Читать книгу Im Land der drei Zypressen - Ute Christoph - Страница 6

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Olargues, 2. Mai 1997

Ich lenkte den Wagen geschickt über die kurvige Landstraße. In einer kleinen Straßenbucht parkte ich den Golf, stieg aus, lehnte mich gegen das Auto und betrachtete mit verschränkten Armen die bezaubernde Landschaft.

Ein kurzer starker Regenschauer hatte den Staub aus der Luft gewaschen, und nun brannte die Sonne wieder heiß und erbarmungslos auf die südfranzösische Landschaft. In der aufsteigenden Feuchtigkeit mischten sich die Düfte der Umgebung. Der würzige Geruch alter Bäume vermengte sich mit dem Duft des klaren Wassers aus dem Fluss neben der Landstraße, während unzählige bunte Blumen eine milde Süße ausströmten. Ich sog den atemberaubenden Duft gierig ein.

Das Licht war nach dem Regen besonders intensiv. Die glänzenden Blätter der immergrünen Montpelliereichen reflektierten die Sonne, jedes anders, sodass die Baumkronen in den unterschiedlichsten Grüntönen schimmerten. Ihr Wuchs war bizarr und bildete mit den schroffen Felsen der Gegend eine wildromantische Einheit.

Ich rieb meine Oberarme und genoss die Berührung der sonnengewärmten Haut. Alles war perfekt. So musste das Paradies sein.

Was ich sah und atmete, stand in krassem Gegensatz zu den Eindrücken, die ich tagsüber in St. Pons gesammelt hatte. In den engen Gassen blätterte die vor Jahrzehnten aufgepinselte Farbe von alten Häusern und hinterließ faustgroße graue Flecken. Bunte Neonbuchstaben über Ladeneingängen, deren Türen sich noch mit einer Klinke öffnen ließen, bildeten einen fast morbiden Kontrast zu vergilbten Werbeschildern aus Emaille. Küchengerüche waberten aus den Wohnungen über den Geschäften. Ganz schwach nahm ich dazwischen den Duft frisch gewaschener Wäsche wahr, die auf roten Plastikleinen zwischen schmiedeeisernen Balkongittern quer über die Straßen gespannt trocknete.

Während ich über den Markt bummelte, hörte ich den lautstark feilschenden Händlern und Kunden zu, ohne ein Wort zu verstehen, lauschte dem sanften Klang der französischen Sprache und bestaunte das breite Angebot: Zwischen ausladenden Ständen mit bunter Kleidung und noch bunteren Schuhen, mit eingelegten Oliven und Tapenade, zahllosen Brot- oder Fischsorten gab es kleinere Stände mit Obst und Gemüse, Eiern und Käse oder Gewürzen.

Jetzt zog der lichtverwöhnte Horizont meinen Blick an. Ein Regenbogen wuchs aus der Spitze des höchsten Berges, ließ die Welt weit unter sich und schwang sich elegant in ein Tal hinter den Bergen. Seine Farben waren wie aus einem Kindermalkasten, so kraftvoll, dass der absteigende Teil des Bogens sich in der feuchten Luft spiegelte. Der Regenbogen schien auf ewig in den Himmel gemeißelt.

Ich seufzte tief, wandte mich ab und kletterte zurück in mein Auto. Ein wenig melancholisch beschloss ich vor meiner Rückkehr in mein Feriendomizil in den Gorges zu baden.

Während ich das Auto durch die Kurven manövrierte, zog der Regenbogen meinen Blick immer wieder magisch an.

Auf dem provisorisch wirkenden Parkplatz standen nur noch zwei französische Kleinwagen und ein schmutziges Wohnmobil. Ich nahm meine Tasche mit den Badesachen aus dem Kofferraum und begab mich auf den Weg zu dem steilen, ausgetretenen Pfad, der in die Schluchten führte.

