Читать книгу MidlifePunks - Uschi Ballboa - Страница 4
Freu dich bloß nicht zu früh
Оглавление„Verdammt nochmal! Ich habe keine Socken mehr. Wo sind die alle hin?“ Ich bin heute schon genervt aufgestanden, weil er die ganze Nacht in rhythmischen Unterbrechungen geschnarcht hat und sein Tonfall macht meine Laune gerade nicht unbedingt besser. „Die streiken wahrscheinlich zusammen mit deinen Unterhosen für bessere Arbeitsbedingungen“, fällt mir dazu ein. Wo sollen die wohl sein? So viele Möglichkeiten gibt es da doch auch nicht. Spontan komme ich auf vier: Sockenschublade, Wäscheständer, Dreckwäschekorb oder auch gerne mal lecker verstaubt in Einzelausführung unterm Bett. Suchen hasst er ungefähr genauso sehr wie Warten, daher fragt er immer sofort mich, wenn etwas nicht an seinem Platz liegt. Es sind ja schließlich auch wir Frauen, die immer alles umräumen müssen, so dass man nichts wiederfindet. Mir wird sogar von Zeit zu Zeit unterstellt, ich würde Dinge absichtlich verstecken. Natürlich, das ist doch mein allerliebstes Hobby. Wenn ich abends aus dem Büro nachhause komme, dann fange ich sofort damit an. Aber als allererstes ziehe ich meine Schuhe aus und stelle sie in den Weg anstatt in den Schuhschrank. Wenn alles versteckt ist, muss ich nur noch warten bis er nachhause kommt. Sobald ich den Schlüssel im Schloss höre, stürme ich ins Bad und blockiere erst mal das Klo. Das absolviere ich, seiner Meinung nach, mit purer Absicht. Und wenn er sich da so drüber aufregt, klingt es, als würde ich das Tag für Tag veranstalten. Klar, ich habe ja auch sonst nichts anderes vor, als Rio langfristig mit einem ausgeklügelten Plan zu desensibilisieren, was Stolpern, Suchen und Warten angeht. Ich hatte mal eine Freundin, die mir allen Ernstes verklickert hat, dass ihr Mann ihr Hobby geworden ist und sie deswegen nur noch sehr wenig Zeit für mich haben wird. Was habe ich mich bei diesem Satz erschrocken. Wer will denn sowas? Wenn man Evje Van Dampen glaubt, dann ist Liebe = Arbeit + Arbeit + Arbeit. Und ich bin der Meinung, dass man bei viel Arbeit unbedingt ein ausgleichendes Hobby haben sollte. Wer also die Arbeit zum Hobby macht, ist selber schuld. Ich mach da jedenfalls nicht mit. Aber ein richtiges Hobby könnte ich zurzeit wirklich gut gebrauchen. Am besten regelmäßig, komplett männerfrei und mit einer ordentlichen Schippe Spaß. Die kommt sowieso immer zu kurz.
