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„Guten Morgen, Frau Nachbarin.“

Es war acht Uhr und als Bianca die Wohnung verließ, stand auch Eike Strengler plötzlich im Hausflur.

„Guten Morgen“, sagte Bianca erschrocken und blickte zu Boden, weil sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss.

Eike Strengler trug einen schmal geschnittenen dunkelblauen Anzug, passende Schuhe und eine beige Aktentasche unter dem Arm. Seine blauen Augen leuchteten, als er seine neue Nachbarin ansah. Sie war lässig gekleidet, die Haare fielen ihr sanft über die Schultern und er fand es absolut entzückend, dass sie jetzt schon das zweite Mal rot wurde. Er fragte sich im Stillen: Liegt das an mir oder ist sie einfach nur schüchtern?

„Arbeiten?“, fragte er kurz.

„Ja, was muss, das muss. Bis dann.“

Leichtfüßig lief sie die Treppe hinunter.

„Moment bitte!“, rief Eike ihr nach.

Bianca blieb auf dem unteren Treppenabsatz stehen und schaute nach oben.

„Ja?“

„Haben Sie einen Akkuschrauber? Meiner hat gestern den Geist aufgegeben. Ich hatte bei Ihnen geklingelt, aber Sie waren wohl unterwegs.“

„Ich war mit meiner Freundin in Erbach zum Wein trinken.“

Bianca biss sich auf die Lippe und dachte: Warum, zum Teufel, erzähle ich dem Kerl so etwas?

„Das hört sich gut an. Also, haben sie einen?“

„Einen was?“

„Haben Sie einen Akkuschrauber?“

„Oh Mann, ich bin noch so müde“, redete sich Bianca heraus und zwang sich zu einem Lächeln, „natürlich habe ich einen Akkuschrauber und Sie können ihn gerne ausleihen.“

„Gut, dann werde ich nach der Arbeit noch einmal bei Ihnen läuten. Bis später.“

Bianca murmelte im Auto vor sich hin: „Ich habe ein Date, nein, ich habe kein Date. Ich leihe ihm nur meinen Akkuschrauber. Ganz ruhig bleiben. Nur der Akkuschrauber.“

Entschlossen startete sie den Motor und fuhr ins Büro. Dort wartete Ferdinand bereits und sah seine Kollegin an.

„Du siehst verändert aus. Ist etwas passiert?“

Bianca überlegte, ob sie Ferdinand von Eike erzählen sollte. Ja, dachte sie, er ist mein bester Freund und bringt mich vielleicht wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.

„ER ist mir passiert … mein neuer Nachbar.“

Ferdinand grinste breit und sah plötzlich ganz zufrieden und glücklich aus.

„Das ist super!“, rief er enthusiastisch. „Du siehst wirklich aus, als wärst du einem guten Geist begegnet. Und ich dachte schon, du findest Hannes doch ganz passabel.“

„Ach, Ferdinand, Hannes ist ein netter Typ, aber es gab nicht den kleinsten Funken.“

„Und bei deinem Nachbarn hat es gefunkt?“

„Es war, als hätte mich der Blitz getroffen. Er leiht sich heute meinen Akkuschrauber, ich muss also pünktlich heim.“

Der Kommissar lachte, kam um den Schreibtisch herum, zog Bianca vom Stuhl hoch und nahm sie in den Arm.

„Den Akkuschrauber also. Dann wünsche ich dir mal viel Spaß bei der Übergabe. Ich gönne es dir von Herzen und das weißt du, aber sei trotzdem vorsichtig, ja? Ich will nicht, dass dir jemand wehtut.“

Bianca lehnte sich in Ferdinands Arme und nickte.

„Ich kenne ihn ja nur von den drei Minuten, die wir uns bisher gesehen haben. Wenn er ein Mistkerl ist, darfst du ihn verhauen. Aber jetzt müssen wir arbeiten, damit ich einen klaren Kopf bekomme. Zu Peter Jischeck?“

„Jawohl, Chefin. Komm!“

Sie fuhren in die Felsstraße, die Fotos der Mitarbeiter von Ludger von Etzelsbach in der Tasche. Der Pfarrer öffnete nach wenigen Sekunden und hatte eine Einkaufskiste in der Hand.

„Ah, guten Morgen. Ich wollte gerade einkaufen, aber das kann ich auch später noch machen. Kommen Sie bitte herein.“

Er ging voraus in die Küche und bot den beiden Besuchern einen Platz an.

„Sie waren bei uns, sagte der Staatsanwalt“, begann Bianca.