Zehn Minuten später erreichte ich die natürlichen Steinbassins, in denen das klare Bergquellwasser in der gleißenden Nachmittagssonne silbern glitzerte. An einer Stelle mit großen, glatten Felsen zog ich Sandalen, Shorts und T-Shirt aus und ließ mich nackt in das eisige Wasser gleiten. Mein Herz raste, mein Atem stockte. Die Kälte betäubte den inneren Schmerz, der mich nach Frankreich begleitet hatte und noch immer wie ein Blutegel an meiner Seele saugte. Frierend und nach Luft schnappend tauchte ich auf, kletterte aus dem Bassin und legte mich lang ausgestreckt auf den glatten, sonnengewärmten Fels. Das glucksende Wasser und ein sanfter Wind, der leise in den Baumkronen säuselte, beruhigten meinen Herzschlag. Ich schloss die Augen und fiel in einen leichten Schlaf.

Als ich wieder erwachte, wurde es kühl und die Abenddämmerung setzte ein. In die langsam hinter den Bergen versinkende Sonne blinzelnd, beeilte ich mich, meine Kleidung überzustreifen und zum Auto zurückzulaufen.

Von der kurvigen Landstraße, die die Siedlungen in den Tälern verband, wand sich ein asphaltierter Weg in das Bergdorf, in dem ich auf dem Hof eines reizenden älteren Ehepaars ein Zimmer bezogen hatte.

Das Gehöft lag ein Stück unterhalb des Dorfes und bestand aus einem kleinen zweistöckigen Haupt- sowie zwei dazu im rechten Winkel gebauten Nebengebäuden. Im Erdgeschoss des Haupthauses befanden sich die gemütliche Wohnküche und zwei Zimmer, in der ersten Etage weitere, von Angele und Andre genutzte Räume. Im linken Nebengebäude waren eine kleine Käserei und der Stall für die Tiere untergebracht. Ein weiterer Stall rechts neben dem Haupthaus war umgebaut worden und beherbergte nun drei hübsche Zimmer für Touristen und einen winzigen Speiseraum. In dem offenen Karree von Haupt- und Nebengebäuden lag der Garten mit gepflegten Beeten, in denen Gemüse und Kräuter wuchsen. Bunte Wiesen begrenzten das Grundstück zu beiden Seiten.

Als ich um die letzte Kurve auf die alte Hofstatt aus Bruchstein zufuhr, winkte mir meine Gastgeberin Angele lächelnd zu. Sie pflückte dicke Tomaten von den prächtig wachsenden Stauden.

„Sie kommen genau zur richtigen Zeit. Das Essen ist in einer halben Stunde fertig“, sagte sie mit dem typisch südfranzösischen Akzent, der weder Nasallaute noch das vornehm im Rachenraum geformte „r“ kennt.

Ich duschte ausgiebig, trocknete mich ab und schlüpfte in eine bequeme Stoffhose und einen leichten Baumwollpulli. Erst als der Duft des Abendessens aus der Wohnküche durch das offene Fenster in mein Zimmer strömte, stellte ich fest, dass ich seit dem Frühstück nichts mehr zu mir genommen hatte und hungrig war. Je näher ich der Küche kam, desto lauter knurrte mein Magen. Da ich im Augenblick der einzige Gast der Vidals war, aßen wir gemeinsam und ich genoss die gemütlichen Mahlzeiten mit den Beiden.

„Bon soir, Elke. Hatten Sie einen schönen Tag?“ fragte Angele.

Sie lächelte, und ihr vom südfranzösischen Klima gegerbtes Gesicht legte sich in tausend Fältchen.

Ich berichtete der kleinen Frau von meinem Besuch in St. Pons und dem kurzen Abstecher in die Gorges.

Mein Schulfranzösisch war zwar im Laufe der letzten Jahre etwas eingerostet, aber ich konnte mich immer noch gut verständlich machen.

„Haben Sie sich eigentlich in unserem schönen Dorf schon einmal genauer umgesehen?“ Angele schöpfte eine Kelle gut riechenden Eintopf auf meinen mit Blümchen gemusterten Teller, während ihr Mann André die Gläser mit Rotwein füllte.

