die Pakete für die Post fertig, als der Mann im grauen Mantel erschien. Tatjana hob den Kopf. Er stand wieder dort, wo er vor drei Wochen die Hefte der Tschaikowsky-Gesellschaft gefunden hatte. Sie meldete sich bei der Bank ab und griff nach dem Stapel Briefe und Päckchen, die auf ihrem Tisch lagen. Beim Durchblättern fand sie, was sie suchte.

»Ich habe gerade eine der Zeitschriften bekommen, die Sie suchen.«

Sie entfernte die Hülle und reichte ihm das Heft. Er nahm es entgegen, sagte aber nichts.

Ein Schwätzer bist du nicht. Sein stahlblauer Blick war intensiv und kühl, machte ihr aber dieses Mal keine Angst.

»Hi!« Freak riss die Tür auf.

Zufrieden registrierte Tatjana das zarte Bimmeln des Glöckchens darüber. In der Hand trug Freak eine braune Tüte, aus der es verführerisch nach Zimt duftete. Seine abgewetzte Jeans hatte unter dem Knie einen neuen Riss bekommen. Er müffelte.

»Wo hast du denn übernachtet?«

»Ich hab mich in der Stabi einschließen lassen.«

»Idiot«, grunzte Fritzi, »Kaffee?«

»Der würde mir das Leben retten.«

»Ich hoffe, du bist wach genug, einen Katalog mit den neuen Büchern zu erstellen.«

»Was hast du denn jetzt schon wieder eingekauft?« Freak fuhr sich theatralisch durchs schüttere Haar, was seine Frisur nicht besser machte.

Tatjana lachte. »Ich hab heute schon die Überweisungen gemacht, damit du nicht in Ohnmacht fällst.«

»Dafür ist Max offenbar ohnmächtig geworden.«

Ihr Sohn lag, Zeige - und Mittelfinger im Mund, in seinem Ställchen, drückte eine Stoffpuppe an sich und schlief mit roten Wangen.

»Wir sind heute sehr früh aufgestanden«, sagte Tatjana und gähnte. Sie nahm eine Decke und legte sie über ihr schlafendes Baby.

»Der schnarcht ja schon«, spottete Freak.

»Das hat er vom Vater.«

Sie legte eine Liste neben den PC. »Kannst du da schon mal nachforschen, ob es Angebote für diese Gesuche gibt? Aber erst den Katalog, bitte.« Die Liste enthielt Anfragen nach Büchern, die ihre Kunden suchten und die sie nicht selbst im Netz fanden.

»Wir brauchen einen zweiten Bildschirm«, grummelte Freak und schob sich den Rest seines Franzbrötchens in den Mund.

