Читать книгу Aristoteles "Nikomachische Ethik" - Ursula Wolf - Страница 20
b) Probleme für die entwickelte eudaimonia-Konzeption (I 10–11)
ОглавлениеDer Text behandelt zwei Fragen: (i) Wie entsteht die eudaimonia? (ii) Wann und unter welchen Umständen können wir jemanden eudaimōn nennen? Frage (ii) ergibt sich aus der zweiten Art der Zufallsabhängigkeit, der Abhängigkeit von den wechselnden äußeren Umständen; Frage (i) könnte man mit dem Problem gegebener kontingenter Tatsachen zusammenbringen. Aristoteles geht so vor, dass er zunächst bekannte Schwierigkeiten darlegt und sodann eine Antwort aus der wissenschaftlichen Definition der eudaimonia zu gewinnen versucht.
(i) Wie entsteht die eudaimonia? (I 10 bis 1100a5). Diese Frage, die hier in den Nachträgen nach dem Höhepunkt in I 6 auftaucht, steht in der EE an prominenter Stelle; dort wird die Frage, worin die eudaimonia besteht und wie man sie erwirbt, gleich zu Anfang als Thema der Ethik genannt (1214a15), und Buch VIII der EE verfolgt auf breitem Raum die Frage, ob die eudaimonia auf Zufall beruhen könnte.46
In unserem Text werden drei gängige Antworten genannt: Die eudaimonia könnte entstehen durch Übung, durch ein Geschenk Gottes oder durch Zufall. Die weitere Möglichkeit, dass sie durch die Natur entsteht (EE 1214a16), wird in der EN nicht erwähnt. Nachdem er zunächst einige populäre Argumente referiert, folgert Aristoteles (1099b25ff.) aus seiner eigenen Bestimmung der eudaimonia als Tätigkeit gemäß der aretē, sie entstehe durch Übung (dazu unten Kap. III). Entsprechend versucht die Politik, die das beste Gut zum Ziel hat, die Bürger zu bilden und zur aretē zu erziehen. Hingegen können Kleinkinder und Tiere keine eudaimonia erwerben, weil sie nicht zu den geeigneten Tätigkeiten in der Lage sind.
Wenn die eudaimonia durch Übung oder Lernen entsteht, ist damit das Problem der Kontingenz weitgehend entschärft. Entstünde sie durch Zufall oder wäre sie ein Geschenk der Natur, dann gäbe es für die meisten Menschen keine Hoffnung, sie zu erlangen (EE 1215a12ff.). Nur wenn sie durch Übung entsteht, ist sie für die meisten erreichbar (1099b18ff.), jedoch auch dann nicht für alle. Wie Aristoteles einschränkt, können diejenigen sie nicht erwerben, die für die Übung durch Erziehung nicht zugänglich sind (a19). Wie man darüber hinaus einschränken müsste, auch diejenigen nicht, die nicht als gut situierte Bürgerkinder aufwachsen (denn nur unter solchen Verhältnissen erfahren sie überhaupt Bildung). Und schließlich werden auch unter diesen nur diejenigen die eudaimonia erreichen, die gute Erzieher haben, die selbst die ethische aretē kennen und praktizieren und andere in sie einüben können. Die Zugangsbedingungen zur eudaimonia sind also, folgt man seinen Hintergrundannahmen, für weniger Menschen gegeben, als Aristoteles ausdrücklich sagt.
(ii) Wann kann man jemanden eudaimōn nennen (1100a5–9, I 11)? Der Frage, zu welchem Zeitpunkt man jemandem die eudaimonia zusprechen kann, kommt für die Griechen deswegen besondere Bedeutung zu, weil sie aus der Erfahrung hervorgeht, dass auch jemand, dessen ganzes bisheriges Leben gut verlaufen ist, plötzlich im Alter durch äußere Ereignisse ins Unglück geraten kann, wie beispielsweise Priamos, der König von Troja, der die Zerstörung seiner Stadt und den Tod seiner Söhne erleben musste. Auf derartige Schicksale spielt der bekannte Satz des Politikers und Dichters Solon (6. Jh. v. Chr.) an, man könne niemanden vor dem Ende seines Lebens als eudaimōn preisen (1100a11).47 Allerdings lautet, wie Aristoteles erläutert, Solons Frage, wann man einen Menschen glücklich preisen kann (1100a16), nicht, wann er glücklich ist. Diese Formulierung lenkt eher von der für die Haltbarkeit der aristotelischen Konzeption entscheidenden Frage ab, ob die in I 6 wissenschaftlich hergeleitete Auffassung der eudaimonia, für die die äußeren Güter, die in den Bereich der tychē gehören, nur den Status von zusätzlichen Bedingungen haben (1100b7–22), alle Aspekte der gewöhnlichen Vorstellung von der eudaimonia erfassen kann.