„Nein“, antwortete ich und schüttelte den Kopf, „das habe ich morgen vor. Ich bin bisher nur mit dem Auto die Straße hochgefahren. Von dort oben hatte ich einen fantastischen Blick auf das ganze Dorf. Es scheint ziemlich groß zu sein.“

„Das ist es“, brummte André und tunkte ein Stück Brot in seinen Eintopf.

„Ich packe Ihnen für den Ausflug etwas zu essen ein“, schlug Angele vor. „Dann können Sie Olargues ausgiebig besichtigen, ohne uns zu verhungern.“ Sie fuhr sich mit der flachen Hand über das silbergraue Haar, das sie am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengebunden hatte.

Während Angele das benutzte Geschirr vom Tisch in die Spüle räumte, bedeutete mir André, mit ihm nach draußen zu gehen. Wir nahmen unsere Weingläser und setzten uns auf die Bank gleich neben der Tür. Ich lehnte mich an die immer noch sonnenwarme Bruchsteinmauer und sah ziellos in den Himmel.

Unzählige Sterne reihten sich eindrucksvoll aneinander wie goldene Nadelstiche auf schwarzem Samt. Die Milchstraße war nicht länger nur eine Fantasie aus exotischen Märchen – ich sah sie. Mein Blick wanderte über diese endlose Straße, während die Grillen zirpten und eine Nachtigall ihr Lied sang.

„La voie lactée“, erklärte André und deutete mit dem Zeigefinger in den Himmel.

„La voie lactée – Milchstraße“, wiederholte ich.

André nickte zustimmend, obwohl er kein Deutsch verstand.

Angele hatte ein Stück trockenes Holz ins Feuer gelegt, und es duftete nach verbrannter Eiche. Anfang Mai waren die Tage in den Bergen zwar sonnig und warm, doch in den Abendstunden kühlte die Luft in den Bergdörfern merklich ab und die Einwohner entzündeten in den Öfen und Kaminen kleine Feuer.

Während ich gelegentlich an meinem Wein nippte und gedanklich die vielen sinnlichen Eindrücke des vergangenen Tages passieren ließ, drehte sich André eine Zigarette und sinnierte leise vor sich hinmurmelnd über die Arbeiten des nächsten Tages. Früh morgens wollte er ein Huhn schlachten, anschließend die Wiese mähen und danach Ziegenkäse machen.

Die kleine Herde der Vidals bestand aus zehn Ziegen. Und manchmal verarbeitete André in seiner Käserei auch die Ziegenmilch der Nachbarn.

Käse, den die Dorfbewohner selbst nicht benötigten, boten sie auf einem der nahe gelegenen Wochenmärkte feil, ebenso wie die Ernten aus den Gärten. Da in dem sonnigen Klima Obst und Gemüse im Überfluss wuchsen, war es den Bewohnern von Olargues möglich, einen guten Teil davon auf den Märkten der Umgebung zu verkaufen.

Dieser herrlich schroffe und gleichzeitig blühende Landstrich, die heimelige Atmosphäre des Hauses und die Gastfreundlichkeit der Vidals taten mir gut. Das alles war Balsam für meine geschundene Seele. Es war erst mein zweiter Abend bei Angele und André, und wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich nicht wieder nach Deutschland zurück gemusst, zurück in die Einsamkeit meiner kleinen Wohnung.

Am späten Morgen weckte mich das Motorengeräusch eines Freischneiders. Ich öffnete das alte, knarrende Sprossenfenster, steckte den Kopf hinaus und sah hinab ins Tal. Die Schatten vereinzelter Wolken krochen langsam an der gegenüberliegenden Hügelkette hinauf. Der frische Duft von gemähtem Gras lag in der Luft.