»Ach ja? Ich dachte, wir haben kein Geld?«

~~~

Der Mann im grauen Mantel war gegangen. Die Zeitschrift hatte er bei Fritzi bezahlt.

»Merkwürdiger Typ«, sagte sie, »und echt wortkarg.«

Katja kam gegen sechzehn Uhr, um mit Max in den Park zu gehen. Der kleine Kerl hatte den Mittagsschlaf tatsächlich in seinem Laufställchen verbracht. Die Geräusche um ihn herum ließen ihn völlig ungerührt. Nachdem Tatjana ihn anschließend frisch gewickelt, gefüttert und angezogen hatte, waren er und Katja quietschvergnügt abgezogen. Gleich darauf kam Theos Anruf.

»Tanja, ich brauche dich.«

Tatjana lachte. »Wann?«

Er erklärte ihr, dass es um drei Tage ginge und nannte ihr eine Summe, die äußerst attraktiv war. Dass das Ganze in Cornwall stattfinden sollte, machte es besonders reizvoll. Sie sah die in der Sonne rötlichen Felsen aus dem Meer aufragen, glitzerndes tiefblaues Wasser. Die einzige gemeinsame Reise mit Jake hatte sie an dieser Küste entlang bis nach Land's End geführt.

Diesmal würden sie an einer der felsigen Küsten bleiben. Theo wollte Modefotos für eine dieser Hochglanz-Zeitschriften machen, die sich Tatjana niemals kaufen würde, einfach deshalb nicht, weil sie sich kein einziges dieser Kleider leisten könnte. Monika hatte zugesagt Max zu hüten. Ihren Sohn alleine zu lassen, war ihr schwer gefallen.

Und jetzt stand sie frierend mit nackten Beinen in weißer Gischt am Fuß eines grauen Felsens, der wie ein Tor geformt im kalten Wasser stand. Nur in einem grauen durchsichtigen Seidenhemd, das feucht an ihrem Leib klebte, fror sie erbärmlich und bemühte sich um einen glücklichen Gesichtsausdruck.

Sie rannte in hauchdünnen Flatterkleidern am Strand entlang, stand vor einem Haus, das abweisend, ja fast feindselig hinter ihr senkrecht aus dem Felsen emporwuchs, stand dort, nur mit Top und Shorts bekleidet und lächelte strahlend in den schneidenden Wind. Tatjana lächelte in den Himmel, lächelte in die Kamera, lächelte das tiefblaue Meer an und Theo. Sie spürte ihre Füße nicht mehr.

Wenn ich das noch eine Minute länger machen muss, werde ich erfrieren. Sie zitterte. Es war Mitte April und noch kalt in England. »Ich brauche eine Pause, Theo.

»Ist gut, Tanja, ich glaube, dass wir nachher im Haus weiter machen können.«

In der riesigen Halle stand wenig später die gesamte Crew um den Bildschirm herum und betrachtete die Fotos.

»Ich glaube, wir haben es«, meinte Theo. Tatjana hatte heiß geduscht und kam, in einen Bademantel gehüllt, mit einem dicken Frotteetuch um den Hals zurück in die Halle. Erleichtert hörte sie Theos letzte Worte.

»Tee?« Er hielt ihr einen Becher entgegen.

»Danke, Theo.«

Während sie an dem brühheißen Getränk nippte, dachte sie an weitere Fotoserien, die sie mit Theos Team gemacht hatte. Er hatte ein Händchen fürs Extreme und forderte von seinen Modellen eine ganze Menge.

Pelz im Eis war eine Serie, die sie ein paar Jahre zuvor gemacht hatten. Das klang erst mal unspektakulär, wenn sie nur unter den Pelzen nicht halb nackt gewesen wäre. Sie war damals mit einer heftigen Erkältung nach Hause zurückgekehrt. Diesmal ging es um die Farbe Grau. Graue Edelklamotten vor grauem Ambiente.

Mit ihrem Teebecher in der Hand stieg sie die hohe Treppe nach oben und betrat einen gewaltigen Raum von überwältigender Helligkeit. Ein riesiges Sprossenfenster ließ so viel Licht in den Raum, dass er fast weiß wirkte. Von hier aus hatte sie einen Blick auf graugrüne Felsen, schier endlosen Himmel und Meer. Sie setzte sich auf die tiefe Fensterbank, schob sich eines der Kissen, die darauf lagen, in den Rücken und genoss die Ruhe.

Als sie wach wurde, dämmerte es bereits. In der Bucht weit unter ihr schaukelte ein Segler, dessen schwarze Takelage sich kaum gegen das jetzt graue Wasser abhob. Ein stolzer dunkler Schwan, dachte Tatjana.

Lucy, Theos Assistentin berührte sie an der Schulter. »Es geht weiter, Tanja.«

Lucy war Mädchen für alles. Klein und sehr agil. Theo hätte nicht gewusst, was er ohne sie machen sollte. Sie konnte von Kaffee kochen bis hin zum Schminken der Models alles.

Noch einen Tag Innenaufnahmen, dann würde sie Max wieder in die Arme nehmen. Sie sehnte sich nach ihrem Baby. Am letzten Abend saßen sie im Kings Arms bei Bier und Lammpastete. Theo hatte den Arm um sie gelegt.

»Du warst klasse, Tanja.«

»Ich schick dir die Arztrechnung, mein Lieber.«

Gelbe Butzenscheiben verströmten sanftes honigfarbenes Licht über altmodisches Mobiliar und den Fußboden.

Meine Güte, dachte Tatjana, das alles muss noch aus der Zeit der Rosenkriege stammen. Vor rund 600 Jahren. Sie probierte die Pastete in der Hoffnung, dass diese nicht ganz so alt sein möge.

~~~

Max fing an herzzerreißend zu weinen, als er seine Mutter wiedersah. Es war, als ob er erst in diesem Moment begriff, dass sie ihn verlassen hatte. Er klammerte sich an Monika und versteckte sein Köpfchen an ihrem ausladenden Busen. Ein letzter Schluchzer. Tatjana und Monika warteten geduldig ab. Dann endlich sah er sie an und streckte Tatjana seine Ärmchen entgegen.

