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ENDLICH

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In der Nacht vom 1. zum 2. Juli 1945 läuft ein zehnjähriger Junge, barfuß und in kurzen Hosen, durch dunkle, von Trümmern gesäumte Straßen im Südosten von Leipzig. Es ist warm, ein lauer Wind weht, treibt Stofffetzen und Papier vor sich her, irgendwo klappert ein kaputtes Fenster. Die amerikanischen Soldaten haben gerade Leipzig in Richtung Westen verlassen, die russischen Soldaten übernehmen ihre Besatzungszone.

„Das Baby kommt“, hatte mein Vater zu meinem Bruder gesagt. „Du musst jetzt ganz schnell zur Hebamme laufen, damit sie der Mutti hilft.“ Er selbst konnte ja nicht schnell genug laufen, war er doch mit nur einem Bein aus dem Krieg gekommen. Für einen dreiunddreißigjährigen jungen Familienvater sicher ein schwer zu ertragendes Schicksal. Mein großer Bruder lief so schnell er konnte, achtete kaum auf herumliegende Steine und Holzstücke von den zerbombten Häusern. Wollte er doch auf keinen Fall daran schuld sein, wenn die Hebamme nicht rechtzeitig dazu kam, er wollte nicht schuld sein, dass er wieder ein Geschwisterchen verliert, seine Eltern ein kleines Kind. Er sieht den kleinen, vor zwei Jahren verstorbenen Bruder noch vor sich, der auf dem Foto, das einzige von ihm im Wohnzimmer, lächelnd im Arm der Mutter liegt. Er sieht die Mutter vor sich, wie sie mit traurigen Augen den Kleinen im Kinderwagen in das Krankenhaus bringen musste, mit leerem Kinderwagen nach Hause kam.

Der kleine Bruder hat nie wieder in dem Wagen gelegen, einen Tag vor Weihnachten ist er gestorben. Woran hat ihm nie jemand gesagt. Zu Beginn des neuen Jahres kam plötzlich ein Brief, der die Sterbeurkunde ohne Angabe der Todesursache enthielt. Es war Krieg, der Kleine wurde unweit von der Stadt in dem Ort begraben, wo das Krankenhaus lag. Haben die Eltern es schon damals geahnt oder es sogar gewusst, wie der Kleine zu Tode gekommen ist, haben sie von ähnlichen Todesfällen gehört? Haben sie gewusst, dass jede Hebamme Meldung machen musste, sobald eine Geburt nicht normal verlief und es Hinweise auf eine Behinderung, geistig oder körperlich, des Neugeborenen gab? Dass diese Kinder dann in ein Krankenhaus eingewiesen wurden, aus dem sie nie nach Hause zurückgekehrt sind?

Ich glaube nicht, es war die Zeit der schwersten Bombenangriffe auf Leipzig und eine Kommunikation fast zum Erliegen gekommen. Das Kinderkrankenhaus der Stadt war schon lange zuvor bombardiert, die Kinder in Krankenhäuser auf dem Land verlegt.


Wenn in diesen Tagen alle Leute aus dem Haus meistens nachts im Luftschutzkeller saßen, dachte die Mutter voll Sorge an ihren kleinen Jungen, der weit weg in seinem Bettchen lag und sicher viel weinte.

Dass der Krieg dann plötzlich nicht nur in anderen Ländern tobte, die Bomben der Alliierten auf die Häuser unserer Stadt fielen, war für meinen großen Bruder eine schreckliche Erfahrung und er war froh, dass er nun mit dem Ende des Krieges auch ein neues Geschwisterchen bekommt, in dem leeren Kinderwagen wieder ein Baby liegen wird. Die Hebamme kam zur rechten Zeit an, ich hingegen machte von Anfang an Probleme. Die Nabelschnur lag um meinen Hals, der Kopf blau und mein erster Schrei lies auf sich warten. Dafür war er dann aber schrill genug, um allen zu zeigen, ich bin da und will auch bleiben. Das war der Anfang eines lauten Organs, mit dem ich später noch oft genug unangenehm auffiel. Für die gesamte Hausgemeinschaft war meine Ankunft der Beginn eines neuen Lebens nach einer schrecklichen Zeit. Von Geburt an war ich der Liebling des ganzen Mietshauses. Mein Bruder war nicht eifersüchtig, sondern war sich sicher, dass es mich ohne ihn nicht gegeben hätte.

In Leipzig – danach

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