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Gestrandet in Wismar


Mit Schwester Elke, sie singt, ca. 1944.


Noch in Pillau, Urte ist ein gutes Jahr alt.

Das ist die Welt!«, sagte meine große Schwester zu mir. Wir standen auf einem Hocker und schauten aus der Dachluke auf die gegenüberliegenden Dächer.

Ich war gerade drei Jahre alt, meine Schwester Elke fünf. Das war 1947 in Wismar.

An meinen Geburtsort Pillau in Ostpreußen habe ich keine Erinnerung mehr.

Der kleine, beschauliche Fischerort mit 12 000 Einwohnern liegt an der Einfahrt ins Frische Haff und verfügte über zahlreiche Hafenbecken. Das war auch der Grund dafür, dass wenige Tage nach Beginn der sowjetischen Großoffensive am 12. April 1945 mitten im Winter das Chaos ausbrach. Der Hafen von Pillau wurde zur letzten Rettung für bis zu 200 000 hungernde und frierende Flüchtlinge, die auf der Flucht vor der Roten Armee um einen Platz auf einem der Schiffe kämpften.

Auf den Frachtern waren die Laderäume mit Stroh ausgelegt. Sie sind ebenso mit Flüchtlingen und verwundeten Soldaten überfüllt wie die Kabinen der Passagierschiffe.

Da war es ein großes Glück, dass ein Onkel von uns als Lotse im Pillauer Hafen arbeitete und wir dadurch mit anderen Verwandten zusammen einen Platz in einer Kabine auf dem ehemaligen Kadetten-Wohnschiff Pretoria bekamen, wie meine Schwester Elke zu erzählen weiß. Ein Kinderwagen, zwei kleine Koffer und ihre zwei Kinder – das war alles, was meine Mutti mitnehmen konnte.

Auch die Wilhelm Gustloff, 1937 als Fahrgastschiff für Kreuzfahrten gebaut, musste jetzt Flüchtlinge aus ­Ostpreußen über die Ostsee nach Westen bringen. Wenige Tage, nachdem wir mit der Pretoria in See gestochen waren, sank die Gustloff nach der Torpedierung durch ein sowjetisches U-Boot mit Tausenden Flüchtlingen an Bord. Eine der größten Schiffskatastrophen aller Zeiten.

Unsere Schiffsreise endete in Stettin und Muttis Flucht nach mehreren Wochen in Wismar – dort, wo Elke und ich aus der Dachluke den Blick auf die Welt wagten. Als unsere Mutti später in die BRD nach Bredenbek ausreiste, erhielt sie dort, nach glaubhafter Beschreibung der Flucht, die übliche Entschädigungszahlung für Flüchtlinge.

Mutti erzählte, dass wir in der Nähe von Stettin bei Bauern untergebracht wurden. Die wollten uns nicht und waren sehr ablehnend der Mutti gegenüber. Aber dann eroberten wir Kinder ihr Herz und sie waren sogar traurig, als wir weiterzogen.

Von Stettin aus gingen Flüchtlingszüge. Mit einem von ihnen gelangten wir nach Bad Kleinen. Den Weg von dort nach Wismar legte die Mutti mit uns wahrscheinlich zu Fuß zurück. Ich im Kinderwagen, Elke samt Gepäck ebenfalls dort darauf. Unterwegs wurden wir mehrmals von Tieffliegern überrascht. Mutti legte Elke und mich in einen Schützengraben und warf eine Decke über uns. Elke guckte heimlich darunter hervor und freute sich über das Lichtermeer am Himmel. Mich beschleicht beim schönsten Feuerwerk bis heute ein mulmiges Gefühl, der Böllerschüsse wegen.

Normalerweise hätte man uns wie die anderen Flüchtlinge aufs Land geschickt und in einem Dorf angesiedelt. Daher war es sozusagen ein »Glück«, dass meine Schwester Kinderlähmung hatte, denn mit ihr durfte Mutti in eine Stadt. Wer weiß, wie unser Leben sonst verlaufen wäre?


Drei Jugendfotos meiner Mutter

Ich kenne diese Zeit nur aus Erzählungen. Aber das Pillau-Lied hat Mutti gern gesungen. Später sangen wir es zweistimmig. »Es liegt eine Stadt am Baltischen Meer, die führt im Wappen den silbernen Stör …« Den Text kann man googeln, aber gesungen findet man dieses Lied nirgends. Ich muss es unbedingt aufnehmen. Meine Enkelin soll schließlich erfahren, was es nach den Dinosauriern noch so alles gab.