»Ach, mein Schatz.« Selber den Tränen nah, nahm sie ihn in die Arme. »Mama lässt dich nie wieder alleine.«

»Aber er wird dich irgendwann alleine lassen, meine Süße.«

»Meine beiden sind auf dem besten Wege, und es gefällt mir.«

»So sehr, dass du dir wieder was Kleines ins Haus holst?«

Monika lachte. »Irgendwas muss ich tun.«

Ihr Mann verdiente gut, aber er war als Ingenieur viel, manchmal wochenlang unterwegs. Nein, nötig hatte sie es nicht zu arbeiten.

»Ich kann mich nicht mit einer Nadelarbeit in die Ecke setzen und Kissen besticken.«

Das konnte sich Tatjana auch nicht vorstellen.

»Und selbstgestrickte Pullover würden meine Kinder mit Sicherheit nicht tragen.«

Als das Telefon läutete, dachte sie sofort an Jake. Max lag in seinem Bettchen und schlief. Sie schloss leise die Tür und nahm den Hörer von der Station. Sie wusste inzwischen, dass nicht Jake in Afghanistan umgekommen war. Die Nachrichten am Tag nach dem Zwischenfall hatten den Namen des Unglücklichen genannt. Sie fragte sich, wie man den Tod dieses Menschen als Zwischenfall bezeichnen konnte. Und sie hatte ein schlechtes Gewissen, als sie spürte, mit welcher Erleichterung sie die Nachricht aufnahm. Nicht Jake. Er hatte sich noch immer nicht gemeldet. Auch jetzt war es nicht Jake, dessen Stimme sie hörte.

»Guten Abend, Tatjana.« Ruths helle, immer ein wenig atemlose Stimme. »Tut mir wahnsinnig leid, dass es so lange gedauert hat.«

Sie seufzte. Adams Unterlagen von vor zehn Jahren waren derartig unsortiert, um nicht zu sagen chaotisch, dass sie lange hatte suchen müssen, um etwas zu finden. Aber das teilte sie Tatjana nicht mit. Ruth war absolut loyal und würde selbst unter der Folter nichts gegen ihren Chef sagen.

»Hast du was herausgefunden?«

»Ich weiß nicht recht, ob es relevant ist.«

Tatjana hörte Papier rascheln. Dann wieder Ruths Stimme.

»Dem Datum nach ziemlich genau vor zehn Jahren kursierte das Gerücht, dass es unbekannte Tschaikowsky-Briefe gäbe. Soweit ich sehen kann, ist Adam dem nicht weiter nachgegangen.«

»Ah ja?«

»Ja, hier gibt es noch eine angeheftete Notiz.« Tatjana hörte Ruth blättern. »Da steht nur ein Name, mit Fragezeichen versehen.«

»Und wie lautet der Name?« Tatjana presste den Hörer fester ans Ohr.

»Igor Borodin.«

»Oh.«

»Sagt dir das was?«

»Ja, allerdings.« Sie berichtete Ruth von der Sammlung, die sie katalogisieren sollte. »Sein Besitzer«, sagte sie, »hieß Borodin. Aber niemand kennt ihn.«

»Hieß?«, hakte Ruth nach.

»Er ist gestorben«, erklärte Tatjana, »sein Erbe ist der potentielle Auftraggeber. Ich weiß nicht, ob ich annehmen soll. Wer weiß, in was ich da reingerate.«

»Ja, in der Branche ist alles möglich«, meinte Ruth.

»Nicht gerade tröstlich«, lachte Tatjana. »Wo ist Adam?«

»In den USA.«

»Aha, ein Fall?«

»Ja,« sagte Ruth, »hat er sich nicht von dir verabschiedet?«

»Ne, ich war in Cornwall mit Theo. Eiskalte Außenaufnahmen. Mein Handy habe ich nur benutzt, um Monika abends nach Maximilian zu fragen.«

Tatjana beendete nachdenklich das Gespräch. In den USA also, sie wusste, dass es keinen Zweck gehabt hätte, Ruth zu fragen, was er dort wollte. Adam hatte nach seinem Jurastudium den Schreibtisch zu Gunsten praktischer Arbeit verlassen. Ihm lag die Büroarbeit nicht. Der Zufall wollte es, dass er gebeten wurde, nach einem gestohlenen Kunstgegenstand zu fahnden. Irgendwann hatte sie herausgefunden, dass ihr Vater ihn für diese Nachforschungen vorgeschlagen hatte.

