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a) Ziel und Gut (1094a1–18)

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Die EN beginnt mit der berühmten, jedoch nicht leicht zu verstehenden Aussage:

Jede technē (Fertigkeit) und jede Untersuchung (methodos), ebenso jede Handlung (praxis) und jede prohairesis (Entscheidung) strebt, so wird allgemein angenommen (dokei), nach einem Gut (agathon). Deshalb ist der Satz „Gut (agathon) ist das, wonach alles strebt“ zu Recht geäußert worden (1094a1–3).

Der erste Satz enthält eine durch dokei qualifizierte Behauptung. Die Wiedergabe von dokei durch „scheint“, die sich in einigen Übersetzungen findet, ist irreführend. Der Ausdruck dokei drückt in solchen Zusammenhängen das Vorliegen einer allgemeinen Meinung aus, und dies ist für Aristoteles ein wichtiges Indiz für die Wahrheit einer Aussage. Das bestätigt der zweite Satz, in dem Aristoteles die referierte These nochmals zustimmend („zu Recht“) aufnimmt,2 allerdings ohne sie zu erläutern. Wir müssen uns jetzt insbesondere fragen, in welchem Sinn der zentrale Ausdruck „Gut“ (agathon) eingeführt wird.

Die Aufzählung nennt die Hauptbereiche menschlichen Tuns, die Aristoteles auch sonst unterscheidet, technē, wissenschaftliche Untersuchung, Handlung sowie prohairesis. Eine technē (Kunst, praktisches Können) ist eine praktische Fertigkeit, Dinge hervorzubringen oder Ergebnisse zu erzeugen, wobei sie ein Wissen der Gesetzmäßigkeiten einschließt, von denen Gebrauch gemacht wird.3 Der Ausdruck methodos (Untersuchung, Lehre) dürfte das bezeichnen, was Aristoteles gewöhnlich epistēmē (Wissenschaft) nennt; sie steht der technē nahe, da zu ihr ebenfalls das Wissen der Gesetze gehört, die ihren Gegenstandsbereich konstituieren (z.B. zur technē der Medizin die Kenntnis der Gesetze über die Gesundheit, zur epistēmē (methodos) der Mathematik die Kenntnis der Gesetze über die Zahlen usw.). In anderer Hinsicht ist die technē der praxis (Handlung) verwandt, da beide praktisch sind. Jedoch unterscheiden sich technē und praxis darin, dass eine technē Ergebnisse hervorbringt (die technē des Hausbauens beispielsweise Häuser), während mit praxis hier eine Handlung gemeint ist, die ihr Ziel in sich selbst hat. Darunter fallen für Aristoteles Tätigkeiten wie Flötespielen, aber auch das ethische Handeln, das durch den Begriff der prohairesis (Entscheidung, Entschluss, Wählen) angesprochen sein dürfte, der Entscheidung zur Ausübung einer Charaktereigenschaft wie z.B. Tapferkeit. Auch hier gilt, dass eine tapfere Handlung nicht Tapferkeit produziert, dass sie vielmehr tapfer ist und getan wird, weil man tapfer sein will.

Aristoteles schließt daher in 1094a3–6 den Hinweis an, dass es zwei Arten von Handlungszielen gibt: Das telos (Ziel) kann entweder eine energeia (Tätigkeit, Aktivität) selbst sein (wie beim ethischen Handeln, aber auch bei Tätigkeiten wie Flötespielen) oder das ergon (Werk, Ergebnis, Produkt) einer Handlung (beim technē-Handeln ist das Ziel z.B. ein Haus, dieses ist gegenüber dem Bauen das größere Gut, das wünschenswerter ist).4

Dass Aristoteles in 1094a3–6 den Ausdruck „Ziel“ ins Spiel bringt, könnte uns nun auch als Hinweis für die gesuchte Bedeutung des Wortes „gut“ in der Anfangspassage dienen. Im ersten Satz ist von agathon ti die Rede, das man mit „etwas Gutes“ oder – ungefähr gleichbedeutend – „ein Gut“ übersetzen kann.5 Wenn Aristoteles kurz darauf das Wort „Gut“ durch „Ziel“ aufnimmt, dann würde der Ausdruck „ein Gut“ das Ziel einer jeweiligen Handlung oder den Gegenstand eines Strebens bezeichnen. Entsprechend würde der zweite Satz die Definition des Wortes „Gut“ knapp auf den Punkt bringen, wonach das Gut das Ziel allen Strebens ist.

Doch der erste Satz scheint entweder trivial oder falsch zu sein und der zweite einen Fehlschluss zu enthalten. Um mit dem zweiten Problem zu beginnen, so folgt aus dem Satz „Alles strebt nach einem Gut“ nicht „Es gibt genau ein Gut (das Gut, das Gute), wonach alles strebt“. Nun betont Aristoteles wenige Zeilen später die Vielheit der Ziele (a6) und stellt wiederholt die Frage, ob es ein solches Gut gibt, so dass man ihm diesen Fehlschluss nicht unterstellen kann. Da Aristoteles einen Ausspruch zitiert, kann man den bestimmten Artikel vor agathon am Beginn des zweiten Satzes einfach als Anführungszeichen nehmen und den zweiten Satz als knappe Zusammenfassung des ersten. Dann behält agathon den Sinn von „ein Gut“,6 und das Wort „alles“ wird vor dem Hintergrund des ersten Satzes distributiv gelesen. Also nicht: „(Das) Gut ist das, wonach alles (zusammen) strebt“, sondern: „Gut ist jeweils das, wonach jedes strebt“.7 Anders gesagt, ein Gut ist jeweils das Ziel einer technē, Handlung usw. Aber was ist mit dieser Aussage gewonnen?