Meine Mutter Suselene Karin Zels wurde am 13. Juni 1915 in Pillau geboren. Für ihre Eltern war eine gute Schulbildung wichtig, aber das nächste Gymnasium befand sich in Königsberg. Von Pillau nach Königsberg ging es mit einer Fähre. Die wurde von einem Fährmann mit Muskelkraft gezogen, auch bei unerträglichen Minusgraden.

Da der Pillauer Hafen immer eisfrei war, fiel auch im tiefsten Winter keine einzige Schulstunde aus. Viel später meinte Mutti mal zu mir: »Wenn man als Mädchen damals schon Hosen hätte tragen können, das wäre so gut gewesen.« Die erste Frau, die lange Hosen trug, sah Mutti im Kino. Das war Marlene Dietrich.



Muttis Beschreibung unserer Flucht

Als Mädchen einen Beruf zu lernen, war damals nicht üblich. Die Ausbildung in Hauswirtschaft reichte, denn später fand man ja einen Mann und heiratete. Wollten Frauen arbeiten gehen, mussten sie ihren Mann um Erlaubnis bitten. Das setzte sich ja im Westen Deutschlands auch nach dem Krieg noch lange Jahre fort. Als ich das erfuhr, war ich als Ostmädel echt entsetzt.

1940 heiratete Mutti den Hoch- und Tiefbautechniker Horst Blankenstein. Sie war 26, als im Februar 1942 Elke zur Welt kam. Ich folgte als zweites Kind am 21. Dezember 1943.

Nach dem Krieg kam unser Vater nicht zu uns nach Wismar. Er hatte sich in München neu verliebt, ließ sich von Mutti scheiden, heiratete wieder und gründete eine neue Familie.

Als Oma Lina, Muttis Stiefmutter, viele Jahre später krank und dement wurde, zog Mutti zu ihr nach Bredenbek bei Rendsburg/Eckernförde. Das muss um 1978 herum gewesen sein. Sie stellte einen Ausreiseantrag, der ihr als Rentnerin ohne Probleme genehmigt wurde. Sie blieb dort bis zu Omas Tod. Dann zog sie nach Kiel und kehrte im Oktober 2000 wieder zurück nach Berlin.

Aber zurück nach Wismar, ins Jahr 1945. Wir bezogen ein Zimmer im Parterre, in der Alten Wismarschen Straße. Im Zimmer befand sich eine Kochplatte. Wir wuschen uns in einer Schüssel. Wasser gab es auf dem Flur in der Toilette, die von mehreren Familien genutzt wurde. Auch die Wäsche wurde dort eingeweicht, genau wie das Geschirr. Irgendwann war unser Kochtopf verschwunden – eine mittlere Katastrophe. Also bewahrte Mutti ab sofort immer alles in unserem einzigen Zimmer auf.

Irgendwann war auch ich verschwunden – morgens, als die Mutti wach wurde, war ich nirgends aufzufinden. Das Zimmer war von innen verschlossen, also ein Unding. Elke und Mutti suchten nach mir. Erst, als sie zum zweiten Mal unter das Sofa guckten, entdeckten sie mich. Ganz hinten an die Wand war ich gerollt und schlief tief und fest.

Ich schlief überhaupt sehr viel. Mutti meinte: »Das war dein Glück, denn du nahmst schlafend zu.« Zu essen gab es wenig, und vor allem galt Trockengemüse für uns als Delikatesse. Einmal hatte Mutti im Hof feuchtgewordenes, angeschimmeltes Trockengemüse in der Sonne zum Trocknen aufgehängt – und beobachtete später, wie ich danach angelte und mir schimmliges Zeug in den Mund stopfte. Nun, es hat mir nicht geschadet. Und wenn schon, ich schlafe mir jedes Unwohlsein weg. Noch heute.

Im zweiten Stock wohnte Dr. Rosenthal, ein Zahnarzt. Wir durften mit seiner Tochter Dagmar spielen. Das taten wir mit großer Freude in den Trümmern eines ehemaligen Nachbarhauses. Es gibt ein Foto davon. Mutti knickte die vielen Trümmer auf dem Foto weg, so dass nur wir drei Kinder zu sehen sind. Ich protestierte, weil auf diesem »Spielplatz« Unmengen an Steinen lagen, aus denen wir die schönsten Schlösser und Burgen bauten.


