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2 Reflexive Praxis: (Nach-)Machen und (Nach-)Denken


Reflexive Qualitäten spielen im Selbstverständnis Sozialer Arbeit als Profession und Disziplin sowie im praktischen Alltag der Handelnden eine zentrale Rolle. Als Tätigkeit ist Reflexion ein rückbezügliches, vertiefendes Nachsinnen über Denken und Handeln in der Sozialen Arbeit. Reflexion nutzt sowohl analytisches Wissen, das auf kognitive Prozesse zurückgreift, wie auch mimetisches Wissen, das über körperliche Erfahrung und Nachahmung entsteht. Beide Wissensformen dienen dazu, unerwartete Situationen, aber auch gewöhnlich erscheinende Alltagssituationen kritisch in den Blick zu nehmen. Kritische Reflexion bezieht unterschiedliche Traditionen kritischen Denkens ein, um die Annahmen, die individuellen und kollektiven Praktiken zugrunde liegen, in Frage zu stellen. Dabei kommt der Kritischen Theorie als Grundlage kritischer Reflexion zu Fragen von Macht eine besondere Rolle zu.

„Reflexion“ gehört zu den zentralen Begriffen in Wissenschaft und Praxis Sozialer Arbeit und ist darum auch für die Betrachtung methodischen Handelns unerlässlich. Abgeleitet vom lateinischen Wortstamm „reflectere“ für „zurückbeugen“ tauchen verschiedene Bedeutungsvarianten des Wortes in der Sozialen Arbeit auf. Zum einen wird die Identität Sozialer Arbeit als „reflexiv“ charakterisiert, und zum anderen ist Reflexion etwas, das Studierende und Professionelle „tun“ sollen. „Reflexion“ dient also sowohl als Beschreibung für die Verortung der Sozialen Arbeit als Wissenschaft und für ihr Selbstverständnis als Profession, als auch für das konkrete situationsbezogene Denken und Handeln in der Praxis. Das Hauptaugenmerk dieses Kapitels liegt auf Reflexion als Tätigkeit, aber dennoch lohnt sich zunächst ein kurzer Blick auf die Identität Sozialer Arbeit als reflexive Wissenschaft und Profession, denn nur so erschließt sich die Wichtigkeit des Reflektierens auf der Handlungsebene .

2.1 Soziale Arbeit als reflexive Wissenschaft und Profession

Die derzeitige internationale Definition Sozialer Arbeit, verfasst im Juli 2014 von der International Federation of Social Workers (IFSW), definiert die Profession und Disziplin wie folgt (in deutscher Fassung):

„Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit. Dabei stützt sie sich auf Theorien der Sozialen Arbeit, der Human- und Sozialwissenschaften und auf indigenes Wissen. Soziale Arbeit befähigt und ermutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern, dabei bindet sie Strukturen ein. Diese Definition kann auf nationaler und/oder regionaler Ebene weiter ausgeführt werden“ (DBSH 2016, 2).

Wer die zentralen Begriffe dieser Definition auf sich wirken lässt, erahnt bereits, dass sich Soziale Arbeit einer Reduktion auf einige wenige Arbeitsformen oder Wissensfelder entzieht. Zu vielfältig und komplex sind die Aufgabenbereiche und Faktoren, die „das Soziale“ als Gegenstand der Arbeit konstituieren, um sich in einfache Rezepturen oder Anleitungen zur Problemlösung – so verlockend sie auch sein mögen – retten zu wollen. Was Soziale Arbeit in dieser komplexen Gemengelage kennzeichnet, ist ihre dauerhafte, reflexive Bewegung im „Dazwischen“. Als Wissenschaft und Profession fokussiert sie auf die wechselseitige Dynamik zwischen Menschen und ihrer Umwelt, zwischen gesellschaftlichen Strukturen und individuellen Bedürfnissen, zwischen Verhalten und Verhältnissen. Dieser doppelte Fokus erfordert eine bewegte und bewegliche Aufmerksamkeit, die typisch ist für die Soziale Arbeit. Zugespitzt formuliert könnte man sagen, dass es eben diese reflexive Bewegung im Dazwischen verschiedener Ebenen und Systeme ist, die den Raum Sozialer Arbeit herstellt und aufrechthält. Insofern sind reflexive Qualitäten wesentlicher Teil der Identität Sozialer Arbeit. Soziale Arbeit als wissenschaftliches Feld ist folgerichtig transdisziplinär verortet. Der Ausdruck „trans-“disziplinär verweist darauf, dass Soziale Arbeit quer zu anderen Disziplinen liegt und aktive Transformationsarbeit leisten muss, um Wissensbestände aus verschiedenen Geistes-, Sozial- und Gesundheitswissenschaften in Beziehung zu eigenen Problemstellungen, Prinzipien und eigenem Wissen zu setzen. Nur durch aktive Bewertungs-, Übersetzungs- und Gestaltungsarbeit generiert Soziale Arbeit aus den Informationen anderer Disziplinen relevantes Wissen für eigene Theorien und Aufgaben. In dieser Rückbezüglichkeit ist Soziale Arbeit als Disziplin daher reflexiv.

Auch als Profession ist Soziale Arbeit durch die ständige Bewegung im Spannungsfeld und Freiraum zwischen Ebenen und Elementen bestimmt. Sie leistet kreative und kritische Übersetzungs- und Überbrückungsarbeit an den Bruchstellen der modernen Gesellschaft und zwischen Systemen, wie etwa Bildungs-, Justiz- oder Gesundheitswesen, die jeweils ihrer eigenen Logik folgen. Lang etablierte Denkfiguren wie „Person-in-Umwelt“ und „bio-psycho-sozial“ (Kap. 3) spiegeln diese dynamische Verortung der Profession, die sowohl Veränderungen auf individueller Ebene wie auch soziale Reform der umgebenden Strukturen zur Zielrichtung sozialarbeiterischen Handelns macht. Gleichzeitig ist die professionelle Identität Sozialer Arbeit in diesem Spannungs- und Freiraum im „Dazwischen“ immer auch von Paradoxien und Ambivalenzen geprägt.

2.1.1 Das doppelte Mandat

Das sogenannte „doppelte Mandat“ ist beispielhaft für die ambivalente und mitunter widersprüchliche Qualität Sozialer Arbeit.