„Mach doch eine Weiberband auf“, schlägt Rio vor. Er nun wieder. Was für bescheuerte Ideen der Mann manchmal hat: ich kann weder singen noch ein Instrument spielen. Außerdem weiß er doch, dass ich in der fünften Klasse beim Vorsingen direkt wieder aus dem Chor geflogen bin. Für ihn scheint das allerdings kein Hinderungsgrund zu sein. „Wieso rollst du mit den Augen? Denk‘ doch mal kreativ: Schon mal was von Punk gehört?“ Wird ja immer besser die ganze Nummer. Ich soll also mal kreativ denken, als ob mir das sonst völlig abgeht. Könnte ich es, würde ich jetzt an dieser Stelle die Provokations-Braue rausholen. „Super Idee“, rufe ich, „dann können wir ja demnächst gemeinsam auf Tour gehen!“
Zu meinem nächsten Geburtstag habe ich dann prompt einen E-Bass samt Verstärker bekommen. Mit Ironie hat er’s ja so gar nicht. Sieht aber sehr cool aus, das Teil und steht seitdem in der Ecke. „Und wie läuft’s?“, fragt er so etwa zwei Wochen später beim Sonntags-Frühstück. Ich lasse die Zeitung sinken und gucke ihn an. „Womit?“, mir ist nicht klar worauf er hinaus will. „Na, mit Bass und Band natürlich.“ „Ich frühstücke gerade und lese Zeitung“, mache ich klar, um meine Ruhe zu haben. Ich hasse es, wenn er mich noch vor Ende des ersten Kaffees ausfragt. „Das sehe ich, aber das war nicht meine Frage“, lässt er nicht locker. „Läuft prima“, versuche ich die Sache für den Moment einfach mal abzukürzen. „Ach ja? Das ist ja toll. Wo probt ihr denn?“ „Was?“, ich war schon wieder im Artikel versunken. Ist aber auch wirklich spannend zu lesen, warum und wie sich Leute Fett aus dem Hintern ins Gesicht spritzen lassen, um die Falten wieder rauszudrücken. Sachen gibt’s. „Wo ihr probt?“, hakt er nach. „Wieso wir?“, eine Frage jagt heute Morgen die nächste, “Ich und mein Bass, oder wie?“ Ich verstehe nur noch Bahnhof. Was will der von mir? „Du und deine Band, hör mir doch mal zu!“, seine Stimme wird schärfer und die Braue zuckt auch schon wieder sehr verdächtig. Ich lege die Zeitung weg. „Ich hab‘ noch keine Band“, sage ich betont ruhig und schaue ihn an. „Ich denke es läuft prima?“, wundert er sich. „Tut’s ja auch“, versuche ich mich rauszureden, „Ich bin aber noch in der mentalen Vorbereitungsphase.“ Dabei bemühe ich mich um einen richtig ernsthaften Künstler-Gesichtsausdruck, der wohl auch Wirkung zeigt. „Ja Mensch Uschi, dann sag das doch gleich und lass dir nicht alles aus der Nase ziehen.“ Ich will überhaupt nicht, dass mir irgendjemand irgendwas aus der Nase zieht. Ist ja ekelig. Weitere Fragen hat er nicht. Zumindest jetzt nicht.
Drei Wochen später sind wir zu einem Geburtstag eingeladen. Wir konnten auch tatsächlich beide gemeinsam hingehen, da gig-freies Wochenende. Ich freu mich riesig, denn das ist doch eher selten der Fall. „Bist du soweit?“, die Badezimmertür fliegt auf, während ich mir gerade die Haare mache. „Nur noch die Haare, Pipi machen und los“, antworte ich. Er macht ein komisches Geräusch und schließt die Tür. „Fünf Minuten“, schreie ich ihm hinterher. Wieso muss er immer so einen Stress machen? Das macht er grundsätzlich, egal, ob wir noch gut in der Zeit liegen, wie es heute der Fall ist, oder nicht. Ich bin im Laufe der Jahre generell dazu übergegangen, einfach immer auf den letzten Drücker fertig zu werden. Dann hat er wenigstens einen Grund mich zu hetzen. Wir sitzen, nachdem wir natürlich mehr als überpünktlich angekommen sind, ganz gemütlich bei Kerzenschein in großer Runde im Lokal und haben gerade angefangen zu essen. Es ist ein wirklich tolles Ambiente, und ich genieße den Abend sehr. Bis zu dem Moment, als Rio links neben mir sich offenbar spontan entschließt, die vorübergehende Stille während des allgemeinen Suppenlöffelns mit leichter Konversation etwas füllen zu wollen: „Wisst ihr schon das Neuste? Uschi gründet ‘ne Weiber-Punk-Band!“ Er beantwortet seine Fragen auch gerne selbst, wenn kein anderer schnell genug ist. Ich verschlucke mich mächtig an einem Mettbällchen, fange würgend an zu husten und verspüre dabei fast so etwas wie Dankbarkeit, dass ich gerade nichts sagen kann. „Echt?“, die Runde ist erstaunt und lässt die Löffel sinken. „Jepp“, über-nimmt Rio für mich und es klingt fast ein bisschen stolz. „Uschi, ich wusste gar nicht, dass du ein Instrument spielst“, kommt Gero betont erstaunt um die Ecke. Noch während ich überlege, wie ich da nun rauskomme, antwortet Rio schon wieder für mich, obwohl ich das Bällchen mittlerweile längst in die richtige Röhre bugsiert habe und für mich selbst hätte antworten können:
„Sie ist ja im Moment auch noch in der mentalen Vorbereitungsphase, stimmt doch Uschi, oder?“ Verflucht. Brennt der? Ich glaube, das Bällchen will nun wieder hoch und raus. „Jetzt sag doch mal“, lässt er nicht locker, aber dazu sage ich aktuell mal gar nix und gucke nur. Und zwar zornig entgeistert in Rios Richtung. „Toll!“, die Runde freut sich mit Rio und scheint meinen Blick anders zu deuten, „Wann können wir euch denn mal sehen?“ „Ich sag Bescheid“, mehr fällt mir dazu im Moment nicht ein und hoffe, das Thema ist vom Tisch.