Urte, Zahnarzttochter Dagmar und Elke in den Trümmern

Dr. Rosenthal hatte eine Haushälterin, die mir als sehr nett in Erinnerung blieb. Nicht nur weil sie uns in der Ofenröhre Bratäpfel zubereitete. Die ersten Bratäpfel meines Lebens, ein Traum! Einmal halfen Elke und ich beim Krabbenpuhlen. Da musste wohl irgendein Kutter gestrandet sein. Vielleicht wurde Verderbliches für wenig Geld abgegeben, denn die Massen an Krabben hätte es sicher nicht normal zu kaufen gegeben. Da gingen fünf Krabben ins Töpfchen und eine ins Kröpfchen. Ich esse sie heute noch gern.

Als ich drei Jahre alt war, zogen wir um die Ecke, in die Bauhofstraße. Eineinhalb Zimmer in der zweiten Etage, was für eine Verbesserung! Über eine Stiege ging es hinauf zur Küche, die auf dem Boden in einer Kammer eingerichtet war. Dort befand sich auch die Luke mit der »weiten« Aussicht auf »die Welt«.

Aus dem Wohnzimmerfenster sahen wir auf das Haus mit unserer ersten Bleibe und konnten die Fenster der Zahnarztwohnung sehen. Es gab eine Zeit, da guckte die Mutti ständig auf diese Fenster. Auf meine Frage, warum sie das mache, antwortete sie: »Der Doktor hängt irgendwann ein weißes Tuch ins Fenster, dann weiß ich Bescheid.«

Später erfuhr ich, es war das Zeichen für die Mutti, dass Dr. Rosenthal in den Westen gegangen war. Ich wusste, Oma und Opa wohnen im Westen, Tanten auch. Das war ein Ort für mich, ohne tiefere Bedeutung. In der Bauhofstraße führten Treppen zur Haustür, auf denen wir oft saßen und die Leute beguckten.

Wirklich interessant fand ich es, aus dem Schlafzimmerfenster zu schauen. Von dort aus konnte ich den Kasernenhof der Russen sehen. Ich bewunderte die Soldaten, wenn sie Sport trieben.


Foto vom Haus mit besagtem Fenster, das ich knipste, als ich im Wismarer Theater das Kinderprogramm spielte, beide Straßen sind zu sehen

Ganz besonders liebte ich es, wenn die Russen singend durch die Straßen marschierten. Gemeinsam mit den Nachbarskindern stapfte ich Pummel begeistert im Rhythmus mit und sang dabei lauthals: »Leberwurscht, Leberwurscht, die alte … Leberwurscht!«

Die Russen lachten, nahmen uns auf den Arm und neckten uns. Ich mochte sie sehr. Meine Mutti mochte sie nicht. Erst viel, viel später verstand ich, was sie damit meinte, wenn sie schimpfte: »Die Russen haben uns vertrieben, sie vergewaltigten die Frauen, nahmen allen die Uhren ab. ›Uri her!‹, riefen sie, immer wieder, ›Uri her!‹ Sie waschen Kartoffeln im Klo, unter Zuhilfenahme der Klospülung und schimpfen, wenn die dann verschwunden sind.«

Letzteres war überhaupt das Einzige, was ich verstand, eben weil es so lustig klang.

Ach ja, Wilhelm Pieck, dieser lieb aussehende Opa, den ich auf Bildern sah, war auch ein Russe. Das musste einer sein! So sagte es Mutti. Der kam auch von dort und die Russen hatten ihn als Präsidenten eingesetzt.

Eines Nachts weckte Mutti uns, wir mussten uns ganz schnell anziehen, Mutti packte Koffer, dann gingen wir in den Hausflur und setzten uns auf die Treppe. Wir saßen die halbe Nacht dort, bis Mutti überzeugt war, dass es wirklich nur ein Gewitter war. Zwar ein sehr starkes, aber zum Glück kein Geschützdonner.

In der Nähe unserer Wohnung befand sich ein Park, der Lindengarten. Ein Teil des Parks wurde für die Bevölkerung in Parzellen aufgeteilt, zum Anbau von Gemüse. Wir bekamen auch ein Beet und Mutti pflanzte Kartoffeln an. Ich weiß allerdings nicht mehr, ob wir jemals welche ernteten.