Man könnte denken, Aristoteles habe mit dem ersten Satz die triviale analytische Aussage machen wollen, dass alles Handeln, wie man heute formuliert, intentional oder teleologisch ist, dass es im Begriff der Handlung liegt, immer auf etwas abzuzielen, und sei es auch nur auf das Tun der Handlung selbst. Dass Aristoteles verschiedene menschliche Betätigungsfelder aufzählt, spricht jedoch eher für eine induktive Verallgemeinerung, die sich auf Beobachtung des menschlichen Verhaltens stützt.8 Unabhängig davon, ob wir den Satz analytisch oder empirisch lesen, scheint er jedoch außerdem unzutreffend oder zumindest ungenau zu sein. Denn er gilt nur für das Wort „Ziel“, das in seinem Sinn wertneutral ist. Das Wort „gut“ bzw. „ein Gut“ hingegen wird objektiv wertend verwendet; wir unterscheiden zwischen dem, was gut ist oder ein Gut ist, und dem, was gut scheint oder für ein Gut gehalten wird. Man kann also nicht nur ein Gut erstreben, sondern auch etwas, das nur ein vermeintliches Gut und in Wirklichkeit ein Übel ist. Wie wir sehen werden, nimmt Aristoteles eine entsprechende Präzisierung in III 6 selbst vor. Aber wäre diese nicht bereits für unsere ersten beiden Sätze erforderlich?

Beachten wir genau, was Aristoteles sagt, ist sie entbehrlich. Denn die Rede ist vorläufig nicht von Menschen, die etwas tun und dadurch Ziele verfolgen und Absichten realisieren, die sie für gut halten; ein „ich“ oder „wir“, das handelt, tritt erstmals in 1094a19 auf. Es geht auch nicht um die Beschaffenheit einzelner Handlungen, sondern um die Struktur von größeren Wirkungsbereichen oder Tätigkeitsfeldern.9 In 1094a1–3 sind es die Wissenschaft, die technē, das Tätigsein sowie das ethische Handeln, die auf ein Gut ausgerichtet sind; in 1094a6–9 betont Aristoteles, dass es viele solche technai usw. gibt, entsprechend auch viele Ziele.

Bleiben wir bei der technē, da dieser Fall am leichtesten zu erklären ist und auch von Aristoteles gewöhnlich zur Erläuterung herangezogen wird, dann ist mit dem Ziel die Aufgabe einer gesamten technē gemeint. Zum Beispiel ist die Gesundheit das Ziel der Medizin, das Haus das Ziel der technē des Hausbauens usw. Ein solches Ziel einer technē kann man, wie Aristoteles am Anfang von I 5 sagt, als ihr Gut bezeichnen; „ihr Gut“, weil sie durch dieses Ziel definiert ist, und „ihr Gut“, weil innerhalb der technē alle einzelnen Verrichtungen um dieses Ziels willen geschehen, weil es innerhalb des relevanten Wirkungsbereichs sämtliche Mittel- und Teilhandlungen organisiert. Das Gut, durch das eine jeweilige technē definiert ist, ist ein Gut im Sinn des Erstrebten oder Wünschenswerten nicht für denjenigen, der die technē ausübt, sondern für den, der ihre Produkte braucht, erwirbt und benutzt. Dass jede technē auf ein Gut ausgerichtet ist, sagt also vorläufig nichts über die Strebensziele der Person, die sie ausübt, sondern bedeutet nur, dass es irgendeinen Zweck oder ein Bedürfnis im Staat gibt, wofür das Produkt wünschenswert ist.10

Die Vielfalt der Ziele oder Güter lässt sich reduzieren (1094a9–18). Denn nicht alle Ziele sind gleichwertig, vielmehr besteht eine bestimmte Rangordnung der Ziele, wenn sie in ein zusammenhängendes Gebiet gehören, und entsprechend eine Rangordnung der technai, die ihre Realisierung zur Aufgabe haben. Durch diese Hierarchisierung der Ziele sind größere Handlungsbereiche auf ein leitendes Ziel hin organisiert, und entsprechend unterstehen die technai, die die untergeordneten Ziele realisieren, der zuständigen leitenden technē. So ist die technē der Sattlerei um des Reitens willen da, das Reiten wiederum ist der technē der Kriegsführung untergeordnet. Dabei ist jeweils das Ziel der leitenden technē wählenswerter als das der untergeordneten, weil die untergeordneten Ziele um der übergeordneten willen verfolgt werden.

Aristoteles

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