Adam wusste bis heute nicht, dass sein alter Freund ihn sanft in eine Richtung gestoßen hatte, der er bis heute begeistert folgte. Das Aufspüren von Kunstgegenständen und alten Manuskripten lag ihm im Blut. Offenbar konnte er sich mühelos in die Seele eines Verbrechers einfühlen.

Sie dachte, wenn dein Schicksal anders verlaufen wäre, hättest du dich mit Erfolg auch auf der Seite der Schurken wiederfinden können.

Tatjana lächelte, als sie an eines ihrer liebsten Kinderbücher dachte. Der Räuber Hotzenplotz. Ob es Max auch so gut gefallen würde wie ihr? Oben in der Wohnung ihres Vaters würde sie es sicher noch finden. Plötzlich kamen ihr die Tränen.

Ach, Papa, du hast alle meine Bücher aufgehoben. Für deine Kinder, hast du gesagt. Wie gut, dachte sie, dass du deinen einzigen Enkel noch sehen durftest.

Sie fragte sich, warum alle Männer, die in ihrem Leben eine Rolle spielten, Reisende waren. Adam auf der Suche nach Raubgut und Jake auf der Suche nach dem Tod. Aber auch Theo, der in der ganzen Welt herumfuhr, um seine zum Teil spektakulären Modeaufnahmen zu machen.

Und du Papa, du bist auf die große Reise gegangen, von der es keine Wiederkehr gibt.

Tatjana wischte sich die Tränen aus den Augen und sah noch einmal nach Max. Während sie sich ein Glas Rotwein eingoss, merkte sie, dass sie nicht zu Abend gegessen hatte. Sie fand ein Stück Käse und ein paar Kräcker.