Das doppelte Mandat ist ein Strukturmerkmal der Profession und beschreibt den Umstand, dass die Soziale Arbeit grundsätzlich von zwei Seiten „Mandate“, d.h. Aufträge und dazugehörige Befugnisse, erhält, nämlich zum einen von staatlichen Institutionen der Gesellschaft und zum anderen von den AdressatInnen der Arbeit. Soziale Arbeit soll ebenso die Interessen des Staates oder der Gesellschaft vertreten, wie auch Bedürfnisse und Ansprüche der AdressatInnen. Diese Doppelung ist strukturell verankert, denn die Praxis der Sozialen Arbeit ist über gesetzliche Aufträge und Finanzierungsstrukturen eingebunden in staatliche Interessen. Daraus erklärt sich auch, dass Soziale Arbeit nicht einfach immer und überall dort sofort tätig wird, wo Menschen Bedürfnisse äußern, sondern am ehesten dort aktiv wird, wo es über gesetzliche Aufträge vorgegebene Strukturen und Finanzierungen gibt. Aus dem doppelten Mandat ergeben sich Spannungen, allen voran die zwischen Hilfeleistung einerseits und sozialer Kontrolle andererseits. Im Feld der Jugendhilfe zum Beispiel ist der doppelte Auftrag des Helfens und Kontrollierens besonders explizit, denn wenn es um die Sicherung des Kindeswohls geht, sind Jugendamt und freie Träger ausdrücklich beauftragt, als Helfer und Wächter zu fungieren. In anderen Arbeitsfeldern ist diese oft als „Grundwiderspruch“ bezeichnete Paradoxie von Hilfe und Kontrolle weniger augenfällig, aber sie ist in allen Feldern präsent, denn auch die Praxis unterhalb offizieller Regularien beinhaltet immer normative Elemente.

Die Ambivalenz des Helfens: „Helfen“ zu wollen bedeutet, Entscheidungen darüber zu treffen, was sein „soll“, was besser oder wünschenswerter wäre, wem und warum deswegen zu „helfen“ sei und oft auch wie das Ziel am besten zu erreichen ist. All diese Vorstellungen sind nicht nur geprägt vom persönlichen Hintergrund der HelferInnen sowie von größeren gesellschaftlichen und kulturellen Diskursen, sondern können der Selbstbestimmung jener, denen „geholfen“ werden soll, auch zuwiderlaufen. „Helfen“ ist darum ein in sich ambivalentes Unterfangen, da die Soziale Arbeit in beständiger Gefahr ist, Erfüllungsgehilfin normativer gesellschaftlich-staatlicher Interessen oder kulturell dominanter Vorstellungen zu sein, sodass sie unter Umständen am Ende mehr zum Erhalt des Status Quo als zum sozialen Wandel beiträgt. Es ist die Unauflösbarkeit dieser Ambivalenz, die die Reflexion zum notwendigen Bestandteil der Profession macht.

2.1.2 Reflexive Professionalität

SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen benötigen das, was Dewe und Otto (2012) als „Reflexive Professionalität“ bezeichnet haben, eine Form des Denkens und Handelns, die stets den (Rück-)Bezug zwischen den Elementen sieht und sucht, und dabei auch das eigene Verhältnis zu anderen nicht aus den Augen verliert. Es ist die Fähigkeit

„[…] Wissen fallspezifisch und in je besonderen Kontexten zu mobilisieren, zu generieren und differente Wissensinhalte und Wissensformen reflexiv aufeinander zu beziehen, [sowie] in Interaktionen mit den AdressatInnen eine Verständigung darüber herbeizuführen, was die je individuelle Problemkonstellation auszeichnet und was aus der Sicht der AdressatInnen Sozialer Arbeit eine angemessene Bearbeitung und Lösung der Problemkonstellation sein könnte“ (Dewe/Otto 2012, 215).

Dafür bewegen sich Professionelle der Sozialen Arbeit hin und her zwischen den konkreten, unsicheren und immer auch einzigartigen Handlungssituationen und dem allgemeineren Wissen, das zum Beispiel in methodischen Konzepten, in Theorien und über empirische Forschung bereitgestellt wird. Sie bedürfen der Fähigkeit der „Multiperspektivität“, d.h. sie müssen stets verschiedene Perspektiven einnehmen können, um die politischen Dimensionen in sozialen Problemen und die gesellschaftlichen Aspekte in individuell lokalisierten Schwierigkeiten zu erkennen und auf die Besonderheit der jeweiligen Situation beziehen zu können.

2.2 Reflexion als Tätigkeit

Angesichts der reflexiven Qualitäten der Profession und Disziplin Sozialer Arbeit ist es kaum verwunderlich, dass die Aufforderung zur Reflexion als Tätigkeit seit vielen Jahren in Studium und Praxis Sozialer Arbeit allgegenwärtig ist. Dennoch ist der Terminus trotz seiner Popularität oft unscharf.


Im allgemeinen Sprachgebrauch bedeutet reflektieren das vertiefende Nachsinnen über Erlebnisse, Empfindungen und Erkenntnisse. Es nimmt Vergangenes erneut in den Blick, spürt ihm nach, prüft es und imaginiert Künftiges vor diesem Hintergrund.

Was aber unterscheidet Reflexion von anderen Formen des Denkens, und welche Rolle spielt sie im Kontext von Bildung oder Praxis?

Meta-Kognition: Reflexion als Teil professioneller Tätigkeit und als Teil des Lernprozesses bedeutet, sich das eigene Denken, Sprechen und Tun im Zusammenhang mit situativen und biografischen Faktoren genauer anzusehen. Insofern ist Reflexion eine Form der Meta-Kognition, also eine Art des Denkens über das Denken. Dazu nimmt Reflexion sowohl die kleinen Momente der persönlichen Praxis wie etwa den Verlauf eines Gesprächs in den Blick, als auch die größeren Rahmenbedingungen des Handelns, wie zum Beispiel die Abläufe und Handlungslogik in Organisationen und Institutionen, sowie den gesellschaftlichen Kontext, in den Praxis eingebettet ist. Unerwartete oder neue Situationen bieten besondere Anlässe zum Reflektieren, aber auch Alltagssituationen, die erst einmal ganz gewöhnlich und „normal“ erscheinen, sind wichtige Reflexionsgegenstände, denn gerade das Vertraute und vermeintlich Normale gilt es genauer zu betrachten.

2.2.1 Mimetische und analytische Formen der Erkenntnis

Als eine Form des „Nachsinnens“ greift Reflexion auf das (Nach-) Denken zurück, das in den meisten Bildungsinstitutionen betont wird, aber auch auf das (Nach-)Machen, das in Lernprozessen allgegenwärtig, aber nicht immer bewusst ist. Reflexionsprozesse bieten so die Möglichkeit, sowohl analytische als auch mimetische Formen der Erkenntnis zu nutzen (Abb. 1).

Analytisches Wissen: Analyse bedeutet ursprünglich „Zergliederung“. Orientiert am gedanklichen oder theorie-geleiteten konzeptionellen Rahmen bricht analytisches Denken ein Phänomen auf, zerlegt es in Bestandteile, ordnet die Teile Kategorien zu, identifiziert Abläufe und Faktoren. Analysen sind in der Anlage systematisch und in der Darstellung oft von einem eher distanzierten Ton (vermeintlicher) Objektivität geprägt.

