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Hannes runzelte die Stirn, als er Bianca im Büro vor dem Fenster stehen sah. Ihre Haltung machte den Eindruck, als hätte sie eine schwere Last zu tragen. Als sie sich umdrehte, war sie blass und ihre Augen waren vom Weinen gerötet.

„Was ist passiert?“

„Sie hat den Fall zu den Akten gelegt.“

„Wer?“

„Die neue Staatsanwältin.“

„Oh, wir haben eine neue Staatsanwältin?“

„Jetzt tu nicht so, als hättest du es nicht gewusst. Du bist Erics bester Freund.“

Hannes ging zu Bianca, sah sie direkt und offen an.

„Ich verstehe nur Bahnhof. Was hat das mit mir und Eric zu tun?“

„Die neue Staatsanwältin ist Erics Ehefrau.“

Das Schweigen hing über ihnen wie eine schwarze Wolke, aus der sich im nächsten Moment ein Gewitter stürzen würde.

„Ich verstehe nicht …“

„Sie ist hier. Und sie will Eric.“

Hannes setzte sich an den Schreibtisch und raufte sich die Haare.

„Das kann nicht sein. Sie ist doch an der Nordsee.“

„Nein, Hannes, sie ist hier. Ich bin eben ein klein wenig gestorben.“

Bianca fasste die Begegnung in der Staatsanwaltschaft kurz zusammen und setzte sich ihrem Kollegen gegenüber.

„Du wusstest nichts davon?“

„Nein, ich schwöre es dir. Vielleicht weiß Eric auch nichts.“

Bianca sprang auf und stemmt die kleinen Fäuste auf den Schreibtisch.

„Wie sollte er das nicht wissen? Sie arbeiten zusammen Tür an Tür. Er hat mir nichts erzählt. Warum auch immer!“

„Was willst du tun?“

Bianca setzte sich wieder.

„Erstens werde ich weiter ermitteln. Zweitens werde ich Eric heute Abend zur Rede stellen. Was dann kommt, entscheide ich aus dem Bauch heraus. Ende.“

„Ende? Willst du Schluss machen?“

„Das meine ich doch gar nicht. Aber er muss schon eine sehr gute Erklärung bringen. Diese Frau will ihn zurück und für so ein Theater bin ich mir zu schade.“

Jetzt traten abermals Tränen in Biancas Augen, aber sie wischte sie weg. Sie wusste noch nicht, wie sie mit ihren chaotischen Gefühlen umgehen sollte und beschloss, sich mit Arbeit abzulenken.

„Ich möchte nicht mehr darüber reden, also lass uns den Fall besprechen.“

„Den Fall, der keiner ist. In Ordnung. Ich habe mit Ferdinand telefoniert. Bienenfleiß heißt dieser häusliche Pflegedienst. Ferdinand hat mit seinem Arzt die Undercover-Aktion besprochen, aber der will nur zustimmen, wenn er ein Schreiben von der Staatsanwaltschaft mitbringt.“

„Scheiße. Entschuldige, aber dieses Schreiben können wir vergessen. Es muss anderes gehen. Ob wir sowas fälschen können?“

„Bianca, Bianca, ich staune. Nein, wir fälschen da nichts. Ferdinand wird schon was einfallen, vielleicht ist mit Geld ein Auftrag möglich.“

„Gut, aber wir fahren da jetzt trotzdem hin und fragen ein bisschen herum.“

Hannes nickte und folgte Bianca zum Auto. Ihn ließ die Neuigkeit, die Eric ihm verschwiegen hatte, auch nicht los und er würde seinen Freund ebenfalls zur Rede stellen. In seinem Inneren brodelte es, denn er hatte echte Angst um Bianca, weil er Violetta nur zu gut kannte. Sie würde alles daran setzen, um Eric zurückzugewinnen.

Eine Biene mit Schwesternhaube und Stethoskop lächelte sie vom riesigen Banner über dem Tor an. Die Leitstelle des Pflegedienstes war in Erbach im Indus­triegebiet am Ortsrand. Zahlreiche Parkplätze, die leer waren, zeugten davon, dass sie gut zu tun hatten. Nur drei Kleinwagen mit dem Bienen-Logo standen vor dem flachen Haus.