„Ja, ich wollte Ihnen von meinen Gesprächen mit den Nachbarn berichten. Kann ich Ihnen etwas anbieten?“

„Nein danke“, sagte Ferdinand, „dann schießen Sie mal los. Wir hätten jetzt die gesamte Nachbarschaft befragt.“

Peter Jischeck holte einen Schreibblock aus dem Arbeitszimmer und setzte sich neben Ferdinand. Er fuhr mit dem Zeigefinger über den ersten Namen.

„Neben dem Haus von Bernd Fregge wohnen die Röbergs, Ottmar und Sigrun. Wie ich erfahren habe, haben sie ihr Haus an den Makler verkauft, auch die Wieglers, Hennes und Mira mit ihren zwei Kindern. Ich war entsetzt, aber sie schienen irgendwie erleichtert, dass der Stress mit den Männern vorbei ist. Die Wieglers ziehen nach Geisenheim und die Röbergs nach München.“

„Es scheint, sie haben aufgegeben. Herr Jischeck, wer hat denn noch nicht unterschrieben?“

„Ich.“

„Hm, und Sie wollen bleiben?“

„Auf jeden Fall. Aber ich denke, diese Typen haben meinen Schwiegersohn irgendwie mit eingebunden. Timur und meine Tochter waren letztens hier und wir haben uns deswegen gestritten. Mir sind da Dinge herausgerutscht, die ich nie so sagen wollte. Aber Timur hat ewig auf dem Thema herumgehackt und wollte mich partout davon überzeugen, dass es das Beste wäre zu verkaufen. Ach ja, und natürlich Bernd. Er hat auch nicht verkauft.“

Bianca und Ferdinand sahen sich an.

„Er hat“, sagte Bianca leise.

„Nein!“, rief Peter. „Das kann nicht sein. Er war noch bei mir und hat immer gesagt, dass er sich nicht kleinkriegen lässt. Das geht nicht mit rechten Dingen zu.“

Ferdinand holte jetzt die Fotos heraus, die ihnen Hannes mitgegeben hatte. Er legte sie nebeneinander auf den Tisch und wollte wissen, ob Peter jemanden erkennen würde. Der Pfarrer tippte auf eines der Bilder. Es war das von Sandro Dieck.

„Der war Anfang der Woche hier und hat geklingelt. Ich habe nicht aufgemacht, nur aus dem Fenster geschaut. Der und der mit dem brutalen Gesichtsausdruck haben den Brief gebracht und waren auch nebenan bei Bernd.“

Auf dem zweiten Bild sah Ferdinand Jewgeni Sabritschek. Er konnte sich vorstellen, welchen Eindruck die beiden zusammen auf die Bewohner der Straße gemacht hatten.

„Ist noch jemand von den Nachbarn hier oder sind sie schon ausgezogen?“

„Die Wieglers packen. Der Mann muss arbeiten, aber die Frau ist sicher zuhause, denn sie betreut die kleinen Kinder. Soll ich Sie begleiten?“

Bianca schüttelte den Kopf.

„Nein, wir gehen lieber allein. Vielleicht ist es den Leuten unangenehm über den Verkauf zureden. Gibt es noch andere Menschen, die von den Männern unter Druck gesetzt wurden?“

„Nein, nur wir vier. Die anderen drei Häuser sind schon länger leer.“

„Also sieben Häuser. Wenn alle verkauft haben und Bernd womöglich getötet wurde, dann sind nur noch Sie übrig. Im Moment bedeutet das für mich, dass Sie in Gefahr sind. Wir könnten Ihnen jemanden vor die Tür stellen oder öfter Streife fahren.“

„Ach, Frau Kommissarin, machen Sie sich nicht so viel Mühe. Die werden mir nichts tun. Außerdem wacht der da oben über mich.“

Er lächelte und zeigte mit dem Zeigefinger nach oben. Es war etwas an dieser Geste, die bei Bianca ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit auslöste. Es musste gut sein, wenn man so stark in seinem Glauben war. Sie selbst hatte in ihrem Leben wenige Kontakte mit der Kirche gehabt, doch dann waren diese Kontakte auch immer sehr respekteinflößend gewesen. So war es dabei geblieben, dass sie sich zwar gerne alte Kirchen ansah, aber ansonsten Abstand hielt. Auch vor Peter Jischeck hatte sie Respekt, allerdings fühlte sich das jetzt anders an. Sie war vor allem von seinem Urvertrauen begeistert.

„Bitte achten Sie trotzdem auf sich und melden Sie sich sofort, wenn die Männer wieder auftauchen.“

„Ja, das werde ich tun, Frau Verskoff. Ich hoffe, Sie können denen Einhalt gebieten. Sonst ist bald ganz Eltville in ihrer Hand.“

Ferdinand nickte und versprach, genau das zu verhindern. Er war aber auch überzeugt, dass sie über diesen Fall erst ganz wenig wussten und ihnen noch die eine oder andere Überraschung blühte. Als sie Peters Haus verlassen hatten, liefen sie schweigend zum Nachbarhaus.

