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DAS ERSATZKIND

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Die Weihnachtszeit muss für meine Mutter die schwerste Zeit im Jahr gewesen sein.

Der immer wiederkehrende Todestag meines kleinen Bruders Claus am 23. Dezember hat ihr nicht nur den verstorbenen kleinen Jungen in Erinnerung gebracht, auch die Umstände seines Todes waren eine große Belastung für sie und die Familie. Keiner konnte sagen, welche Erkrankung zum Tode geführt hatte, die Kindereuthanasie war ein Tabuthema. Habe ich doch selbst noch in meiner Ausbildung zur Kinderkrankenschwester 1964 das Lehrbuch von Prof. Werner Catel, dem Chefarzt der Leipziger Kinderklinik während der NS-Zeit und Befürworter der Kindereuthanasie, benutzen müssen. Im Nachhinein ist mir auch klar, dass die Schwestern, die für unsere praktische Ausbildung verantwortlich waren, selbst an der „Betreuung und Pflege“ der Kinder in dieser Zeit beteiligt gewesen sein könnten. Oft genug haben sie uns erzählt, unter welchen erschwerten Umständen sie während des Krieges gearbeitet haben. Viel zu spät ist mir bewusst geworden, dass meine Mutter nur widerwillig meinem Wunsche, Kinderkrankenschwester zu werden, nach gekommen ist. Die Bewerbung und das dazu gehörende Gespräch bei der Oberin der Kinderklinik musste ich allein erledigen, was die Oberin sehr befremdete. Sicher hatte meine Mutter immer noch die Bilder im Kopf, als sie ihr kleines Baby dort abgegeben hatte und brachte es nicht fertig, wieder einen Fuß an diesen Ort zu setzen. Die Oberin war zum Zeitpunkt meiner Ausbildung kurz vor ihrer Pension. Also gerade in dem Alter, in dem sie vielleicht sogar mit meiner Mutter 1943 direkten Kontakt, ein Gespräch gehabt haben könnte, als sie ihr „krankes“ Kind abgeben musste. Diese vielen Fragen tauchen immer wieder auf.

Meine Mutter hat mir auf meine Fragen nach dem Tod des Bruders nur immer wieder gesagt, dass er einen Darmpolypen hatte und daran sicher verstorben ist. Für mich gab dann aber immer ihr Nachsatz: „Wenn er nicht gestorben wäre, würde es dich heute nicht geben, dein großer Bruder sollte noch ein Geschwisterchen haben“, das Gefühl, ein „Ersatzkind“ zu sein.

Es war dann aber auch wirklich mein großer Bruder Gerhard, der viel Zeit mit mir verbrachte oder verbringen musste. Er zog oft mit größeren Spielkameraden und mir im Schlepptau los, meist zum Völkerschlachtdenkmal. Dort wurde zuerst auf der Wiese, wo vor dem Krieg noch Wasser war, Kaninchenfutter gerupft. Die Wiesen und Hänge waren aber alle verpachtet, Grünfutter war begehrt. Hatten doch die meisten Haushalte Kaninchen oder Hühner auf dem Hof, die einfachste Art der Selbstversorgung. Die Jungen mussten sich also beeilen und brauchten auch einen Aufpasser, damit sie kein Pächter erwischte. Der Wachposten war ich. Als ein kleiner Dreikäsehoch stand ich auf dem obersten Wall mit Blick zu den grasrupfenden Jungen und einem ängstlichen Blick in die Runde nach einem „bösen Mann“. Doch damit war mein Martyrium nicht beendet. Die Körbe waren schnell voll, jetzt fingen die Burschen an, da unten Fußball zu spielen. Nirgendwo gab es nach dem Krieg eine schönere, grüne Gelegenheit dazu.

Immer wieder riefen sie zu mir hoch: „Pass’ bloß auf, dass keiner kommt und wenn einer kommt, schreist du und rennst weg.“ Natürlich stand ich immer auf dem Sprung, das gruselige Denkmal über mir, auf der riesigen Wiese die fußballspielenden Jungen und in mir die Angst vor einem wutschnaubenden Pächter.

Einmal war es dann auch knapp. Ein Mann kam die Treppe hoch, ich schrie, die Jungen kamen mit den Körben angerannt, mein Bruder schnappte mich und ab ging’s im Schweinsgalopp. Ich hoch oben auf den Schultern meines Bruders, wie auf einem schwankenden Schiff. Vielleicht hat sich bei mir damals eine Höhenangst entwickelt, es blieb nämlich nicht bei diesem einmaligen „Ritt“.


In Leipzig – danach

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