Bianca und Hannes traten ein und wurden von einer freundlichen Dame im Hosenanzug per Handschlag begrüßt. Sie führte die Kommissare in ein klimatisiertes Besprechungszimmer, bot ihnen etwas zu trinken an und setzte sich. Ihr Lächeln hing wie festgetackert auf ihrem makellosen Gesicht. Ihre gepflegten Hände lagen locker auf der Tischplatte, ihre Haltung war gerade und stolz.

„Ich möchte mich zuerst einmal vorstellen. Mein Name ist Cornelia Plienick, ich leite diese Einrichtung seit fünf Jahren. Wir haben einen großen Betreuungsradius, er reicht vom Rhein-Main-Gebiet bis zum Mittelrheintal. Ich kann mich über einhundert Mitarbeiter freuen. Meine Mitarbeiter sind kompetent und sehr gefragt. Besonders in der Kurzzeitpflege sind wir auf Platz eins.“

Bianca dachte: Platz eins … von was? Ist das hier ein Wettbewerb? Geht es nicht hauptsächlich um Menschlichkeit und Soziales?

Cornelia Plienick hatte die Gedanken der Kommissarin erraten und fuhr fort.

„Natürlich stehen wir in Konkurrenz zu anderen Pflegediensten, denn wir finanzieren uns nicht über den Staat, sondern ausschließlich über Spenden und natürlich zahlen die Klienten einen geringen Eigenanteil. Den gibt es auch bei staatlichen Einrichtungen. Es ist kein Spiel, aber wir geben jeden Tag unser Bestes, um auch morgen noch den Bedürftigen zur Verfügung zu stehen. Das heißt: Nur, wer Bestleistungen bringt, kann in diesem Bereich überleben. Helfen ist alles andere als eine romantische Vorstellung.“

Bianca war nachdenklich geworden. Diese Frau hier war eloquent und verkaufte sich und ihre Firma in einer Perfektion, die schon unheimlich war. In ihrem Bauch grummelte es, denn irgendetwas war faul an der schönen Saubermann-Fassade. Dieses Gefühl hatte sie schon einmal gehabt: Ludger von Etzelsbach und dessen Machenschaften, die ebenfalls durch eine soziale Ader getarnt und schöngeredet worden waren. Sie beschloss: Nun erst recht! Sie würde ein wenig herumstochern.

Höflich erklärte sie: „Uns liegt eine Anzeige vor, in der Herr Micker den Pflegedienst für den Tod seiner Mutter verantwortlich macht. Ich würde mich gerne mit Ihnen über den Sachverhalt unterhalten.“

„Aber ja, gern. Ich kann Ihnen versichern, dass die Mutter des Mannes eines natürlichen Todes gestorben ist. Es nimmt uns immer sehr mit, wenn uns ein Klient oder eine Klientin auf diesem Wege verlässt. Wir haben dem Mann unsere Unterstützung zugesichert. Ich kann gern in der Akte nachschauen, wie alles geplant war.“

„Tun Sie das, Frau Plienick“, sagte Hannes, der Biancas Anspannung beinahe körperlich spürte.

Er wusste, dass etwas dran war, wenn Bianca sich so verhielt. Sie hatte nun mal ein Gespür dafür, wenn jemand log oder auch nur unsicher war. Die Pflegedienstleiterin machte einen durchaus kompetenten Eindruck, doch das konnte auch nur der schöne Schein sein.

„Ach, das habe ich Ihnen ja noch gar nicht erzählt und ich hoffe, das bleibt unter uns. In der Polizei scheint man auch nicht sehr sorgsam mit den Mitarbeitern umzugehen. Da muss sich ein angeschossener Polizist tatsächlich selbst um eine Betreuung kümmern und es aus eigener Tasche bezahlen. Das tut mir sehr leid.“

Bianca und Hannes war sofort klar, dass sie Ferdinand meinte. Hatte er es doch wirklich geschafft, einen Pfleger zu beauftragen. Innerlich grinsten sie, äußerlich waren sie ganz cool.