Mimetisches Wissen: Während analytisches Denken vorrangig rational-kognitive Fähigkeiten betont, beziehen sogenannte mimetische Formen der Erkenntnis auch andere, körperlich-physische Dimensionen mit ein. Mimesis bedeutet so viel wie „Nachmachen“ oder „Nachahmen“. Anders als in analytischer Logik, in der ein Phänomen in Bestandteile zerlegt und aus einer gewissen Distanz betrachtet wird, um es besser zu verstehen, fokussiert mimetische Logik jenes Wissen, das sich in und aus dem Machen und Nachmachen ergibt. Als eine Form des Noch-Einmal-Machens beruht mimetisches Wissen nicht nur auf mentalen, sondern immer auch auf körperlichen Aktivitäten und Erfahrungen. Der physische Körper samt Gesten, Haltungen, Sinneswahrnehmungen etc. wird in einer konkreten räumlichen Umgebung aktiv. Die daraus resultierende Form physisch verorteten Wissens ist ein „Be-greifen“, das dem analytischen (Nach-)Denken vorgelagert ist. Es ist praktisches Handlungswissen, das sich aus der zeitgleichen Verwobenheit von Tun und Wissen ergibt. Eine mimetische Orientierung in der Sozialen Arbeit ist „eine Art spontanes und gleichzeitiges Wissen und Tun, und das Begreifen der Welt-als-Ganzes statt Dichotomien von Subjekt und Objekt“ (Saleebey 1989, 558, Übers. d. A.).


Abb. 1: Reflexion zwischen mimetischem und analytischem Wissen


Denken Sie an die vielfältigen Alltagsfähigkeiten und -gewohnheiten, die Sie im Lauf des Lebens erworben haben, aber auch an besondere Kompetenzen. Überlegen Sie: Welche Rolle spielt „nachahmendes Lernen“ in Ihrer Lerngeschichte?

Inwiefern sind sowohl mimetische wie auch analytische Formen des Wissens und Lernens für Reflexionen in der Sozialen Arbeit wichtig? (Zur Erinnerung: „mimetisch“ meint hier Wissen und Lernen, das aus Machen, Nachmachen, Erfahren etc. kommt, und „analytisch“ meint Wissen und Lernen, das über Nachdenken generiert wird). Geben Sie Beispiele.

2.2.2 Reflexive PraktikerInnen

Welches Wissen kommt in professioneller Praxis zum Einsatz und wie wird dieses Wissen hergestellt? Diesen Fragen ging der USamerikanische Praxisforscher Donald Schön nach und analysierte die Entscheidungs- und Handlungslogik von Professionellen aus ganz unterschiedlichen Bereichen wie Design, Psychotherapie, Architektur oder Ingenieurwesen. Schön kam zu der Erkenntnis, dass professionelle Praxis nicht einfach die unmittelbare Anwendung von wissenschaftlichen Erkenntnissen, wie sie etwa im Studium erworben werden, ist. Vielmehr kombinieren Professionelle im Alltag Wissen, das aus der Wissenschaft kommt, mit Wissen, das sie in und durch Praxis gewinnen. Sie werden so zu dem, was Schön (1983) „Reflexive PraktikerInnen“ nannte. Mit seinem Modell der „Reflexiven PraktikerInnen“ distanzierte sich Schön von rein technisch-rationalen Bildungsansätzen, die davon ausgehen, professionelle Praxis bestehe allein daraus, Probleme in vorgegebene Kategorien einzuordnen und dann durch die stringente Anwendung bestimmter Techniken zu lösen. Praxis, so Schön, ist sehr viel „sumpfiger“ und unklarer, als es technisch-rationale Modelle vermuten lassen (Schön 1987, 3).

Wissen-in-Aktion: Über ihre Praxis entwickeln PraktikerInnen eine Form von „Wissen-in-Aktion“ („knowledge-in-action“), das ihre Handlungen und Entscheidungen beeinflusst, aber kaum oder nur mühsam artikulierbar ist. Sie haben es „irgendwie gewusst“, „im Gefühl gehabt“ oder „intuitiv so gemacht“. Erst wenn Professionelle mittels Reflexion eine forschend-lernende Haltung einnehmen, wird Wissen-in-Aktion zugänglich und beschreibbar und es entsteht formulierbares Praxiswissen.

Schön unterscheidet bei der forschend-lernenden Haltung ferner zwischen „Reflexion während der Aktion“ („reflection-inaction“) und „Reflexion über die Aktion“ („reflection-on-action“).

Reflexion während der Aktion: Hier geschieht das Reflektieren im Verlauf des Handelns. Ich unterbreche mein Handeln nicht oder nicht wesentlich, sondern bin und bleibe in derselben Situation. Diese Art der Reflexion während des Handlungsverlaufs wird vor allem dann angeregt, wenn Überraschendes meine üblichen Routinen oder Erwartungen „stört“. Überraschendes verweist darauf, dass mein Verständnis- und Erwartungsrahmen vielleicht nicht auf die Situation passt. Anstatt einfach wie gewohnt oder geplant weiter zu machen, nehme ich die Überraschung zum Anlass, meinen nächsten Schritt anzupassen und anders zu gestalten. In diesen Momenten fungieren PraktikerInnen als „MikroforscherInnen“, die über winzige Experimente das, was sie gerade wahrnehmen, mit schon bestehenden Ideen abgleichen. Sie probieren einen nächsten Schritt aus und achten dann darauf, was „die Situation antwortet“ („talk-back of the situation“). Wenn die Antwort oder Reaktion zum gewählten Verständnisrahmen passend erscheint, dann verfolgen sie diesen Weg weiter, wenn nicht, dann probieren sie erneut etwas anderes aus. Ob und inwieweit diese sehr schnell ablaufenden Anpassungsprozesse einer „Reflexion während der Aktion“ tatsächlich bewusst stattfinden oder doch eher außerhalb des Bewusstseins ablaufen, ist allerdings umstritten.

Reflexion über die Aktion: Diese Form der Reflexion findet bewusst und deutlich zeitversetzt von der Aktion statt. Die unmittelbare Situation ist vorbei und jetzt kann ich mir aus der Distanz den Prozess und das Erlebte genauer und mit mehr Ruhe ansehen. Dabei betrachte ich vor allem meine eigenen Entscheidungen und Handlungsweisen noch einmal: Welche Ideen habe ich verfolgt? Inwiefern habe ich diese Situation als vergleichbar mit anderen erlebten Situationen gesehen und entsprechend gehandelt? Gab es kleine Überraschungen, denen ich mit „Reflexion während der Aktion“ begegnet bin? Was fällt mir erst jetzt im Nachhinein auf?