Ich drehte mich um und betrachtete das Zimmer. Ein Bett, ein Schrank, ein Tisch und ein Stuhl, alles aus hellem, massiven Holz. Trotz oder vielleicht gerade wegen der simplen Einrichtung verströmte der Raum eine ungeheure Wärme und Gemütlichkeit. Die grob verputzen Bruchsteinwände waren weiß getüncht. Vier Kanthölzer über dem Bett umrahmten einen bildgroßen Ausschnitt von Bruchsteinen, darüber befand sich eine Glasscheibe. „Damit man sieht, wie es vor der Renovierung ausgesehen hat“, hatte André erklärt. Ich ging in das angrenzende kleine Bad und betrachtete mein Gesicht unter dem schulterlangen, dunkelblonden Haar im Spiegel. In den Augenwinkeln der grünen, leicht schräg stehenden Augen zeichneten sich die ersten Fältchen ab.

Für 32 ist das in Ordnung, dachte ich und lächelte meinem Spiegelbild freundlich zu. Ich hatte schöne, gerade Zähne. Der kleine Mund passte in das ovale Gesicht. Meine Nase war schmal und vielleicht ein bisschen zu lang. Ich sah an mir herab. Mit gerade mal einem Meter sechzig war ich zwar nicht besonders groß, aber Arme, Beine und Oberkörper passten proportional zueinander. Nur die kleine Wölbung des Bauches störte mich. Den plötzlichen Stich in meinem Herzen ignorierte ich.

Als ich wenig später die Wohnküche betrat, goss Angele gerade Wasser in eine große Schüssel mit Mehl, Zucker, Eiern und Butter, tauchte die bloßen Hände in das Gefäß und begann, kräftig zu kneten. Ich wusste bereits, dass daraus am Ende ein schmackhaftes süßes Brot entstand.

Das Frühstück stand auf dem Tisch. Brot vom Vortag – Angele backte jeden Tag –, Butter, Käse aus Ziegenmilch, Paté, die André aus dem Supermarkt im Nachbarort mitgebracht hatte, und Maronencrème.

In einem Reiseführer hatte ich gelesen, dass sich die Menschen in dieser Region früher vornehmlich von Maronen ernährt hatten. Nach der Ernte rösteten sie die Kastanien in zu diesem Zweck errichteten Hütten, um sie haltbar zu machen. Auf den Steinböden dieser Hütten entzündeten sie große Glimmfeuer, über denen die Maronen auf einem übergroßen Gitterrost über Tage hinweg, in denen das Feuer stetig vor sich hin schwelte, konserviert wurden. Sie verarbeiteten die Frucht zu Brot, Kuchen, Suppe und Aufstrich.

„Schade, dass Sie erst nach der Kirschblüte gekommen sind“, sagte Angele. „Die Pracht des weißen Blütenmeers hätte Ihnen gefallen. Wir haben an der Dorfstraße ein Stückchen weiter oben ein kleines Grundstück mit Kirschbäumen, wie viele Nachbarn hier.“

„Ich bin bestimmt nicht zum letzten Mal hier“, warf ich ein, und da war ich mir ganz sicher.

„Sie sind hier jederzeit herzlich willkommen.“

Angele wies mit dem Zeigefinger auf einen olivgrünen Rucksack auf der Anrichte neben dem Ofen, in dem jetzt der Brotlaib verschwand.

„Ich habe Ihnen etwas zu essen eingepackt. Es wird ein schöner Tag, warm, aber nicht heiß. Also genau das richtige Wetter, um sich unser Dorf anzusehen.“

Sie blinzelte mir aufmunternd zu.

„Das werde ich“, sagte ich lächelnd, stellte das Geschirr in die Spüle, nahm den kleinen Rucksack mit dem Lunch und warf ihn mir über die Schulter.

Dann gab ich Angele spontan einen Kuss auf die Wange und verließ das Haus.