Im IPod suchte sie ihre Lieblingsarien und setzte den Kopfhörer auf. Gleich darauf sprang der Rote zu ihr aufs Sofa. Der Kater ließ sich auf ihrem Bauch nieder und begann zu schnurren. Tatjana schloss die Augen.

~~~

Nachdem sie Max bei Monika abgesetzt hatte, fuhr Tatjana zu Muller & Töchter. Die Stadt war vollkommen überfüllt. Sie brauchte endlos lange, bis sie einen Parkplatz hinter der Börse gefunden hatte. Nach einem zehnminütigen Fußmarsch betrat sie das riesige Antiquariat. Sie kannte Simone Muller. Und sie war gespannt, was sie von ihr wollte. Eine Frau mit der Ausstrahlung einer Domina. Sie blickte in den verspiegelten Aufzug hinein. Was sie sah, war eine junge Frau in einem langen, sehr schicken leichten Mantel. Ein Geschenk der Modefirma, für die sie in Cornwall Aufnahmen gemacht hatten. Theo bestand immer darauf, dass sie sich eines der Stücke, die sie getragen hatte, aussuchen durfte. Den winzigen Sabberfleck am Revers konnte man kaum erkennen. Hoffentlich gab es hier keine Kamera. Tatjana bemühte sich um Haltung und schaute prüfend nach oben. Die Aufzugtüren öffneten sich. Der dicke Teppich unter ihren Füßen schluckte jedes Geräusch.

»Was kann ich für Sie tun?« Eine junge, sehr blonde Frau stand hinter einem rostfarbenen geschwungenen Eisentresen. Lilien in einer hohen Amphore verströmten einen schweren süßlichen Duft, der Tatjana fast betäubte.

»Frau Muller erwartet mich.« Tatjana reichte ihr eine Karte. Nach einem kurzen Blick darauf bat »Blondi« sie Platz zu nehmen und verschwand.

»Frau Muller lässt bitten.«

Tatjana legte die Zeitung zurück, ohne die Überschrift auf der Titelseite zu Ende gelesen zu haben. Vermisste Skulptur von Alberto Giacometti …

Schon durch die geschlossene Tür hörte sie Frau Mullers kalte Stimme. Sie kreischte fast ins Telefon.

»Ich will diese verdammten Briefe. Bin ich denn nur von unfähigen Idioten umgeben?« Wütend knallte sie den Hörer eines altmodischen Telefons auf die Gabel, als Tatjana den Raum betrat.

»Ah, Tatjana, schön, dass Sie sich Zeit nehmen konnten.« Ihr Lächeln ließ Tatjana an eine hungrige Muräne denken. Der schwarze Dobermann, der neben ihr saß und den Schreibtisch um einiges überragte, sah kaum weniger hungrig aus. Er ließ ein tiefes Grollen hören.

Ich mag dich auch nicht, Tatjana überlief es kalt.

»Ruhig, Eugen!« Simone Muller wies mit einer vagen Geste auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Sie stand weder auf, noch reichte sie ihrer Besucherin die Hand. Tatjana setzte sich und bot ihre ganze Willenskraft auf, um nicht loszulachen. Wie konnte man seinen Hund nach einem Opernhelden Tschaikowskys, Eugen, nennen?

»Ich will gleich zum Punkt kommen. Sie wissen, dass bei uns eingebrochen worden ist?«

Tatjana nickte.

»Ich möchte Sie warnen. Diese Verbrecher waren offenbar nur an Musikalien interessiert, aber sie sind gestört worden.« Sie trank einen Schluck Wasser und hinterließ den Abdruck ihres blutroten Lippenstifts auf dem Glas. Ihre kohlschwarz umrandeten Augen waren kalt wie ihre Stimme und blickten Tatjana bei dieser Mitteilung aufmerksam an.

Warum nur habe ich das Gefühl, dass du mich gar nicht warnen willst? Tatjana sagte nichts.

»Gab es in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches in Ihrem Umfeld?«

»Was sollte das gewesen sein, was meinen Sie damit?«

Simone erhob sich, trat an eines der hohen Fenster, die bis auf den Fußboden reichten, und starrte auf den Verkehr, der rund um den Binnensee der Innenstadt brauste. Sie trug ein knappes elegantes Kostüm und stand sicher auf so hohen Absätzen, dass Tatjana vom bloßen Hinsehen schwindlig wurde.

»Hatten Sie Anfragen, Angebote oder Besucher, die Ihnen seltsam oder ungewöhnlich vorkamen?«

Sie drehte sich um und beobachtete Tatjana genau. Sie zuckte nicht mit der Wimper, als sie behauptete, nichts Befremdliches bemerkt zu haben.

»Ich habe von einem kürzlich verstorbenen Sammler gehört, der in der Branche gänzlich unbekannt ist.«

»Und was hat das mit Ihrem Einbruch zu tun? Ist denn etwas gestohlen worden?«

Tatjana musste sich zusammenreißen, um nicht nach dem Namen des Sammlers zu fragen.

»Der Mann hieß Borodin, schon mal gehört?«

Diese Frau wollte sie nicht warnen, sondern ausfragen. Simone Muller hatte ihre Fragen übergangen. Tatjana überlegte, weswegen sie wirklich hier saß. Muller & Töchter war gegen Tatjanas Antiquariat ein Saurier, aber sie hatte verdammt gute Kontakte, nicht zuletzt durch Professor Jones und Adam. Das musste auch Simone Muller klar sein. Nicht umsonst war Tatjana einige Male schneller gewesen und hatte ihr ein gutes Geschäft vor der Nase weggeschnappt.

Tief in Gedanken ging sie zu ihrem mintgrünen Van. Sie dachte an den Mann im grauen Mantel. Hatte sie ihn eben wirklich in einem der Aufzüge zu Muller & Töchter verschwinden sehen?

Du siehst schon Gespenster, graue Mäntel gibt es wie Sand am Meer.

Seufzend entfernte sie den Strafzettel, der hinter dem Scheibenwischer ihres Autos klemmte. Sie hatte die Parkzeit überzogen.

~~~

Die Glocke über der Tür läutete ihre behagliche kleine Melodie. Eine Melodie, die sie Zeit ihres Lebens kannte. Wenn sie aus der Schule kam, war sie zuerst zu ihrem Vater in den Laden gegangen. Er hatte ihr immer zugehört, Verständnis für ihre Nöte und kindlichen Kümmernisse gehabt.

Du hast mich nie wie ein kleines Kind behandelt, Papa. Auch wenn er mit ihr sprach, sprach er die Sprache der Erwachsenen. In ihren Augen war er ein schöner Mann gewesen, intelligent und rücksichtsvoll. Heute, als Erwachsene, fragte sie sich manchmal, warum er nie wieder geheiratet hatte. Für ihn waren nur zwei Frauen wichtig gewesen, ihre Mutter und die Römerin. Beide waren gestorben, hatten ihn allein gelassen und ihm ihre Kinder anvertraut. Ihr Vater hatte Adam wie einen Sohn geliebt.

Adam, komm zurück, du wüsstest, was zu tun ist, dachte sie.