„Ja, es ist oft schwer“, sagte Hannes sachlich, „aber das ist ein Thema, über das wir in der Öffentlichkeit nicht reden sollen. Das bleibt bitte auch unter uns.“

„Natürlich, ich bin verschwiegen“, flüsterte Cornelia und zwinkerte. „So, hier ist die Akte. Ich hoffe nochmals auf Ihre Verschwiegenheit, denn das sind Daten, die Sie eigentlich nicht sehen dürften.“

Bianca nickte, nahm die Akte und begann zu lesen. Hannes sah ihr über die Schulter.

„Rotraude Micker bekam nur ein leichtes Schmerzmittel?“

„Ja, denn sie war noch sehr fit.“

„Sie hatte Hilfe beim Aufstehen, bei der Morgen- und Abendtoilette und ab und zu bei Gängen außerhalb des Hauses?“

„Wenn es dort eingetragen ist, war das auch so.“

„Wie erklären Sie sich dann den plötzlichen Herzstillstand?“

„Es ist Schicksal. Ich weiß, es klingt herzlos, aber alte Menschen sterben. Vielleicht hat sie sich über irgendetwas aufgeregt oder geärgert, aber das hat mit hundertprozentiger Sicherheit nichts mit den Dienstleistungen meiner Bienen zu tun.“

„Passiert das öfter?“

„Was bitte?“

„Dass ein Mitarbeiter morgens kommt und dann der Klient ist tot?“

„Selten, aber es kommt vor. Die meisten gehen leise.“

Das war ein schönes Bild, aber Bianca ließ sich nicht davon täuschen.

„Wie oft?“

„Einmal bis dreimal im Monat. Es gibt aber auch Monate, wo niemand stirbt.“

„Gut, kommen nur Ihre Mitarbeiter in Kontakt zu den Menschen?“

„Viele haben ja gerade deshalb einen Pflegedienst, weil sie allein sind. Sie haben wenig Kontakte nach außen. Manchmal haben die Familien keine Zeit, aber oft ist es auch so, dass sie mit den Krankheiten ihrer Familienmitglieder nichts zu tun haben wollen. Da erleichtern die Kosten für den Pflegedienst das Gewissen.“

„Danke für Ihre Offenheit. Wenn Ihnen noch etwas zu Ohren kommt, melden Sie sich bitte.“

Cornelia nickte und setzte wieder ihr Lächeln auf. Mit großen Gesten komplimentierte sie die Kommissare aus der Tür. Bianca schnaufte, als sie im Auto saß.

„Die ist aalglatt. Hinter ihre Fassade kann niemand schauen. Wir müssen irgendwie an ein paar Klienten rankommen und sie befragen.“

Hannes wusste, dass Bianca weiter ermitteln würde, doch er fürchtete sich vor den Konsequenzen. Er kannte Violettas Ruf und die Staatsanwältin würde einer uneinsichtigen Kommissarin wie Bianca das Leben zur Hölle machen. Er seufzte.

Bianca, die wusste, was er dachte, sagte: „Ich mache das allein, dann bekommst du keinen Ärger. Tu ein­fach so, als wüsstest du von nichts. Außerdem haben wir ja einen super Undercover-Klienten, der die Leute aushorchen kann, im Einsatz.“

Sie grinsten und freuten sich auf Ferdinands Nachrichten. Nach Feierabend begann Bianca sich vor der Aussprache mit Eric zu fürchten. Als sie zuhause die Mailbox abhörte, hatte der Staatsanwalt ihr eine Nachricht hinterlassen: „Habe noch einen Termin in Frankfurt und bleibe im Hotel, weil ich morgen direkt ins Gericht muss. Wir sehen uns dann abends. Gehen wir schön essen?“

Bianca verdrängte den Gedanken aus ihrem Kopf, dass er womöglich bei IHR sein konnte.

Verlogenes Versprechen

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