Aber ich erinnere mich noch genau an den Geruch von Haferflockensuppe oder Milchnudeln. Die holten wir in einer Milchkanne von den Nonnen. Irgendwo in der Nähe muss ein Kloster oder ein Pflegeheim gewesen sein. Über allem schwebte ein leichter Duft von Vanille.

Auf dem Rückweg schwenkten wir manchmal mit dem Arm die Kanne im großen Bogen. Taten wir dies schnell genug, klappte es. Ich war hin und wieder zu langsam. Musste dann zurück, noch einmal nachfüllen lassen und stammelte etwas von Hingefallen und Ähnliches, was mit Nudelsuppe im Haar nicht unbedingt glaubhaft war. Auch wenn wir Brot holten, galt: Es kam nie zu Hause an, ohne dass der Kanten angeknabbert war.

Sonntags gab es Stippchen. Das war Weißbrot, in Streifen geschnitten, in Milch getunkt und dann in Zucker gewälzt, herrlich! Oder mein »Schiebe-Brot«: Eine Stulle mit Streichwurst aß ich, indem ich mit den Schneidezähnen den Belag wegschob, bis zum letzten Happen. Der war dann ein Hochgenuss. Ein Häppchen mit einem riesigen Berg Belag!

Auch unser Spielplatz in der Nähe des Bahnhofs blieb mir in Erinnerung. Vor allem dadurch, dass dort eines Tages ein Güterzug auf einen anderen auffuhr. Wir hörten einen gewaltigen Krach. Als wir hinguckten, sahen wir eine dicke, dunkle Flüssigkeit aus einem Waggon fließen. Irgendjemand entdeckte: »Das ist Sirup!«

Auch ich kippte nun rasch den Sand aus meinem Eimerchen, rannte zum Waggon und ließ den Sirup in den Eimer tropfen. Der Sand störte offenbar nicht unseren Genuss, das wüsste ich bestimmt noch.

Bald ging ich in den Kindergarten, meine braune Stullentasche umgehängt. Allmorgendlich freute ich mich auf meinen Freund, den dicken Horst. Der hatte in seiner Stullentasche manchmal Kuchen. Hin und wieder gab er mir etwas davon ab. Sein Vater war Bäcker – und ich beschloss: Ich werde Bäckersfrau!

Eines Tages kam Horst mit einem Gipsbein an. Er ließ sich von mir auf der Schaukel anschubsen und ich weinte für ihn. Er tat mir leid, weil er sich so wehgetan hatte. Die Kindergarten-Tante sagte tröstend: »Bis zur Hochzeit ist das längst wieder gut.«

Elke hatte wegen ihres gelähmten Beins für kurze Zeit einen Rollstuhl bekommen. Dieses Gefährt war äußerst spannend. Ich schob Elke mit Begeisterung. Ganz in der Nähe erhob sich ein mit Gras bewachsener Hügel. War das eine Freude! Ich stellte mich hinten auf den Rollstuhl, und wir rollten den Hügel hinunter: Juchuuuu!

Das ging so lange, bis uns eines Tages am Fuße des Hügels der Rollstuhl umkippte. Wir kullerten beide auf die Wiese, und die Leute schimpften mit mir. Ich verstand das nicht. Das war doch nicht schlimm. Keiner von uns hatte sich wehgetan. Was ich daraus lernte: Die Erwachsenen haben keine Ahnung und können richtig gemein sein!

Ich muss dazu sagen: Für mich war Elke immer völlig normal, nur eben anders als ich. Eine meiner Puppen war auch anders. Sie hatte einen Porzellankopf, durch den ein Riss ging. Ich liebte diese Puppe nicht weniger als jede andere Puppe, die ich bekam. Genauso wie die braune mit den schwarzen Locken und die Stoffpuppe ohne Arm. Sie alle waren irgendwie anders, aber völlig in Ordnung. Jede für sich etwas ganz Besonderes und ganz besonders geliebt.

Zum dritten Geburtstag hatte ich allerdings eine bekommen, die ich nicht leiden konnte. Die kniff mich nämlich immer. Das war eine Gliederpuppe. Wenn ich der etwas anziehen wollte, egal ob Handgelenk, Unterarm, Oberarm – überall Möglichkeiten, mich zu kneifen. Und das tat sie leidlich. Also freute ich mich an meinem vierten Geburtstag über diese neue alte Puppe mit dem Riss quer durch ihr schönes Porzellangesicht.