Irgendetwas war im Busch, aber sie konnte nicht erkennen, war es war. Adam mit seinem Gespür für Zwischentöne würde es erkennen. Freak schaute aus dem Büro.

»Komm mal her, Tanja, ich muss dir was zeigen.«

Fritzi war mit zwei Kunden beschäftigt und schüttelte unmerklich den Kopf, als Tatjana sie fragend ansah. Nein, sie kam alleine zurecht. Sie ging hinter Freak her ins Büro.

»Schließ die Tür.« Erstaunt kam sie seiner Bitte nach.

Das, was Freak ihr zeigte, machte Tatjana sprachlos. Offenbar wurden ihre Aktivitäten im Netz ausspioniert. Freak hatte bisher ohne Erfolg versucht herauszufinden, woher der Hacker kam. »Ich bleib dran«, sagte er tröstend, als er ihre besorgte Miene sah. »Er hinterlässt Spuren, ich werde ihn finden. Und wenn ich die ganze Nacht hier sitze.«

Nachdem sie Max bei Monika abgeholt hatte, war er nach den üblichen abendlichen Ritualen schnell eingeschlafen. Sie stand noch eine Weile an seinem Bettchen, dann stellte sie das Baby-Phone an und telefonierte mit dem Chinesen am Ende der Straße.

»Klopf an die Ladentür, wir arbeiten noch.« Sie hörte Kim kichern.

»Wir auch«, sagte er.

Tatjana lachte. »Bis gleich, tapferes Gold«.

Der Asiate hatte ihr einmal die Bedeutung seines Namens verraten. Hübsch, dachte sie und stellte den Hörer auf die Station zurück. Sie stieg die Treppe nach unten. Die durchbrochenen Metallstufen vibrierten unter ihren Schritten. Freak hing verbissen über der Tastatur. Er gab einen Befehl nach dem anderen ein, schaute nicht auf, als sie das Büro betrat.

»Verdammter Mistkerl, ich krieg dich, du Hurensohn«, knirschte er und zupfte so heftig an seinem Ziegenbart, dass Tatjana um dessen Bestand fürchtete.

Leises Schmatzen drang aus dem Lautsprecher des Baby-Phons. Max hatte mal wieder hörbar seine beiden Fingerchen im Mund.

Eine halbe Stunde später klopfte einer der sieben Söhne von 'tapferes Gold' an die Tür. Freak sah auf, als Tatjana ihm ein paar Frühlingsrollen und einen Plastikteller mit süßsaurem Fisch vor die Nase stellte. Sie selbst aß gebratene Nudeln mit Rindfleisch. Der Kater schlich um ihre Beine.

Oh nein. Tatjana sah auf die Uhr. Mäxchen turnte wach und fröhlich am Gitter seines Bettes. Es war spät geworden, gestern Nacht.

»Mama hat dich lieb, mein Schatz«, sagte sie zu Max, als sie ihn hochnahm, »aber deinen inneren Wecker musst du auf eine andere Zeit einstellen.«

Sie bemühte sich leise zu sein, um Freak nicht zu stören. Der Arme lag in totenähnlichem Schlaf auf ihrer Couch. Sie wusste nicht, wann er schlafen gegangen war, jedenfalls noch später als sie selbst. Ihr Sohn quietschte begeistert auf, als er den schlafenden Freak entdeckte.