„Kann ich auch mitmachen?“, erwischt mich dann zu fortgeschrittener Stunde doch noch diese fast schon hinterhältige Frage von Gertrud. Ich stehe an der Theke und drehe mich um. „Was kannste denn spielen?“, gebe ich den Ball zurück. Ich habe mir für heute Abend fest vorgenommen, mich nicht mehr verrückt machen zu lassen. Dabei sollen mir Kurze helfen. Die ersten beiden habe ich schon vernichtet. „Was ist denn noch über?“ Ich mag Gertrud, aber manchmal ist sie echt eine blöde Kuh. „Bass ist schon besetzt“, ich merke, wie sich der Kräuterschnaps wärmend ausbreitet und entscheide einfach mal, ein bisschen mit zu spielen. Man muss es sich schon selber lustig machen.
„Dann mach ich Gitarre, ja?“ Gertrud ist total aufgeregt. „Kannste das denn?“, ich erinnere mich nur ganz dunkel, dass sie mal in jungen Jahren am Lagerfeuer eine alte Klampfe in der Hand hatte. Aber wie das geklungen hat, kann ich nicht mehr sagen. Wenn‘s gut gewesen wäre, bin ich mir sicher, hätte ich mich erinnert. „Kann ich auf jeden Fall so gut wie du Bass.“ Potzblitz, das nenne ich mal eine spontane Antwort. „Na dann“, sage ich, „bist du natürlich dabei!“ und ordere zwei weitere Kurze damit wir das begießen können. Sie fängt an zu jauchzen, dreht sich wie ein Brummkreisel und als sie Gero entdeckt, stürmt sie auf ihn zu. Vom Drehen hat sie leichte Richtungsprobleme und entscheidet sich daher, mittig im Lokal stehen zu bleiben und es einfach allen zu verkünden „Ich bin jetzt Gitarristin in Uschi’s Band!“ Den Rest des Abends höre ich Gertrud zu, wie sie schon mal anfängt, alles durch zu planen, obwohl noch gar nichts da ist, was man planen könnte. „Also, du dann Bass, ich Gitarre. Dann brauchen wir noch Schlagzeug und Gesang wäre ja auch ganz gut, was meinste?“
„Genau“, mehr brauche ich den ganzen Abend nicht zu sagen. Dieses einfache Wort macht sie sehr glücklich und ich will ihr die Stimmung nicht verderben. Daher spare ich es mir folgende Überlegungen mit ihr zu teilen, überhaupt mal vorausgesetzt, dass wir noch drei weitere Weiber für die geplante Besetzung finden: Wo bekommen wir die restlichen Instrumente her? Wer bringt uns bei, wie man die spielt? Was kostet Unterricht? Wo können wir proben? Was spielen wir? Und was zieht man an, wenn man so alt ist wie wir und Punk machen will? „Ich will unbedingt mächtig toupierte Haare“, höre ich Gertrud derweil parallel weiter planen. Das wäre dann meine letzte Frage gewesen. Die kann ich schon mal streichen. Als ich mit Rio nachhause fahre, bin ich womöglich auch bedingt durch die Kurzen in richtig frohlockender Stimmung. Es fühlt sich fast schon so an, als hätte ich eine Band. Am nächsten Morgen habe ich ordentlich Helm und denke mir wie anstrengend es doch ist, Musikerin zu sein. Da klingelt das Telefon. Es ist Gertud. „Ich habe mir eine E-Gitarre von einem Nachbarn besorgt, wann fangen wir an?“ Manchmal denke ich, Gertud und Rio wären auch ein prima Paar geworden. Wie auch immer. Bei mir kommt dank Gertrud jedenfalls merkbar Dampf auf den Kessel, was meine zukünftige Hobby-Karriere angeht, die ich bis vor kurzem noch gar nicht angestrebt hatte. Läuft also bei mir im Gegensatz zu Rio. Der steht momentan eher auf der Stelle, denn was er als gestandener Musiker kurioserweise nicht hinkriegt, ist eine eigene Band; also keine Top40-Musiker-Nutten-Band, sondern eine mit eigenen guten Songs, mit denen Mann sich hinstellen kann und er selbst bleiben darf. Es gab da bereits diverse Versuche, aber lange hielt das nie wirklich.