Eines fand ich allerdings immer doof: Ich habe drei Tage vor Weihnachten Geburtstag, und oft hieß es dann: »Das Geschenk ist für Geburtstag und Weihnachten zusammen.« Häufig dann, wenn es sich um ein besonders großes Geschenk handelte. Meist gab es zum Geburtstag die Puppe und Weihnachten die Puppenkleider, Süßigkeiten und dergleichen mehr. Mutti strickte, häkelte und nähte noch und noch für unsere Puppen, oft bis tief in die Nacht. Sie schneiderte auch alle unsere Anziehsachen. Geld verdiente sie, indem sie für die ungeliebten Russen aus der unserer Wohnung gegenüberliegenden Kaserne Socken strickte.

Aus tiefem Herzen hasste ich allerdings die Kniestrümpfe, die sie für uns gestrickt hatte. Sie bestanden aus Zuckersackwolle, also aus aufgerebbeltem Zuckersack. Die Dinger kratzten fürchterlich! Damit wir nicht so jammerten, verzierte Mutti diese Strümpfe mit Bommeln. Wie oft zogen wir diese Strümpfe heimlich aus und liefen barfuß durch die Gegend.

Als Mutti später, mit etwa siebzig Jahren, Gicht in den Händen bekam, meinte sie: »Das ist, weil ich auf die Flucht einen ganzen Koffer mit Wolle mitgenommen hatte und erst in Wismar merkte, dass ich die Stricknadeln vergessen hatte. So besorgte ich mir in Wismar Fahrradspeichen und strickte mit denen.«

Elke erinnerte mich neulich daran, dass unsere Mutti in Wismar beim Gericht arbeitete. Damals gab es in den Akten unzählige in Sütterlin verfasste Schriftstücke. Sütterlin wurde erst 1941 durch die lateinische Schrift ersetzt, alle konnten es damals lesen und schreiben. Aber Arbeitskräfte wurden gebraucht und die meisten Frauen waren wohl nur Hausfrauen. Mutti hatte diese Schrift in der Schule gelernt und konnte Schreibmaschine schreiben. Da war sie perfekt als »Übersetzerin« geeignet. Nach einer kurzen Probezeit bekam sie einen Arbeitsvertrag und konnte jetzt eigenes Geld verdienen.

Sie freundete sich dort mit einer Kollegin an – Tante Hannelore. Ich dachte mein halbes Leben lang, dass sie eine leibliche Tante ist, mit der ich verwandt bin, und dass ich demzufolge einen Cousin sowie eine Cousine habe. Egal, ob befreundet oder verwandt, sie gehörten zu uns.

In unserem Haus in der Bauhofstraße wohnte auch Antje mit ihren Eltern. Schon vor dem Krieg hatten sie hier gelebt. Antje war in meinem Alter, hatte rote Haare und ein Fahrrad. Wenn ich jemals in meinem Leben auf etwas neidisch war, dann auf Antjes Fahrrad. Sie war noch am Üben, und ich wollte so gerne auch üben, aber ich durfte ihr Rad nicht mal anfassen. Ich konnte Antje nicht leiden.


Urte (r.) und Elke mit Antje

Mutti erklärte mir, dass das Fahrrad für Antjes Familie ein so wichtiger, seltener Besitz war und damit nichts passieren durfte. Solch einen teuren, wichtigen Besitz konnte meine Mutti nie anschaffen. Ich selbst vermochte es erst, als mein Sohn zehn Jahre alt war. Ich war vierzig, als ich dann im Urlaub an der Ostsee Radfahren übte. Mein Sohn hielt mich fest, und los ging’s. Als ich merkte, dass er losgelassen hatte, fiel ich das erste Mal um. Aber ich schaffte es bald, allein zu fahren, zum großen Amüsement meines Sohnes. Er erklärte mir anschließend: »Jetzt endlich weiß ich, was ein Klammer­affe ist.« So war mein Unvermögen wenigstens zu etwas gut.

Noch zu unserer Zeit in Wismar hatte Mutti eine Operation mit anschließender Kur. Elke und ich kamen knapp ein halbes Jahr in ein Heim nach Güstrow. Auf der Zugfahrt wurden wir von einer Nonne begleitet. Elke und mir blieb in Erinnerung, dass sie jedem von uns ein rohes Ei gab, das wir austrinken sollten. Ich als die Brave tat, wie mir geheißen. Es war gar nicht so schlimm. Elke, schon immer eigenwillig, wehrte sich standhaft dagegen, dies zu tun.