Nach heutigem Stand des Wissens kann diese Form der rückblickenden Reflexion die unbewussten Entscheidungsprozesse vermutlich nur begrenzt „freilegen“. Studien aus der Neurobiologie bestätigen zwar, dass Entscheidungsprozesse vielfach unterhalb der Bewusstseinsebene ablaufen. Inwieweit eine nachträgliche gedankliche Rekonstruktion durch Reflexion diese unbewussten Motivationen aber wirklich zugänglich macht, ist unklar. Vielmehr tendieren Menschen dazu, ihren Handlungen nachträglich sozial und persönlich akzeptierbare Motive zuzuschreiben. Insofern verdeutlicht Reflexion vor allem, welche Interpretationen und Motive uns als sozial und persönlich akzeptierbar erscheinen. Genau diese Annahmen und Konventionen zu hinterfragen ist das Ziel „kritischer“ Reflexion.

2.3 „Kritisch“ reflektieren

Ähnlich wie der Ausdruck der Reflexion ist „kritisch“ eine populäre, aber nicht immer klar umrissene Idee. Im alltäglichen Sprachgebrauch hat „Kritik“ eine negative Konnotation. Da fällt jemand ein negatives Urteil oder geht gar auf die Suche nach etwas, woran er oder sie herumnörgeln kann. Zunächst aber meint Kritik eine dezidierte Auseinandersetzung mit einem Gegenstand anhand transparenter Kriterien. Es werden über bestimmte Maßstäbe Unterscheidungen hergestellt, die dann eine positive, negative, neutrale oder sonstige Bewertung ermöglichen.

In der Philosophie hat Kritik eine lange Geschichte, die eine Vielfalt theoretischer Bezugspunkte für kritisches Denken anbietet. Stephen Brookfield (2011) hat fünf Denktraditionen „Kritischen Denkens“ umrissen, die trotz der Verkürzung in der Darstellung der jeweils komplexen theoretischen Felder für das Verständnis kritischer Reflexion wichtige Impulse geben.

2.3.1 Traditionen „kritischen“ Denkens

Gemein ist den folgenden Traditionen kritischen Denkens, dass sie das Gegebene nicht einfach hinnehmen, sondern auf unterschiedliche Weise in Frage stellen und prüfen. Die Perspektiven unterscheiden sich im Verständnis davon, was „Kritik“ ausmacht. Die Unterscheidungen und Maßstäbe, die angelegt werden, sind daher jeweils anders fokussiert und führen zu anderen kritischen Anfragen (Abb. 2).

Amerikanischer Pragmatismus: In der Tradition des Amerikanischen Pragmatismus, einer philosophischen und soziologischen Denkschule, bedeutet „kritisch“, sich das alltägliche Handeln in der Praxis stets genau anzusehen und durch Experimentierfreude das Verständnis einer Sache beständig zu verbessern. Da Donald Schön in der Tradition des Pragmatismus stand, ist es nicht überraschend, dass sich sein Modell der Reflexiven PraktikerInnen als passend zu dieser Sichtweise zeigt. Auch Teil dieser Denktradition ist die Einsicht, dass soziale Kontexte wesentlich mitbestimmen, welche (Be-) Deutungsrahmen Handlungen erhalten.


Abb. 2: Theorietraditionen kritischen Denkens (nach Brookfield 2011)

Aus der Perspektive des Amerikanischen Pragmatismus ergeben sich kritische Reflexionsfragen wie z.B.:

● Welche meiner Handlungen führen zu erwarteten bzw. unerwarteten Ergebnissen?

● Inwiefern ist das, was ich gerade erlebe, ähnlich dem, was ich schon in anderen Situationen erlebt habe?

● Inwiefern ist es anders als schon Erlebtes?

● Was war überraschend und was sagt mir das über meinen Verständnis- und Erwartungsrahmen?

● In welchen Momenten habe ich mein geplantes oder übliches Handeln angepasst und warum?

● Welche Reaktionen hatte das zur Folge?

● Was war daraufhin meine nächste Handlung und was das Ergebnis?

● Inwieweit verändert sich mein Verständnis- und Erwartungsrahmen?

● Was leite ich aus dem Gesamtprozess für mein professionelles Verstehen und Handlungsrepertoire ab?

Psychoanalyse und -therapie: Die Tradition von Psychoanalyse und -therapie fokussiert darauf, wie Verhaltensweisen und Emotionen, die in der Kindheit entwickelt wurden, die Entwicklung von Poten tialen im Erwachsenenleben hindern oder fördern. „Kritisch“ meint hier primär die Auseinandersetzung mit psychologischen, inneren Prozessen und verinnerlichten Verständnis- und Beziehungsformen. Aus dieser Sicht betrachtet bedarf „Reflexion“ einer systematischen und von den Konzepten der Psychoanalyse informierten Beschäftigung mit inneren emotionalen Dynamiken und Kindheitserfahrungen. Diese Perspektive betont insbesondere die Selbstreflexion der eigenen Biografie für die professionelle Entwicklung, sowie das Wissen um Konzepte wie „Übertragung“ und „Gegenübertragung“, „Widerstand“ und „Abwehrmechanismen“.

Aus der Perspektive der Psychoanalyse und -therapie ergeben sich kritische Fragen für die Reflexion wie z.B.:

● Inwiefern sind (meine) Verhaltensweisen (in einer gegebenen Situation) von emotionalen Faktoren geprägt?

● Welche emotionale Reaktion habe ich?

● Wie gehe ich mit meinen Emotionen um?

● Wie reagiere ich auf die Emotionen anderer?

● Welche Art Beziehung biete ich meinem Gegenüber an?

● In welche Rolle (Retter, Mutter, Freund,...) begebe ich mich?

● Woher (aus meinen früheren Beziehungen) kenne ich diese Rolle?

Analytische Philosophie: Die Tradition der Analytischen Philosophie widmet sich der Analyse von Sprache und Argumentationen. „Kritisch“ bedeutet hier nach Aufbau und Logik von Argumentationsweisen, sowie nach deren sprachlichen Mitteln zu fragen. Kenntnisse aus Sprachwissenschaften wie z.B. der Semiotik helfen bei dieser Form der kritischen Analyse.

Aus der Perspektive der Analytischen Philosophie lassen sich kritisch reflektorische Fragen ableiten wie z.B.:

● Welches sind die zentralen Thesen und Argumentationen in den Aussagen des Gesprächspartners/der Gesprächspartnerin oder eines Textes?

● Wie logisch ist der Aufbau der Argumente?

● Welche Worte werden genutzt, und wie werden sie genutzt?