Er hat mich auch schon gefragt warum das wohl so ist, dass keiner mit ihm spielen will. ACHTUNG! An solchen Stellen ist in der Konversation mit einem Musiker höchste Vorsicht geboten. Warum ist das wohl so, dass keiner mit ihm spielen will? Gute Frage. Ich spiele das gedanklich durch und komme zu dem Entschluss, dass es nichts auf musikalischer Ebene sein kann, denn da ist er echt Hammer. Er ist ein saugeiler Gitarrist und dabei nicht nur schnell, sondern auch groovig. Er zaubert Kompositionen, die richtig nach vorne gehen. Und er ist eine mächtige Rampensau, auch wenn er das im Alltag mehr als gut zu verstecken weiß. Aber stille Wasser sind tief und am Rande schlammig. Woran liegt das also? Vielleicht liegt es ja auch einfach daran, dass alles komplizierter wird, je mehr man kann und je höher der eigene Anspruch ist. Wer weiß, vielleicht kriegen wir das ja noch raus. Die Weiber-Band-Besetzung ist übrigens recht zügig komplett. Neben einer Bassistin und Gitarristin, die nichts können, haben sich nun auch eine Schlagzeugerin und eine Singstar-Sängerin gefunden, die sich auf gleichem Low-Level bewegen. Irre, wie sich Dinge manchmal so entwickeln. Dabei habe ich vor ein paar Wochen nur mal laut überlegt, was ich mir denn für ein hübsches Hobby suchen könnte. Weder Band, noch Bass waren meine Ideen und nun habe ich beides. „Passt eigentlich auch ein Saxophon in eine Punkband?“ Gertrud macht mir langsam Angst. „Warum?“, frage ich vorsichtig. „Ich habe eine Kollegin, die will unbedingt mitmachen und spielt Saxophon in einer Bigband.“ „Dann kann die also im Gegensatz zu allen anderen schon was?“, wage ich einzuwenden.
„Ja, aber von Punk hat die keinen Schimmer, dann passt das doch wieder, oder?“ Man beachte die feine Argumentationstechnik, da habe ich wohl kaum eine Chance. Ja, warum dann zum Teufel eigentlich nicht? Ist eh schon verrückt genug das Ganze, dann fällt sowas gar nicht mehr wirklich ins Gewicht. „Ich hab‘ jetzt auch eine Saxophonistin und die kann sogar was“, spiele ich mich beim Abendbrot etwas auf. Wenn man sich etwas dran gewöhnt hat, ist ein Punk-Sax fast schon innovativ. Rio guckt mich mit zusammengekniffenen Augen geduckt über den Küchentisch an. „Ich denke du machst eine Punk-Band?“ „Mach ich ja auch.“ „Mit Saxophon? Wo gibt‘s denn sowas?“
Dumme Frage eigentlich. Er selbst hat mir doch in seiner ach so kreativen Denke hübsch anschaulich erklärt, dass, wenn man etwas nicht kann und es trotzdem tut, dann ist das Punk. Wenn Punk sich hochoffiziell nur auf bestimmte Instrumente beschränkt – hätte er mir das nicht sagen können? Nun ist zu eh zu spät. Ich hab‘ schon zugesagt und meine Band setzt sich wie folgt zusammen: Gitarre = Gertrud. Gesang = Gerda. Schlagzeug = Gabriele (will gerne Gabby genannt werden). Saxophon = Gloria. Bass = Uschi. Gertrud hat übrigens schon festgelegt, dass jede, die singen möchte auch singen sollen darf. Weil das können wir ja alle auch nicht wirklich. Auch ein Band-Motto hat Gertrud schon gefunden: Wir können nix und tun es trotzdem. Mein logistisches linkes Hirnteil ist schon angesprungen und ergänzt die Liste der fehlenden Dinge: Mikrofone, -ständer,- kabel. Vielleicht hat Rio ja noch was Gebrauchtes in seinen tausend Schubladen im Musikzimmer. Ich frag ihn mal, wenn es konkreter wird.