Der Pfad vom Grundstück der Vidals mündete auf die Dorfstraße, die von Kirschbaumplantagen gesäumt in das Zentrum von Olargues führte, das vor tausend Jahren in den Hang gebaut worden war. Schmale Häuser in Ocker- und Umbratönen schmückten die verwinkelten Gassen. Neben den blau lackierten Türen, die sich direkt auf die Straße öffneten, standen Kübel mit üppig blühenden Pflanzen. Aus den Steinen, mit denen die Gassen gepflastert waren, brachen bunte Blumen. Manche Sträßchen waren für Autos viel zu eng. Vor tausend Jahren hatte man daran noch nicht gedacht.

Alles war so einfach, so ursprünglich.

Den Wegen kreuz und quer folgend, ließ ich mich spontan leiten von Eindrücken beim Blick in abbiegende Gassen, lief unter alten Torbögen hindurch und kletterte über grob behauene, ausgetretene Steinstufen.

Besonders begeistert war ich von den Ruinen längst verlassener Häuser. Die Dächer fehlten, herabgestürzte Bruchsteine lagen auf den felsigen Böden in den Erdgeschossen. Nur die Mauerreste, die schier unverwüstlichen Kastanienbalken der Zwischendecken und des Dachstuhls, und manchmal ein paar Treppen, die sich haltlos in den Himmel streckten, erzählten Teile der Geschichte dieser Ruinen. Üppiger Efeu räkelte sich an den Mauern empor. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Ranken die Mauern zum Einsturz brachten und ­­von dem Haus nur noch ein Haufen Steine und ein paar morsche Holzbalken übrig blieben. Die Natur hätte gesiegt. Die Erzählung des Hauses wäre beendet.

Mir war, als würde ich Geschichte atmen.

Ich gelangte an ein Backhaus, ein kleines, rundes Bruchsteingebäude ohne Fenster. Die Tür war verschlossen. Ob irgendwer im Dorf es heute noch benutzte?

Über einen Platz schlendernd stieß ich auf die Überreste eines Hauses, das einmal sehr groß gewesen sein musste. Was war das gewesen? Eine Kirche? Warum hatte man sie verfallen lassen? Oder war sie abgebrannt?

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und sah aus wie geschmolzenes Gold. Es sollte warm werden, hatte Angele gesagt, nicht heiß. Mir war heiß. Als Deutsche und Südfranzösin maßen wir augenscheinlich mit unterschiedlichen Maßstäben. Ich zog den leichten Pulli aus, den ich über meinem T-Shirt getragen hatte, und knotete die Ärmel um die Hüften. Ein warmer Wind liebkoste meine nackte Haut. Ich schloss die Augen und genoss mit den verbleibenden Sinnen.

Als ich wieder aufsah, ließ ich meinen Blick über die Hügelkette jenseits der Landstraße schweifen. An einer Ansammlung von Ruinen hielt ich inne – es waren zu wenige für ein ganzes Dorf, aber doch zu viele für ein einzelnes Haus. Das könnte ein Weiler gewesen sein. Ich kniff die Augen feste zusammen, um besser sehen zu können. Inmitten der Steinansammlung zählte ich drei nebeneinander stehende, hoch gewachsene Zypressen. Ich musste da hin.

Der rote Golf holperte den steinigen Weg des Hangs hoch, den ich vor wenigen Minuten von Olargues aus entdeckt hatte. Von der Landstraße aus waren nur die drei Zypressen zu sehen gewesen, und so hatte ich den nächstmöglichen Pfad genommen, von dem ich glaubte, er könnte zu den Ruinen führen.

Ganz plötzlich endete die Straße vor einer Mauer aus wild wuchernden Hecken. Ich nahm den Rucksack mit dem Lunchpaket, schloss den Wagen ab und orientierte mich. Ich fand eine Lücke in den Hecken, durch die ich mich mühsam hindurchzwängte, und stieß auf einen schmalen Trampelpfad, der mich um die Zypressen und Ruinen herumzuführen schien.

Ließ mich meine Orientierung im Stich? Hatte ich wirklich die richtige Richtung eingeschlagen?