Wie der Pfarrer gesagt hatte, war Mira Wiegler zuhause. Sie machte einen entspannten Eindruck, auch wenn sie gerade zwischen Bergen von Kartons stand und ein kleines Mädchen in einem von ihnen saß und weinte. Ein Junge im selben Alter fuhr mit einem Feuerwehrauto laut lachend zwischen den Füßen seiner Mutter hindurch.

Bianca musste wieder einmal voller Schmerz daran denken, wie gerne sie mit Michael ein Kind haben wollte, da streckte ihr das kleine Mädchen die Arme entgegen. Unbeholfen hob sie die Kleine aus dem Karton.

„Mäuschen, nicht weinen. Die Tante Bianca spielt mit dir und der Onkel Ferdinand redet mit deiner Mama, einverstanden? Wie alt bist du denn?“

Das Mädchen hielt drei Finger hoch und schmiegte sich an Bianca, die ihre Tränen hinunterschlucken musste. Ferdinand ging mit Mira Wiegler in die Küche.

„Frau Wiegler, sicher wissen Sie vom Tod Ihres Nachbarn Bernd Fregge. Wir müssen davon ausgehen, dass er getötet wurde.“

„Oh mein Gott“, sagte die zarte junge Frau und schlug die Hände vor das Gesicht. „Wer hätte denn einen Grund, diesen netten Mann zu töten? Warum?“

„Es könnte sein, dass das mit dem Verkauf dieser Häuser zusammenhängt. Ich zeige Ihnen mal ein paar Fotos. Sagen Sie mir bitte, wenn einer von den Herren auch bei Ihnen war.“

Er legte auch hier die Fotos auf den Tisch und Mira zeigte auf dieselben Männer.

„Sie waren nett und zuvorkommend. Und Sie können sagen, was Sie wollen: Das Angebot ist unschlagbar. Auch wenn wir noch nicht sehr lange hier wohnen, haben wir das Angebot gerne angenommen.“

„Hat man Ihnen Druck gemacht?“

„N … n … nein.“

„Frau Wiegler, man darf die Polizei nicht belügen!“

Ferdinand hatte in einem festen Tonfall gesprochen und das verfehlte die erwünschte Wirkung nicht. Mira Wiegler begann zu weinen.

„Bitte reden Sie ganz offen mit mir. Es ist wichtig.“

„Die … die Männer waren zuerst ganz nett. Wir wollten nicht verkaufen, weil wir ja erst alles renoviert hatten. Außerdem war alles Geld, was wir lange gespart hatten, weg. Da denkt man nicht ans Verkaufen, nur an Sicherheit.“

„Und dann?“

„Sie kamen später jeden Tag. Ich war ja immer mit den Kindern zuhause. Eines Tages kamen wir vom Einkaufen und die Männer warteten vor dem Haus. Ich hatte alle Hände voll und Lissi ist schon vorausgelaufen. Der hier, der so aussieht wie ein Schläger, hat sie auf den Arm genommen und ganz furchtbar gegrinst. Wie der Teufel persönlich. Er kam auf mich zu, setzte die Kleine ab und sagte ganz komische Sachen.“

Sie schwieg und zitterte.

„Er hat mich gefragt, ob ich meine Kinder liebe und wie es wäre, wenn ihnen etwas zustößt. Mein Mann wollte das erst nicht ernstnehmen, aber dann lag eines Tages der Teddy mit abgerissenem Kopf vor der Tür. Wir haben unterschrieben, weil uns das Leben unserer Kinder alles bedeutet.“

„Sie hätten zu uns kommen und die Männer anzeigen sollen. Man darf sich nicht bedrohen lassen.“

„Das hätte nie aufgehört. Die wollen hier etwas Neues bauen, aber ich weiß nicht genau, was. Das habe ich belauscht. Jetzt ziehen wir weg und alles ist gut.“

Sie machte plötzlich wieder ein entspanntes Gesicht, als wäre mit dem Umzug jede Gefahr einfach wie weggeblasen. Ferdinand ging zurück ins Wohnzimmer, wo Bianca den Kindern aus einem Märchenbuch vorlas. Sie sah total glücklich aus.

„Oh, seht mal, da ist der Onkel Ferdinand. Ich muss jetzt gehen.“

Die Kinder nickten und winkten fröhlich, als sich Bianca an der Tür noch einmal umdrehte. Draußen erzählte Ferdinand von dem Gespräch mit Mira.

„Ich denke schon, dass unser Pfarrer in Gefahr schwebt“, sagte Bianca anschließend und stieg ins Auto. „Leider müssen wir jetzt zum Staatsanwalt.“

Mörderischer Handel

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