● Welche rhetorischen oder anderen sprachlichen Mittel (Vergleiche, Metaphern, etc.) kommen zum Einsatz?

● Inwieweit sind Beschreibung und Bewertung getrennt oder verschränkt?

Kritischer Rationalismus: In der Tradition des Kritischen Rationalismus, der das vorherrschende Paradigma der Naturwissenschaften ist, bedeutet „kritisch“, nach der empirischen Beweislage zu fragen. Hier steht vor allem die quantitative Forschung, das systematische Testen von Hypothesen möglichst mittels kontrollierter Experimente, im Vordergrund. Dabei gilt das Prinzip der „Falsifikation“, d.h. ein Experiment muss so angelegt sein, dass die Hypothese widerlegbar ist. Wissen gilt immer als vorläufig, wird aber in dem Maße robuster, wie es über die Anzahl vertrauenswürdiger empirischer Studien unterstützt wird. Diese Perspektive profitiert vom Wissen um Forschungsmethoden und wird vor allem in der sogenannten „Evidenzbasierten Praxis“ (Kap. 3.3.3) vertreten.

Reflexionsfragen aus der Perspektive des Kritischen Rationalismus können z.B. sein:

● Wie viele Studien gibt es zu diesem Phänomen/dieser Behauptung?

● Inwieweit belegen bzw. widerlegen Studien die Behauptungen?

● Wie solide sind diese Studien aufgebaut und wie aktuell sind sie?

● Anhand welcher Stichproben und welcher Messungen kommen die Ergebnisse zustande?

● Wie glaubhaft sind ihre Ergebnisse?

● Wie robust ist die empirische Beweislage insgesamt?

Kritische Theorie. In der Denktradition der Kritischen Theorie stehen Aspekte der Macht im Mittelpunkt. „Kritisch“ meint hier, Machtstrukturen und -prozesse in den Blick zu nehmen und dominante Ideologien in Frage zu stellen, um Hegemonien und Unterdrückung zu erkennen und zu begegnen. Theoretische Konzepte der „Frankfurter Schule“ der Soziologie, sowie poststrukturalistische Theorien bieten dabei besondere Orientierung.

Reflexionsfragen, die sich aus der Perspektive der Kritischen Theorie ergeben, sind z.B.:

● Was wird als „normal“ oder „ideal“ angenommen?

● Wie sind Machtdynamiken darin involviert?

● Welche Personengruppen oder Institutionen profitieren von der dominanten Idee des „Normalen“?

● Wessen Perspektive wird repräsentiert und wessen Blickwinkel wird ausgeblendet oder abgewertet?

● Wie hat sich eine bestimmte Idee durchgesetzt, wie wird sie aufrechterhalten oder verändert?

● Welche Formen des Widerspruchs oder Widerstands gibt es? usw.

2.3.2 Kritische Reflexion in der Sozialen Arbeit

Kritische Reflexion in der Sozialen Arbeit kann alle fünf Traditionen kritischen Denkens nutzen. In besonderer Weise aber gilt es, die Kritische Theorie in der Reflexion zugrunde zu legen, weil sie die machtpolitischen Dimensionen des Handelns fokussiert, die in den Routinen des Alltags nicht wahrgenommen werden oder schnell wieder aus dem Blickfeld und dem Bewusstsein geraten. So eignet sich Kritische Theorie besonders, um zum Beispiel den gesellschaftlichen und kulturellen Vorstellungen von Normalität, an denen sich Fachkräfte orientieren und die auch in die institutionellen Aufträge Sozialer Arbeit eingeschrieben sind, zu hinterfragen. Interessiert daran, warum etwas so und nicht anders interpretiert oder getan wird, versucht Kritische Reflexion auf diese Weise, den verborgenen Zusammenhängen zwischen dem Individuellen und dem Sozialen, zwischen dem Persönlichen und dem Politischen auf die Spur zu kommen.

„Kritische Reflexion in der Sozialen Arbeit bedeutet das Erschüttern grundlegender, sozial dominanter und oft unbewusster Annahmen, die Individuen verinnerlicht haben, und zwar insbesondere Annahmen darüber, wie die Soziale Welt konstituiert ist und wie sie funktioniert, mit dem Ziel, diese Annahmen und die damit verbundenen Handlungsoptionen überarbeiten zu können und so zu einer veränderten professionellen Praxis zu gelangen“ (Fook/Gardner 2007, 21, Übers. d. A.).

Die Suche nach unausgesprochenen Annahmen

Mit „Annahmen“ sind hier jene Ideen gemeint, die unserem Denken oder Handeln zugrunde liegen und aus denen wir nächste Schritte und logische Schlussfolgerungen ableiten. Oft benennen wir diese Annahmen nicht klar, sondern sie bleiben unausgesprochen, weil wir davon ausgehen, dass sie logisch, selbstverständlich und richtig sind. Annahmen lassen sich in ihren Varianten unterscheiden in (Brookfield 2011):

Kausale Annahmen: Kausale Annahmen sind jene, in denen wir von ursächlichen Zusammenhängen zwischen Faktoren ausgehen. „A ist der Grund für B“ ist eine klassische Kausalkonstruktion. Aber auch „Wenn-dann“–Verknüpfungen, die streng genommen nur Korrelationen beschreiben, werden oft als Ursachenkonstruktion präsentiert oder interpretiert.

Präskriptive Annahmen: Präskriptive Annahmen beruhen auf Wert- und Normvorstellungen, die vorschreibenden Charakter haben. Es sind jene Ideen, die sich in „soll“ und „sollte“, in „muss“, „müsste“ oder „darf nicht“ Formulierungen wiederfinden lassen. Ethische, moralische sowie rechtliche Vorstellungen und Kodifizierungen gehören in diese Kategorie, aber auch viele sedimentierte Gewohnheiten und Konventionen des Denkens und Handelns. Aufgrund ihrer orientierenden Funktion bestimmen präskriptive Annahmen Denken und Handeln mit besonderem Nachdruck und sind oft emotional aufgeladen.

Paradigmatische Annahmen: Paradigmatische Annahmen bezeichnen grundlegende, als völlig selbstverständlich verinnerlichte Vorstellungen, die von einer Mehrheit der Gesellschaft oder der relevanten sozialen Gruppe geteilt werden. Obwohl diese Annahmen im Verlauf der Geschichte sozial gewachsen sind, lassen sie sich oft nur mit Mühe als Konstrukte erkennen, sondern werden als „natürlich gegeben“ wahrgenommen. Paradigmatische Annahmen zu erschüttern kann einem inneren Erdbeben gleich kommen, wenn damit unsere Sicht auf die Welt oder unsere Identität in Frage gestellt wird. Entsprechend groß sind Verwirrung und Widerstände gegen kritische Anfragen an paradigmatische Annahmen. Spätestens hier kann Kritische Reflexion auch zu einem als zutiefst unangenehm und schmerzhaft empfundenen Prozess werden.