Ich wollte bereits umkehren, als ich glaubte, das Ende des Pfades zu sehen. Ich begann zu laufen. Und dann blieb ich wie angewurzelt stehen und schluckte. Zwei wie mit dem Lineal gezogene Reihen Schatten spendender Rotbuchen säumten eine Allee üppig wachsender Wildkräuter, die sich auch zwischen den Bäumen angesiedelt hatten. Ein unglaublicher Anblick!

Das muss eine Zufahrt gewesen sein, schoss es mir durch den Kopf, eine Zufahrt zu einem herrschaftlichen Hof. Nur Eigentümer großer Anwesen bepflanzten Zufahrten mit großen Bäumen.

Durch Wildkräuter und Dornen kämpfte ich mich über den scheinbar endlosen, unsichtbaren Weg zwischen den Rotbuchen.

Meine Augen kletterten an den Stämmen der Bäume empor bis in die Kronen, während ich mit den Händen die hüfthohen Gräser und Dornen vor mir auseinander schob. Ich atmete angestrengt und stöhnte vor Schmerz kurz auf, wenn die spitzen Dornen kleine blutige Striemen in meine Handflächen ritzten.

Am Ende der Allee streckten sich die drei Zypressen machtvoll vor den Resten einer Häuserfassade in den Himmel. Langsam ging ich auf sie zu. Das Blut pulsierte in meinen Adern.

Plötzlich stieß mein Fuß gegen ein Hindernis. Ich ging in die Knie und strich mit der Hand durch das hohe Gras. Eine Stufe, dann eine Zweite. Unter all den wuchernden Gräsern befand sich eine Treppe.

Vorsichtig bewegte ich mich weiter.

Ich ertastete die verborgenen Stufen mit Händen und Füßen und erreichte eine Öffnung in der Fassade, wo einst die Eingangstür gewesen sein mochte.

Andächtig verharrte ich auf der Stelle. Mein Herz schlug vor Aufregung so laut, dass ich es in den Ohren hörte. Meine Hände schwitzten.

Das musste einmal ein sehr großes Haus gewesen sein. Jetzt waren seine Wände bis auf die Überreste eingestürzt. Mehrere Steinhaufen lagen verstreut zwischen unkultiviert wachsenden Bäumen, Pflanzen und Gräsern.

Ich betrat die Ruine und drehte mich nach links. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen, bis ich erneut gegen etwas stieß. Konnte das eine Wand gewesen sein? Ich kletterte auf das Hindernis und balancierte vorwärts. Ja, das schien eine Wand gewesen zu sein. Plötzlich war die Mauer zu Ende. Ich kletterte vorsichtig ins Gras. Etwa zwei Meter weiter setzten sich die Mauerreste fort. Zwei Meter! Hatte sich hier eine Tür befunden? Eine große Doppeltür vielleicht? Eine Flügeltür? Etwa drei Meter weiter bog die Mauer unter mir unvermittelt in einem spitzen 90-Grad-Winkel nach links.

Zwei weitere Male stieg ich ab und wieder auf.

Hinter dem ersten Zimmer lag ein zweiter Raum, mit einer Verbindungstür. Ich überlegte, welchen Zweck das zweite Loch in der Mauer gehabt haben könnte. Vielleicht hatte sich dort ein Kamin befunden? Waren dies ein Speiseraum und eine dahinter liegende Küche gewesen?

Weitere Zimmer konnte es auf dieser Seite nicht geben, die hintere Hauswand lag dafür zu nah.

Ich ging zur rechten Seite des Hauses. Es dauerte, bevor ich wieder auf kniehohe Überreste einer Wand stieß.

Warum war zwischen der linken Wand mit der großen Schwingtür, wie ich vermutete, und der rechten Wand so viel Platz?

Ich grübelte. Um in ein Obergeschoss zu kommen, musste es eine Treppe gegeben haben. Ja, das war es, eine breite, geschwungene Holztreppe, die viel Platz benötigte.

Ich schritt zwei weitere Räume ab.

Das Haupthaus eines großen, herrschaftlichen Anwesens, dachte ich. Dazu passend die Zufahrt mit den Rotbuchen.