Die Einschätzung, die Aristoteles selbst zu dieser Frage hat, ist schwankend. Wir finden einerseits den Hinweis, die eudaimonia bestehe letztlich in den Tätigkeiten gemäß der aretē (1100b9ff.), weil diese eine Lebensweise von besonderer Beständigkeit garantieren, während das Hineinnehmen der eutychia in die eudaimonia dazu führen würde, dass der eudaimōn zu einer Art Chamäleon wird, das ständig vom Glück ins Unglück wechselt. Damit ist erneut das Motiv deutlich, das die aristotelische Konzeption der eudaimonia leitet: Das beste Gut für den Menschen muss Dauer und Beständigkeit aufweisen, und die kontinuierliche Tätigkeit gemäß der aretē soll gerade diesem Motiv innerhalb des Lebens gerecht werden.
Wir finden andererseits in der ersten Lustabhandlung (1153b19ff.) die entgegengesetzte Auffassung, es sei abwegig, jemanden, der in großes äußeres Unglück geraten sei, als eudaimōn anzusehen, wenn er nur gut ist. Dennoch betont Aristoteles auch an dieser Stelle den Unterschied von eudaimonia und tychē. Wie genau der Zusammenhang zwischen eudaimonia und tychē zu fassen ist, erläutert Aristoteles bereits in I 11 mit einem Vorgriff auf seine Lehre von der Lust am Tätigsein (siehe unten S. 195, Kap. VIII). Diese Lust stellt sich dann ein, wenn das menschliche Tätigsein unbehindert vollzogen wird (1100b29), während Widerstände als Unlust erfahren werden. Glückliche Zufälle können die eudaimonia steigern, unglückliche Zufälle hingegen trüben sie (1100b22–1101a21). Auch wer eudaimōn im Sinn der Definition von I 6 ist, kann also im Vollzug dieser Lebensweise gehemmt werden, entweder indem ihm selbst Unglück durch Krankheit, Verlust der Güter usw. widerfährt oder wenn ihm nahe stehende Personen ums Leben kommen oder Unglück erleiden.
In I 11 versucht Aristoteles eine Position dazwischen zu vertreten: Die eudaimonia könne auch unter widrigen Umständen nicht ganz verloren gehen, solange jemand äußeres Unglück angemessen erträgt und trotz Widerständen die Tätigkeiten der aretē ausübt. Andererseits würde man eine solche Person nicht vollkommen glücklich nennen; vollkommen glücklich scheint nur, wer sein Leben unter Bedingungen lebt, die die Tätigkeit gemäß der aretē so fördern, dass ihre Ausübung Freude macht. Aristoteles verwendet hier ein zweites Wort, makarios (selig, glücklich, die Vollform des Glücks habend), das die eudaimonia einschließlich der eutychia bezeichnet.
Schwankt Aristoteles hier also zwischen zwei Glücksvorstellungen, einer alltäglichen maximalen und einer philosophisch ausgewiesenen, die auf das Mögliche beschränkt ist? 48 In den „wissenschaftlichen“ Passagen entscheidet er sich eindeutig für die Auffassung, die eudaimonia bestehe allein in der Tätigkeit gemäß der aretē, alles andere sei nur Bedingung für diese. Andererseits weist die Unterscheidung zwischen makarios und eudaimōn auf eine gewisse Spannung in der Sache hin, der sich Aristoteles, wie der folgende Text zeigt, durchaus bewusst ist.