Es war hoffnungslos. Freak stöhnte auf und zog sich die Wolldecke über den Kopf.

~~~

Tatjana rannte durch den strömenden Regen. Sie war völlig durchnässt, als sie die Tür ihres Ladens erreichte.

»Ich zieh mich schnell um, dann bin ich da.« Beinahe hätte sie einen Kunden umgerannt. »Entschuldigung«, keuchte sie und erreichte die Treppe.

»Eine sehr stürmische Person, ihre Chefin.«

Die Stimme kam ihr bekannt vor. Sie drehte sich nicht um, sondern eilte weiter die Treppe hinauf.

Woher wusste der Kerl, dass sie die Chefin war? Schöne melodische Stimme, fast ein Bass. Ein Bass? Wo hatte sie diese Stimme bloß gehört, in letzter Zeit?

Sie entledigte sich ihrer nassen Sachen, zog Jeans und ein T-Shirt an und stieg, nachdem sie ihre Haare zu einem dicken Zopf geflochten hatte, hinunter. Dort erwartete sie Alexander Lenski. Er stand ungeheuer lässig und ungeheuer gut aussehend am Fuß der Treppe und sah ihr entgegen.

»Pflegen Sie alle Ihre Kunden umzurennen?«

Tatjana musste lachen.

»Nein«, sagte sie, »nur die, die im Wege stehen.«

Er musterte sie. »Sie sind sehr jung und sehr …« Er unterbrach sich. »Ich war gerade in der Nähe und dachte, ich sehe mal nach Ihnen.«

»Möchten Sie einen Kaffee?«

»Gerne.«

Im Büro sah es nach der durchwachten Nacht chaotisch aus. Tatjana warf die Kaffeemaschine an, gleichzeitig griff sie nach den leeren Behältern, die einen intensiven Geruch nach chinesischem Essen abgaben. Die Bierflaschen und ein paar Gläser räumte sie in die winzige Spüle. Sie war sich sehr bewusst, dass Lenski hinter ihr stand und sie beobachtete.

»Tut mir leid«, sagte sie, »aber sonst ist es … hier sieht es eigentlich immer so aus.« Sie lächelte.

Hoffentlich schloss er nicht von der Unordnung in diesem kleinen Büro auf die Qualität ihrer Arbeit. Sie öffnete die Tür zu ihrem Hinterhof, um frische Luft in den Raum zu lassen. Wie der Blitz schoss der Rote an ihr vorbei. Ohne sich umzusehen bat sie: »Setzen Sie sich doch bitte.«

»Wohin damit?« Alexander Lenski stand mit einem Stapel Bücher vor der einzigen Sitzgelegenheit, außer dem Schreibtischstuhl. Fritzi streckte den Kopf durch die Tür.

»Ich nehme Ihnen das ab.« Sie verschwand mit den Büchern und er ließ sich auf dem Hocker nieder.

»Schön haben Sie es hier.«

Tatjana sah ihn ungläubig an und brach in schallendes Gelächter aus. Lenski konnte noch einen Moment an sich halten. Dann war es auch mit seiner Beherrschung vorbei. Er kannte keine Frau, die so ungehemmt lachen konnte.

»Wann fangen Sie bei mir an?«

Er hatte sie überrascht mit dieser Frage. Sie war überrumpelt. Und als er ging, hatte sie ihm versprochen, sich morgen zu melden. Hoffentlich konnte sie endlich Professor Jones erreichen. Das was Ruth ihr hatte sagen können, war nicht gerade erhellend gewesen.

Noch einmal ging sie in Gedanken durch, was sie von Simone Muller erfahren hatte. Offenbar hatten es die Einbrecher gezielt auf die Musikalien abgesehen. Ihr fiel auf, dass Simone nicht davon gesprochen hatte, dass irgendetwas abhanden gekommen war, dass sie auf keine ihrer diesbezüglichen Fragen geantwortet hatte.

Sie fragte sich, ob sie die Polizei überhaupt eingeschaltet hätte, wenn nicht ein Nachtwächter angeschossen worden wäre. Tatjana kam zu dem Schluss, dass Simone Muller die ganze Geschichte lieber nicht an die Öffentlichkeit gebracht hätte, was ihr ohne den angeschossenen Nachtwächter zweifellos gelungen wäre. Aber warum?

Ich will diese Briefe, hatte sie ins Telefon gebrüllt. Welche Briefe? Es würde doch wohl kaum um dieses alte Gerücht gehen? Oder doch?

Simone Muller war damals schon im Geschäft. Während sie selbst gerade am Beginn ihrer Ausbildung stand. Sie hatte nie etwas davon gehört, Simone hingegen musste zu der Zeit schon die rechte Hand des alten Muller gewesen sein und hatte mit Sicherheit von den mysteriösen Briefen gehört. Tatjana schätzte sie auf Anfang vierzig. Adam wo bist du? Ich brauche dich.

~~~

Monika hatte Max abgeholt. Sie würde ihn um achtzehn Uhr zurückbringen. Auch gestern Abend hatte Tatjana ihren alten Lehrer nicht erreicht. Er würde hoffentlich ihre Nachricht auf dem Anrufbeantworter abhören und zurückrufen. Heute musste sie sich entscheiden, ob sie für Lenski arbeiten wollte.

Sie fuhr den Laptop hoch, sah nach den Mails, löschte die meisten und entdeckte eine von Freak. Die kryptische Nachricht: >Schreibe heute Briefe. Kann leider nicht kommen< entrang ihr ein Lächeln. Er war wie ein Terrier. Wenn er sich in etwas verbissen hatte, ließ er nicht mehr los. Und da sein Equipment zu Hause wesentlich besser war als ihres, würde er von dort aus den Hacker suchen.