Da individuell und kollektiv verinnerlichte Ideen miteinander verschränkt sind, ist der Kontext, in dem etwas gedacht, gesagt oder getan wird, stets von Bedeutung. Insofern lässt sich die Prüfung persönlicher Annahmen und Praxis erweitern um den Fokus auf Gruppen, Organisationen oder größere gesellschaftliche Diskurse, die in ihren kollektiven Denk- und Handlungsweisen auch bestimmte Annahmen verinnerlicht und oft strukturell verankert haben. Ein kritischer Blick auf diese Verflechtung zeigt mitunter, dass die Grundsätze, die offiziell handlungsleitend sind, nicht deckungsgleich mit der tatsächlichen Handlungslogik sind. Argyris und Schön (1999) nannten diese Inkongruenz den Unterschied zwischen „espoused theory“ und „theory-in-use“.

„Espoused theory“: heißt so viel wie „die Theorie, der ich zu folgen glaube, bzw. der ich mich verschrieben habe“ und beschreibt jene Logik des Handelns, die „vorgebracht wird, um bestimmte Aktivitätsmuster zu erklären oder zu rechtfertigen“ (Argyris/Schön 1999, 29). Es sind also jene theoretischen Grundsätze und -regeln, nach denen ich meine zu arbeiten oder nach denen in Organisationen offiziell gearbeitet wird bzw. werden soll.

„Theory-in-use“: ist dagegen die „Theorie-im-tatsächlichen-Gebrauch“ und meint jene Handlungsrationalität, der im Arbeitsalltag de facto und meist stillschweigend gefolgt wird oder die innerhalb von Organisationen mehr oder weniger unausgesprochen die Abläufe bestimmt. Die „Theory-in-use“ ist nicht immer bewusst und lässt sich oft erst aus der genaueren Beobachtung und Befragung des Handelns rekonstruieren.

Schritte Kritischer Reflexion

Für den Prozess der Kritischen Reflexion hat Brookfield (2011) vier Schritte skizziert:

1. Genaue Betrachtung und Beschreibung von Worten und Taten

2. Identifizieren und Prüfen von Annahmen

3. Aktiver Perspektivenwechsel

4. Von Reflexion zurück zu Praxis

Im Folgenden sind für jeden Schritt zur Anregung jeweils Fragen für die unterschiedlichen Ebenen der Praxis Sozialer Arbeit angeschlossen.

Genaue Betrachtung und Beschreibung von Worten und Taten: Die Suche nach Annahmen auf individueller Ebene geschieht z.B. auf der Grundlage von verschriftlichten Situations- oder Fallbeschreibungen, über Audio- oder Videoaufnahmen von Situationen oder Interviews, oder auch über Darstellungen, die auf direkter Beobachtung oder Teilnahme an einer Situation basieren.

Auf der individuellen Ebene beginnt Kritische Reflexion mit Fragen nach Beschreibungen wie:

● Was genau ist da abgelaufen?

● Was habe ich (oder andere) getan, gesagt, gedacht oder gefühlt?

● Worauf habe ich (oder andere) reagiert und worauf nicht?

● Was wollte/will ich (oder andere) erreichen?

Auf der Organisationsebene können neben Beobachtungen, Interviews oder anderen Beschreibungen auch bestehende Texte und Regelungen, wie etwa die Konzeption der Organisation, ihre Selbstdarstellung auf der Webseite, Arbeitsablaufpläne, etc. Gegenstand der Reflexion sein.

Auf der Ebene von Organisationen ergeben sich so erste Fragen wie:

● Wie wird die Arbeit in der Organisation beschrieben?

● Von wem wird sie so beschrieben?

● Welche Ziele und Prinzipien werden benannt?

● Wie sind Abläufe der Arbeit organisiert?

● Welche Worte oder Bilder werden genutzt?

Auf größerer gesellschaftlicher Ebene können auch andere Materialien, wie etwa Medienprodukte zu einer Thematik, genauer in den Blick genommen werden, um die Zusammenhänge kollektiver und individueller Praktiken zu beleuchten.

Auf gesellschaftlicher Ebene lassen sich Materialien zu einem Thema befragen z.B. über Fragen wie

● Von wem wird die Thematik aufgegriffen?

● Wie wird die Thematik dargestellt?

● Wann, wo, wie häufig wird sie dargestellt?

● Welche Worte oder Bilder werden genutzt?

Identifizieren und Prüfen von Annahmen: In diesem Schritt werden die Darstellungen kritisch auf die darin impliziten kausalen, präskriptiven und paradigmatischen Annahmen hin befragt.

Für die Annahmen der individuellen Ebene ergeben sich Fragen wie z.B.:

● Welche Bedeutungen habe ich dem Geschehen zugeschrieben?

● Wie rechtfertige ich das eigene Handeln?

● Welche Zielvorstellungen sind implizit?

● Warum wollte/will ich diese Ziele erreichen?

● Was habe ich als „normal“ oder „erstrebenswert“ gesetzt?

● Welches Menschenbild liegt meinem Handeln zugrunde?

● Welche Idee habe ich davon, warum sich Situationen oder Menschen verändern?

● Welche Rolle weise ich mir und anderen zu?

● Woher kommen meine Annahmen?

● Wie und wo habe ich gelernt, so zu denken?

● Welchen Einfluss hat meine Biografie?

● Welche empirische Grundlage haben meine Annahmen?

● Inwieweit sind meine „espoused theory“ und „theory-in-use“ deckungsgleich oder abweichend von einander?

Für die Ebene kollektiver professioneller Praxen in Organisationen oder Institutionen eröffnen sich ergänzend kritische Fragen wie z.B.:

● Welche Annahmen über menschliches Verhalten sind in den Darstellungen oder Abläufen in der Organisation enthalten?

● Was wird als „normal“ oder „erstrebenswert“ gesetzt?

● Wessen Wissen/welche Art Wissen wird besonders wertgeschätzt, wessen Wissen/welche Art Wissen wird weniger oder gar nicht beachtet?

● Welche Idee darüber, wie Situationen oder Menschen sich verändern, ist in den Darstellungen bzw. Abläufen verborgen?

● Welche Rolle(n) weist sich die Organisation selber zu?

● Welche Rollen werden anderen zugewiesen?

● Wer trifft am Ende die Entscheidungen?

● Inwieweit sind „espoused theory“ und „theory-in-use“ in der Organisation deckungsgleich oder abweichend von einander?

● Welche Rolle spielen Kontextfaktoren, wie z.B. Finanzierungsstrukturen, Hierarchien, politische Vorgaben, erlaubte Zeitfenster etc.?