Durch eine Öffnung in der hinteren, bis auf Hüfthöhe zerbröckelten Mauer verließ ich das Haupthaus und lief zwischen gelben Ginsterbüschen und blauen Bodendeckern über Bruchsteine und feuchtes Moos, bis ich auf die Überreste eines Brunnens stieß. Ich nahm einen Stein, ließ ihn in die Tiefe fallen und lauschte seinem harten Aufprall. Kein Wasser, der Brunnen war trocken.

Es gab weitere Ruinen, kleiner als das hinter mir liegende Haus. Waren das Ställe gewesen? Oder Wohnhäuser? Oder beides?

Gedankenverloren schlenderte ich zurück, vorbei an dem ausgetrockneten Brunnen im Garten, durch das Haupthaus und setzte mich in den Schatten der drei Zypressen.

Angele hatte belegte Brote, Obst und eine kleine Flasche Wasser in den Rucksack gepackt. Während ich genüsslich aß, betrachtete ich die Fassade oder das, was davon übrig geblieben war.

Ich wünschte mir, die Zeit zurückdrehen zu können, um ungesehen zu beobachten, was hier passiert war. Welche Menschen hatten hier gelebt und was hatten sie getan? Waren sie glücklich gewesen? Und warum waren sie gegangen? Warum hatten sie das Gut ihrem Schicksal überlassen? – dem Schicksal unaufhörlichen Verfalls und kalten Vergessens.

Ich massierte meinen schmerzenden Nacken und trank einen Schluck Wasser. Den Wunsch, als Beobachter in die Vergangenheit zu reisen, hatte ich schon als Kind gehabt. Einfach unbemerkt auf einer Stelle zu sitzen und zu betrachten, wie sich das hundert Jahre alte Haus, in dem ich aufwuchs, in einer rückwärtigen Zeitraffer veränderte: Wie waren die Menschen, die hier gelebt hatten? Welche Kleidung hatten sie getragen? Wie viele Kinder waren in diesem Haus geboren worden? Wie viele Menschen gestorben? Wie hatten sie sich gefühlt, nach einem Tag voller harter Arbeit? In ihren Küchen, in denen sie aßen, während über ihren Köpfen die Wäsche trocknete. Waren sie beim Abendbrot gesprächig oder müde und schweigsam gewesen? Was hatten sie nach dem Essen getan, in der Zeit, als es noch keine Fernseher gab und Radios und Bücher teuer waren? Hatten die Männer überlieferte Geschichten erzählt, während die Frauen Löcher in fadenscheinigen Strümpfen stopften? Welche baulichen Veränderungen hatte das Haus im Laufe des Jahrhunderts erlebt? Hatte es eine Einfahrt zum Hof gegeben, aus dem später der Garten wurde, in dem meine Schaukel und die alte Teppichstange gestanden hatten?

Das alles zu sehen, bis es irgendwann einfach noch nicht da wäre und ich nur das Stück bloße Erde, auf dem das Haus irgendwann errichtet würde, vor mir hätte.

Wie mochte dieses Gut ausgesehen haben? Wie viele Generationen von Mensch und Tier hatten hier zusammen gelebt?

Ich schloss die Augen: Die Rotbuchen säumten einen gepflegten, mit Kies bedeckten Weg, der zum zweigeschossigen Haupthaus führte. Links neben dem Eingang stand eine Holzbank, während den Platz rechts neben der Tür ein riesiger Kübel mit vom Wind sanft bewegtem, blühendem Lavendel schmückte.

Ich sah einen Mann, der Zypressen pflanzte. Im Garten hinter dem Haus schöpfte eine lachende Frau mit langen rauschenden Röcken Wasser aus dem Brunnen, während eine Andere Unkraut jätete. Es roch nach frisch gebackenem Brot. Da waren wiehernde Pferde und ein Mann, der freundlich Befehle rief. Dann ritt jemand fort.

Gedankenverloren packte ich die Überreste meines kleinen Picknicks in den Rucksack und kehrte zum Auto zurück.