Mit Mutti im Garten von Tante Hannelore, faulenzen auf dem Liegestuhl, ca. 1950


Zeitgenössische Postkarte des Güstrower Schlosses, welches auch als Kinderheim diente

Dieses Heim war noch gar kein Heim. Es war das Güstrower Schloss, das gerade zum Kinderheim umgebaut wurde. Meine Schwester und ich waren die ersten Kinder dort. Neben der Erzieherin gab es im Schloss ein Gärtner-Ehepaar. Elke erzählt, dass die beiden mich unbedingt adoptieren wollten – mich, dieses süße Lockenköpfchen. Es musste ihnen erst erklärt werden, dass wir gar keine Waisenkinder waren.

Die arme Elke; dort in Güstrow begann es: Ich musste nachts immer aufs Klo, war aber ein totaler Angsthase. War es also mal wieder so weit, weckte ich meine große Schwester, und sie musste mitgehen. Mit nackten Füßen liefen wir über den Marmorboden durch die große Empfangshalle. Für mich ein Abenteuer, für Elke leidige Pflicht, Fürsorge für ihre nervende kleine Schwester. Als wir nach kurzer Zeit nicht mehr die einzigen Kinder im Heim waren, machten es mir die anderen Kinder nach und fingen an, alle nacheinander, Elke nachts zum »Klogang« zu wecken. Das ging natürlich nicht. So übernahm Elke, die spätere Regisseurin, schon damals die Regie. Wenn ein Kind musste, weckte sie alle Kinder und führte uns den langen, dunklen Weg zum »Gruppen-Pullern«.

Eingeschult wurde ich noch in Wismar. Mutti hatte für mich eine Schultüte gebastelt und bunt angemalt, aber viel interessanter war für mich die Aussicht auf ein wunderschönes blaues Halstuch. Ich brauchte nur in die Pio­nierorganisation einzutreten und schon hatte ich es. Mutti war dagegen. Wilhelm Pieck, dieser Russe, und jetzt ich als Jungpionierin? »Nein, kommt nicht in Frage!«

Am nächsten Tag kam ich mit dem Halstuch nach Hause, sauste vor den Spiegel und war glücklich. Mutti sagte nichts mehr dagegen.

Aber gegen die Luftballons, die ich nach Hause brachte, hatte sie etwas! Sie wollte nicht, dass ich damit spiele. Mitschüler hatten die in der Drogerie gekauft und auch ich bekam welche geschenkt. Kleine Ballons, die man ganz schön groß aufblasen konnte. Mutti hatte natürlich erkannt, dass die »Ballons« Kondome waren. Ein pfiffiger Drogist war wohl auf die Idee gekommen, den »Nachkriegsladenhüter« auf diese Weise zu verkaufen.


Elke und ich, etwa zur Zeit unserer Einschulung, um 1950

Ich wollte den anderen auch etwas schenken. Aber wie nur? In Muttis Manteltasche fand ich ein wenig Kleingeld, das klaute ich. Davon kaufte ich Bonbons und verteilte sie

in der Klasse. Es war herrlich, alle liebten mich. So einfach war das.

Anders sah es aus, als ich nach Hause kam. Mutti war sehr böse auf mich, wollte mir den Po versohlen. Ich sauste durch die Wohnung und entkam. Elke erzählte mir immer wieder, dass sie an meiner Stelle die Haue abbekam, weil sie greifbar war. Ich glaube, Mutti war einfach davon überzeugt, dass ich Elke in meinen Diebstahl eingeweiht hatte.

Seit ich denken kann, habe ich auf dem rechten Fußspann eine Narbe. Ich machte mir darüber nie besondere Gedanken, meine Schwester hatte sie auch. Also nahm ich an, jeder habe das. Eine »Fußnarbe« rechts.

Später fragte ich meine Mutti doch einmal, was das sei. Sie antwortete: »Das ist die Narbe von der üblichen Pocken­impfung.«

Diese Impfung wurde normalerweise automatisch in den Oberarm injiziert. Mutti aber befand: »Nein! Wenn die kleinen Mädchen mal junge Frauen sind und ein ärmelloses Kleid tragen möchten, ist der Arm verunstaltet. Auf dem Fuß ist es uninteressant.« Tja, meine Mutti.

Habt ihr Kummer oder Sorgen …

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