Auf gesellschaftlicher Ebene lassen sich Fragen an mediale oder andere Darstellungen richten wie z.B.:

● Welche Bilder und Vorstellungen sind dominant?

● Wie werden Menschen(gruppen) oder gesellschaftliche Institutionen repräsentiert?

● Wie werden Worte oder visuelle Darstellungen genutzt, um diese Bilder von Menschen, Institutionen, Stadtteilen etc. herzustellen?

● Welche Annahmen über die „Natur“ des Menschen und menschliches Verhalten sind in den Darstellungen enthalten?

● Wie werden diese Ideen gerechtfertigt?

● Was wird als „normal“ oder „erstrebenswert“ gesetzt?

● Welche Historie haben diese Normal- oder Idealvorstellungen?

● Wer wird in diesen Ideen privilegiert, benachteiligt oder ausgeschlossen?

● Worüber wird nicht gesprochen?

● Wer kommt nicht oder nicht hinreichend zu Wort?

Aktiver Perspektivenwechsel: Auf der Grundlage der kritischen Prüfung der Annahmen werden gezielt mehrere andere mögliche Sichtweisen eingenommen oder ausprobiert.

Für Perspektivwechsel auf der individuellen Ebene sind mögliche Reflexionsfragen z.B.:

● Wie kann das Geschehen anders gedeutet werden?

● Wie deuten andere involvierte Personen (KlientInnen, Angehörige, Freunde, weitere beteiligte professionelle VertreterInnen etc.) die Situation?

● Welche anderen Annahmen über Menschen und ihre Motivationen könnte ich zugrunde legen?

● Welche anderen Rollen kann ich einnehmen, und was bedeutet das für die Rolle meines Gegenübers?

● Welche anderen Zielvorstellungen sind möglich?

● Welche anderen Wege zum Ziel sind denkbar?

● Welche Perspektiven bietet die Fachliteratur zum Thema Ziele oder zum Thema Wege zum Ziel für diese Problemstellung?

Für Perspektivwechsel in kollektiver professioneller Praxis lässt sich z.B. fragen:

● Was ist aus Sicht der AdressatInnen „normal“ oder „erstrebenswert“?

● Welche anderen als bislang formulierte Zielvorstellungen sind für die Organisation denkbar?

● Welche anderen Wege zum Ziel sind denkbar?

● Welche anderen Annahmen über menschliches Verhalten oder Veränderungsprozesse könnten zugrunde gelegt werden?

● Wie stellt sich die Situation aus dem Blickwinkel anderer Disziplinen oder Professionen dar?

● Was sagt die Fachliteratur über Ziele, Angebote, Abläufe etc.?

Perspektivenwechsel auf der Ebene gesellschaftlicher Ideen ergibt sich über Fragen wie:

● Welche Sichtweisen, die von dominanten Perspektiven abweichen, sind in Darstellungen bei genauerem Hinsehen bereits zu finden?

● Wenn andere Personen(gruppen) auf diese Thematik blicken (würden), wie verändern sich Darstellungen und Verständnis?

● Welche anderen Perspektiven ergeben sich aus einem Abgleich mit anderen kulturellen oder politischen Gemeinschaften (anderen Ländern, gesellschaftlichen Gruppen etc.)?

Von Reflexion zurück zur Praxis: Letztlich gilt es, Fragen zu beantworten, die den Gesamtprozess Kritischer Reflexion für die Praxis fruchtbar machen.

Für die individuelle Ebene ergeben sich Fragen wie z.B.:

● Welchen Unterschied machen meine kritischen Überlegungen für die spezifische vorliegende Situation?

● Wie verändert sich mein Verständnis der Situation (des Problems, der Aufgaben- oder Zielstellung, meiner Rolle) im Einzelfall bzw. darüber hinaus für künftige Praxis?

● Wie schlagen sich veränderte Annahmen oder Perspektiven in meinem Handeln nieder? Welche Worte und Taten wähle ich (eher)?

● Welche größeren Ableitungen ergeben sich über den Einzelfall hinaus für meine Praxis?

Auf Gruppen- oder Organisationsebene lässt sich z.B. fragen:

● Welche Perspektiven und veränderten Annahmen sind für die Praxis auch dauerhaft wertvoll?

● Wenn andere Perspektiven oder Annahmen über menschliches Verhalten oder Veränderungsprozesse zugrunde gelegt werden, wie müssten sich die Angebote der Organisation ändern?

● Wenn andere Annahmen über menschliches Verhalten zugrunde gelegt werden, wie müssten sich die Abläufe in der Organisation ändern?

● Wie lassen sich andere Perspektiven oder Annahmen in der Organisation strukturell verankern?

● Wie können Strukturen und Abläufe inklusiver und partizipativer gestaltet werden?

Auf gesellschaftlicher Ebene sind Fragen zur Anregung z.B.:

● Wie kann nicht-dominanten, aber wichtig erscheinenden Perspektiven mehr Gehör verschafft werden?

● Wie können alternative Perspektiven, Annahmen und Repräsentationsformen gestärkt werden?

● Wie können gesellschaftliche Strukturen und Normen (z.B. rechtliche Vorschriften oder Regelungen) für diese anderen Sichtweisen oder Annahmen geöffnet oder genutzt werden?

● Welche Organisationen, Netzwerke, Medien oder anderen politischen Kräfte können dafür identifiziert oder mobilisiert werden?

2.4 Reflexion kritisch reflektiert

Obwohl, oder gerade weil, dieses Kapitel so nachdrücklich für Reflexion plädiert und das Potential betont, das vor allem Kritische Reflexion für die Praxis bereithält, zum Abschluss noch ein paar Worte der Vorsicht.

Reflexion ist kein Allheilmittel: Reflexion löst nicht alle Unklarheiten, Ambivalenzen oder Widersprüche der Sozialen Arbeit auf. Richtig verstanden wird Reflexion im Gegenteil die Dinge oft verkomplizieren, indem sie bis dahin unerkannte Dilemmata, Ungereimtheiten und ungewollte Nebeneffekte deutlich macht. Diese Verunsicherungen und Uneindeutigkeiten gilt es auszuhalten – eine wichtige soziale Fähigkeit, die „Ambiguitätstoleranz“ genannt wird.

Reflexion ist ein andauernder Prozess: Reflexion ist nie wirklich abgeschlossen. Wenn Sie sich dabei ertappen, sich für besonders reflektiert (im Sinne von „erleuchtet“) zu halten, dann ist das vermutlich ein guter Moment, sich nicht ganz so sicher zu sein.