Freak konnte sich jederzeit in Tatjanas Laptop einklinken, nach Fehlern suchen und sie beheben. Sie vertraute ihm vollkommen, er kannte jedes Password, konnte auch auf ihr Konto zugreifen. Vielleicht konnte der unbekannte Besucher in ihrem Netz das inzwischen auch?

Sie stürzte zur Treppe. »Fritzi, ich bin gleich wieder da.«

»Fall nicht«, rief Fritzi lachend hinter ihr her, als sie sah, mit welcher Eile Tatjana in ihrer Wohnung verschwand. Sie riss den Hörer von der Station.

»Freak, kann der Hacker auch in meine Bank?«

»Ne, kann er nicht, jedenfalls jetzt nicht mehr. Aber das wollte er wohl auch nicht. Soweit ich das verfolgen konnte. Bis jetzt ist er an deinen Mails, deinen Einkäufen und deinen Suchaktionen interessiert.« Erleichtert legte sie auf.

»Was ist passiert?« Fritzi sah Tatjana neugierig entgegen.

»Freak hat einen ungebeten Besucher bei uns im Netz entdeckt.« Sie seufzte. »Deshalb traue ich mich nicht mehr, über das Netz zu kommunizieren.

»Schiet, so eine Scheiße.«

Tatjana lachte, Fritzi drückte sich gerne klar aus.

»Aber telefonieren kannst du mit deinem Handy, das hat nix mit dem Internet zu tun.«

»Sicher?«

»Ja, klar«, sagte Fritzi und wandte sich einem Kunden zu, der in diesem Moment den Laden betrat.

Prosper Leland war Künstler, machte Skulpturen aus Eisen, rostige Figuren, die alle so aussahen wie er. Dünn, leicht gebeugt, mit wirrem Haarschopf, der ungebändigt nach allen Seiten von seinem zu großen Kopf zu flüchten schien.

Prosper war hochgebildet, sehr amüsant und ziemlich erfolglos. Sein Atelier, ein alter Schuppen im Hinterhof von 'tapferes Gold' war gleichzeitig Arbeitsraum und Wohnung. Tatjana würde wetten, dass das nicht erlaubt war. Aber niemand in der Gegend störte sich daran.

Die Feste, die er von Zeit zu Zeit veranstaltete, waren legendär. Und Hendrik Hendriksen, der von allen nur Udel genannt wurde, feierte kräftig mit. Wenn der Polizist Dienst hatte, trank er nur ein Bier. Wenn Udel frei hatte, kam er mit seiner Frau und nahm gerne ein-zwei Köm.

»Guten Abend, meine Schönen.« Prosper machte eine tiefe Verbeugung. »Nächstes Wochenende möchte ich mit euch feiern.«

»Ah, und was gibt es zu feiern?«

»Ich habe eine meiner Figuren verkauft.«

»Wahnsinn.« Fritzi umarmte den stolzen Künstler und küsste ihn auf beide Wangen.

»Glückwunsch.« Tatjana freute sich aufrichtig.

»Und jetzt, meine Damen, möchte ich endlich den Kunstband, den ihr mir zurückgelegt habt, käuflich erwerben.«

Tatjana grinste bei dieser Ansage. Sie hatte ihm oft Bücher überlassen, fast zum Einkaufspreis. Ihr Blick fiel auf einen rostigen, sechzig Zentimeter hohen Tänzer im Hof, den Prosper Leland ihr als Bezahlung für eine uralte Dünndruckausgabe von Don Quijote überlassen hatte. Wenn er eines Tages berühmt würde, hätte sie ein gutes Geschäft gemacht. Das leise Ping ihres Tablets sagte ihr, dass eine Eilnachricht der Tagesschau eingegangen war.

Misstrauisch sah sie auf das Display: Irak, die Kämpfe gehen weiter … Schwerfällig ließ sie sich auf ihren Schreibtischstuhl sinken und stützte den Kopf in beide Hände. Das fröhliche Geplänkel zwischen Prosper und Fritzi hörte sie nicht mehr. Sie sah Bilder von zerstörten Lastwagen, sah Tote und Verletzte zwischen rauchenden Trümmern. Bist du dort, Jake?

Tatjana - Stadt am Strom

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