Das erste Auftakttreffen zum Kennenlernen aller fand bei uns zuhause statt. Alle haben sich auf Anhieb gut verstanden, wenn auch alle sehr unterschiedlich sind. Es floss viel Sekt, Pläne wurden geschmiedet wie wir jetzt weiter vorgehen können-wollen-werden und am längsten von allem hat es gedauert, einen Namen zu finden. „Die Fünf lustigen Vier“, haut Gloria raus. „Dann will ich aber nicht die Fünfte sein, wenn nur vier lustig sind“, lacht Gabriele. „Wie wäre es mit Lebende Shorts?“, fragt Gerda. „Watt?“, die Runde wundert sich. „Na, in Anlehnung an die Toten Hosen nennen wir uns Lebende Shorts“, ergänzt Gerda, „Das ist doch voll lustig.“ Stimmt, ein bisschen schon, aber der Knaller ist das irgendwie noch nicht. Gertrud hat sich diesbezüglich bisher zurückgehalten, fährt nun aber voll auf: „Ich bin für Muddis Revenge oder Lattenkracher oder Menstru-Action.“ „Menstru-Action ist geil“, ruft Gabriele. „Find ich gar nicht geil“, ist Gloria dagegen, „wenn ich bei unserem Namen immer an monatliche Blutungen denken muss!“ „Wir bluten eben für die Musik und machen voll action! Das passt doch!“, nimmt Gabriele den Vorschlag von Gertrud in Schutz. Gloria überzeugt das allerdings nicht. Das werden wir heute wohl nicht mehr lösen können. Der Sekt ist auch alle. Schade.
Am nächsten Tag habe ich einen ordentlichen Helm. Ausnahmsweise holt Rio Brötchen. Man sieht mir wohl an, dass ich noch den Sekt von gestern abbauen muss. „Der Kaffee ist ja noch gar nicht fertig“, höre ich Rio rufen, als er wieder da ist. Ich war wohl wieder eingenickt. Da es aber keine Frage war, erachte ich eine Antwort auch als nicht zwingend notwendig. Kriegt er schon hin, macht er sonst ja auch, während ich die Brötchen hole. Aber da habe ich falsch gedacht, denn die Schlafzimmertür fliegt auf und Rio will mir die Decke wegziehen. Offensichtlich sieht er die Kaffeezubereitung heute ganz eindeutig in meinem Aufgabengebiet, weil er ja Brötchen holen war. „Lass das“, rufe ich. „Du musst Kaffeekochen.“ Ach guck, so hatte er das gemeint. Aus einer reinen Feststellung ist auf dem Weg nach oben ganz flugs eine Aufgabe für mich geworden. So schnell kann’s gehen. Ich hieve meinen schlaffen Körper aus dem Bett, schiebe Rio an die Seite und gehe wortlos die Treppe runter in die Küche. Dort schnappe ich mir die Kaffeebohnen und gebe fünf Löffel davon in die Hand-Kaffeemühle. Wir mahlen den Kaffee noch selbst. Da gibt es bestimmt nur noch wenige, die das so machen. Auch ich habe mich darüber gewundert, als Rio in mein Leben kam und als ich mal nachgefragt habe, ob das nicht ein bisschen umständlich ist in der heutigen Zeit, wurde ich schnell auf Kurs gebracht. „Alles andere schmeckt scheiße“, wird mir erklärt, „Ich weiß wovon ich rede!“ Wenn er das sagt, dann tut er das auch, denn er hat sich durch insgesamt 15 Kaffeesorten (gemahlen und ganze Bohnen) getrunken und mittels variablen Mischungsverhältnissen herausgefunden, welche die Beste ist. Doch damit nicht genug, denn erst der verwendete Zucker bestimmt durch Art und Menge den Erfolg des morgendlichen Kaffees. Auch da hat er sich durchprobiert und herausgefunden, dass brauner Krümelkandis erst so richtig Kick ins Bohnengetränk zaubert.