Reflexion ist nicht Therapie: Die in der Selbstreflexion betonte Beschäftigung mit eigenen psychischen Dynamiken wirft die Frage auf, wo die Grenze zwischen Therapie einerseits und Selbstreflexion andererseits verläuft. Selbstreflexion in Studium und Praxis zielt auf die professionelle Entwicklung, während Therapie, als ein intensiver, freiwilliger Prozess der Selbstexploration, dem privaten Entwicklungsprozess dient. Dennoch sind Überschneidungen in der persönlichen Auseinandersetzung mit biografischen Themen augenfällig und verweisen auf mögliche Risiken der Reflexion, da die Bedingungen in Studium und/oder Praxis nicht immer geeignet sind, um persönliche Erschütterungen hinreichend zu begleiten.

Reflexion ist keine „unschuldige“ Praxis: Eingebunden in größere Machtstrukturen und -dynamiken ist Reflexion als Teil des Studiums Sozialer Arbeit eine Sozialisierung in die Profession, die über Selbst-Disziplinierung zu „besserer“ Praxis führen soll. Nach dem Studium setzt sich diese Dynamik von Reflexionen in Teamsitzungen, Fallberatungen oder in supervisorischen Prozessen fort und wird als Instrument oder Indikator der „Qualitätsentwicklung“ gesehen. Trotz der noblen Intention wirkt die Aufforderung, das eigene Denken und Handeln ständig zu beobachten, zu prüfen und obendrein den Prozess und die Ergebnisse für die Bewertung von KommilitonInnen oder KollegInnen, Lehrenden oder Vorgesetzten zu veröffentlichen, aber nicht immer nur befreiend, sondern auch kontrollierend. In einer Gesellschaft, die zunehmend mit Überwachung und Risikoabschätzung beschäftigt ist, kann Reflexion so auch zu einer Form der Machttechnologie der (Selbst-)Überwachung werden, die mit entsprechender Vorsicht zu genießen ist.

2.5 Exemplarische Vertiefung: „Fördern und Fordern“

Das Wortpaar „Fördern und Fordern“ ist zu einem programmatischen Schlagwort mit großer Verbreitung geworden und wirkt sich auch auf das Denken und Handeln in der Sozialen Arbeit aus. Die folgenden Aufgabenvorschläge bieten Anregungen zu einer kritischen Reflexion des Schlagworts und greifen dabei auf analytisches und mimetisches Wissen zu.


Teil 1: Reflexion des eigenen Alltagswissens (ca. 5 Minuten). Machen Sie sich, nur für sich, ein paar Notizen zu folgenden Fragen:

● Ist Ihnen der Ausdruck „Fördern und Fordern“ vertraut? Wenn ja woher?

● Was ist Ihre eigene erste Reaktion auf den Ausdruck „Fördern und Fordern“?

● Welche Assoziationen und Emotionen verbinden Sie damit?

Teil 2: Wort-Skulpturen. Stille Übung in Gruppen von ca. 5–12 Personen (Diese Übung basiert u.a. auf Ideen und Techniken des ImageTheaters des Theaterpädagogen Augusto Boal).

Mehrere Freiwillige machen sich selbst jeweils zu einer Skulptur, die aus ihrer Sicht das Wort „Fördern“ repräsentiert, d.h. sie nehmen eine Körperhaltung samt Gesichtsausdruck ein, die aus ihrer Sicht „Fördern“ verkörpert. Probieren Sie ein bisschen aus, bis Sie etwas finden, das sich stimmig anfühlt. Halten Sie diese Position solange, bis alle TeilnehmerInnen der Gruppe Ihre Skulptur sehen konnten. Lösen Sie sich aus Ihrer Position, um die Skulpturen anderer zu betrachten, und nehmen Sie danach wieder Ihre Haltung für ca. eine Minute ein. In einer zweiten Runde nehmen Freiwillige (dieselben oder andere) die Position und Ausdrucksform einer Skulptur ein, die für sie „Fordern“ repräsentiert. Gehen Sie genauso vor wie zuvor, und halten Sie diese Position, bis alle TeilnehmerInnen Ihre Skulptur und Sie die Skulpturen der anderen sehen konnten. Das Ganze geschieht wortlos.

Fragen zur Anregung der Reflexion und Gruppendiskussion im Anschluss:

● Welche Beobachtungen haben Sie an sich selbst als Skulptur gemacht?

● Welche Körperbereiche standen unter besonderer Anspannung?

● Welche Assoziationen und Emotionen hatten Sie im Verlauf der Übung?

● Was fiel Ihnen bei der Betrachtung anderer Skulpturen auf?

● Welche Aspekte des Begriffs „Fördern und Fordern“ sind Ihnen dadurch klarer oder unklarer geworden?

Teil 3: Hintergrundrecherche. Forschen Sie nach Hintergrund und Bedeutung der Wort-Doppelpackung „Fördern und Fordern“:

● Woher kommt dieser Ausdruck?

● Seit wann ist er in der Öffentlichkeit vertreten?

● In welche größeren gesellschaftlichen Zusammenhänge ist er eingebettet?

● In welchen Arbeitsfeldern und Institutionen der Sozialen Arbeit taucht er auf?

● Wie wird er in die Tat umgesetzt, d.h. in welche Maßnahmen, Regeln etc. wird „Fördern und Fordern“ für das methodische Handeln übersetzt?

Anregung zur kritischen Analyse und Reflexion, nachdem Sie genauer nach der Herkunft und Nutzung des Ausdrucks recherchiert haben:

● Welche Annahmen über das „Verändern“ von Menschen und ihren Situationen stecken in dem Begriff?

● Welches Menschenbild verbirgt sich darin?

● Welches Gesellschaftsbild verbirgt sich darin?

Teil 4: Gesamtauswertung aller Übungsteile. Betrachten Sie noch einmal Ihre ersten Notizen aus Teil 1 und alle nachfolgenden Ideen.

● Auf welche Annahmen (kausale, präskriptive oder paradigmatische, siehe Erklärungen in Kap. 2.3.2) sind Sie gestoßen?

● Welche anderen Perspektiven haben Sie entdeckt oder eingenommen?

● Was leiten Sie insgesamt aus Ihrer Kritischen Reflexion für künftiges Handeln ab?


Oschmiansky, F. (2010): Aktivierender Staat und aktivierende Arbeitsmarktpolitik, verfügbar unter: www.bpb.de/politik/innenpolitik/arbeitsmarktpolitik/55052/aktivierende-arbeitsmarktpolitik?, 26.06.2017

Virchow, F. (2008): „Fordern und Fördern“ – Zum Gratifikations-, Sanktions- und Gerechtigkeitsdiskurs in der BILD-Zeitung. In: Wischermann und Thomas (Hrsg.): Medien – Diversität – Ungleichheit. Zur medialen Konstruktion sozialer Differenz. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 245–262

Grundkurs methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit

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