Der viel versprechende Duft von Hühnchen mit Knoblauch und Rosmarin strömte durch das offene Fenster in mein Zimmer, wo ich bequem mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Bett lag und mit offenen Augen von dem alten Anwesen mit den drei Zypressen träumte. Ich warf einen Blick auf die Uhr neben meinem Buch auf dem Nachttisch. Zeit für das Abendbrot. Ich rieb mit den Handballen über meine Augen, bis die Kontaktlinsen schmerzten, und verscheuchte damit gänzlich den Hauch von Schläfrigkeit, die sich nach meiner Rückkehr nach Olargues eingestellt hatte. Mit den Fingern kämmte ich mir durchs Haar, schlüpfte in die flachen Sandalen neben der Tür und erschien einige Augenblicke später in der Küche, in der Angele gerade den Backofen öffnete und mit selbst gehäkelten Topflappen die heiße Auflaufform zum Tisch balancierte. André schlurfte müde ins Zimmer.

„Dein Tag war sehr lang“, sagte Angele mitfühlend, „setz Dich, das Essen ist fertig.“

Während sie redete, stellte sie das tönerne Gefäß auf einen Untersetzer und nahm den Deckel ab. Angele strich ihrem Mann fürsorglich über den Arm. Dann entdeckte sie mich.

„Ah, unsere liebe Elke aus Deutschland – guten Abend.“

Ich ließ mich auf meinen Stuhl fallen und rückte ihn an den gemütlich gedeckten Tisch. Auch die obligatorische Flasche Rotwein und die Karaffe mit kühlem Quellwasser fehlten nicht.

„Hat Ihnen das Dorf gefallen?“ fragte Angele, während sie geschickt mit einer Geflügelschere das dampfende Hühnchen zerteilte.

„Es ist wirklich wunderschön“, antwortete ich und hob betonend die Augenbrauen. „Besonders begeistert war ich von den verlassenen Häusern. Darin konnte ich wunderbar herumstöbern, träumen und Geschichten erfinden.“

Ich tupfte mir sorgfältig mit der geblümten Papierserviette neben meinem Teller die Lippen und nahm einen kräftigen Schluck Wein. „Das Huhn schmeckt köstlich“, lobte ich meine Gastgeberin.

Die Französin lächelte stolz.

„Als ich oben im Dorf war, habe ich auf dem gegenüberliegenden Hang Ruinen und drei Zypressen gesehen und bin dorthin gefahren.“

„Oh, Sie waren auf dem Gut der Héraults?“

„Ist das der Name der Familie, die dort gelebt hat?“ fragte ich neugierig und legte das Besteck aus der Hand. „Warum wohnt dort niemand mehr?“

Angele runzelte die Stirn. „Ach, meine Liebe, das Anwesen wurde vor weit mehr als einhundert Jahren verlassen. Seitdem verfällt es.“

Ungläubig schüttelte ich den Kopf. „Ein Gut verlassen? Einfach so? Und es gab niemanden mehr, der dort leben wollte?“

Angele berührte den Silberknoten an ihrem Hinterkopf und hob die Schultern. „Nun, es gehörte den Héraults. Sie verließen den Hof, einer nach dem anderen. Und keiner von ihnen kehrte jemals zurück. Irgendwann geriet das Gut in Vergessenheit. Nicht jedoch die Geschichte der Héraults.“

Meine Neugier wuchs.

„Was wissen Sie über die Héraults?“

„Die Geschichte, die wir hier von Generation zu Generation weitergeben. Unser Dorf lebt von Geschichten – von alten und von neuen. Hier gibt es ja sonst nicht viel an Unterhaltung.“

Angele lächelte fast entschuldigend.

„Würden Sie mir die Geschichte erzählen?“ bat ich.

Die alte Frau nickte seufzend.

„Sie hieß Vivienne“, murmelte sie. „Niemand weiß genau, woher sie kam und wohin sie wollte …“

Im Land der drei Zypressen

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