Zusammenfassend unterliegt die Kaffeezubereitung bei uns einer sehr strengen Vorgehensweise, an die auch ich mich ausnahmslos zu halten habe, weil ich ja im Detail vom Profi angelernt wurde. Man kann es aber auch übertreiben. „Hast du mehr als fünf Löffel genommen?“, fragt er mich als ich das Wasser in die Kaffeemaschine kippe. „Nein“, sage ich, „fünf Löffel wie immer.“ „Warum ist dann das Bällchen drüber?“ Hmm, welches Bällchen und wo drüber? Während ich noch darüber nachdenke, ob es was mit meinem Mettbällchen von neulich zu tun haben könnte, tippt er schon leicht hektisch gegen den Wasserstandsanzeiger. „Na da, das Bällchen ist über der Fünf und nicht drauf“, sagt er, „dann schmeckt der nicht.“ Doch, denke ich mir, der schmeckt. Er schmeckt nur ein Ticken anders als sonst. Stell dich nicht so an. Laut traue ich mich das allerdings nicht zu sagen und denke stattdessen darüber nach, wie ich meinen Fehler beheben kann. Das geht Rio offenbar nicht schnell genug: „Lass mal den Profi ran! Das kann man sich ja nicht mit angucken.“ „Der hat aber heute, frei habe ich gehört“, raune ich ihm zu und mache ein breites Kreuz, damit er nicht an mir vorbeikommt. Ich lass mich doch nicht umsonst aus dem Bett scheuchen. Soweit kommt es noch. Ich suche mir einen Strohhalm und sauge das überschüssige Milliliterchen Wasser wieder ab. Rio steht dabei in leicht gebückter Haltung mit fokussiertem Blick schräg hinter mir. „Nicht zu viel“, mischt er sich schon wieder ein, „sonst...“ „Jaaaaa, sonst schmeckt der nicht“, vollende ich seinen Satz, nachdem ich einen kleinen Rest aus dem Strohhalm habe zurücklaufen lassen, so dass das verdammte Bällchen genau auf der Fünf landet. „Iiiiiiieeeeh“, ist er angewidert, „Spucke-Kaffee! Ekelhaft!“ Das ignoriere ich, weil so schlimm kann meine Spucke ja nun wirklich nicht sein, sonst würden wir uns wohl kaum noch küssen. Ich frage ihn stattdessen „Haste alle Brötchen gekriegt oder waren schon welche aus?“ „Lenk mal nicht ab jetzt“, dann kurze Pause, „wo sind die Brötchen denn?“ „Woher soll ich das wissen?“, frage ich, „ich koche heute Kaffee“. Um es kurz zu machen: Er hat sie im Laden liegen gelassen und musste nochmal wieder los. So konnte ich die Kaffee-Session alleine beenden. Geht doch. Übrigens konnte ich es mir dann doch nicht verkneifen, dass Bällchen noch mal leicht in die Höhe zu treiben. „Siehste! So schmeckt der richtig“, er nickt energisch und bestätigt dabei mehr seinen Glauben als mich. Dass das Bällchen dann doch minimal über der Fünf war, schmeckt er also nicht mal raus und auch die Spucke scheint er mittlerweile vergessen zu haben. Immer diese Heiß-Dreher. Diese Eigenschaft sollte er dringend auf ihre Notwendigkeit überprüfen oder ein Lied darüber machen. Was weiß denn ich, ich bin ja hier nicht der Profi.