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Kapitel 1

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Die Sonne ging unter im flachen Land, und die Schatten der Bäume verschmolzen mit ihrer Umgebung. Die ersten Nachttiere kamen aus ihren Höhlen und machten sich auf den Weg nach Beute auszuschauen. Der fahle Mond lugte nur hin und wieder durch ein Wolkenloch und warf ein schwaches Licht auf das Geschehen im flachen Land.

Am Rande einer großen Wiese stand eine Reihe alter Buchen, unter denen sich das Laub des letzten Herbstes angesammelt hatte. Nur selten mähte der Bauer hier das Gras. Die nächsten Häuser waren wohl zweihundert Meter entfernt, es war ein einsamer, dunkler Platz. Am Fuß der ersten Buche, dort wo die Schatten am tiefsten waren, war der Laubhaufen größer, als unter den anderen Bäumen. Ein Käuzchen saß auf einem Ast und schärfte gerade seinen Blick für die nächtliche Jagd, als es überrascht nach unten blickte. In dem großen Laubhaufen war ein heftiges Rascheln zu hören. Das Käuzchen beugte sich ein wenig vor und sah, wie sich aus dem Laubhaufen ein Knäuel heraus wuselte und versuchte, sich von den anhaftenden klebrigen und feuchten Blättern zu befreien.

Neugierig sah das Käuzchen zu, wie sich daraus ein winziges Männlein entwickelte, das fluchend gegen die Blätter ankämpfte.

„Ach, du bist es, Bizo“, sagte das Käuzchen, als es den kleinen Mann erkannte, „hast du wieder den Sonnenaufgang verpennt, du Trottel?“

„Halt den Schnabel, du blöde Eule“, zischte das Männlein nach oben und lief steif die Buchenreihe entlang, begleitet von dem gutmütigen Gekicher des Käuzchens.

Am letzten Baum in der Reihe hielt es an. Dies war eine besonders große Buche, deren Stamm gespalten war und eine Art Höhle bot. Bizo stellte sich in diese Höhle und gab einen erleichterten Seufzer von sich. Dann tastete er sich im Innern des Baumstammes entlang, bis er eine kleine Erhöhung fühlte. Er drückte fest darauf, und unter ihm öffnete sich der Boden. Bizo ließ sich fallen und gelangte über eine Art sanfte Rutschbahn direkt unter die Erde, während sich das Loch über ihm wieder schloss.

Die Rutschbahn führte in Serpentinen tief in die Erde hinein. Bizo legte sich in die Kurven und genoss aufatmend die lange Rutschfahrt. Das war ja noch einmal gut gegangen. Der lange Tag unter dem Laubhaufen hatte ihn steif gemacht, und er fror. Er dachte an ein wunderbares warmes Sprudelbad, ein leckeres Abendessen und an sein kuscheliges Bett. Während er noch diesen Gedanken nachhing, war er am Ende der Rutschbahn angelangt und landete auf einem weichen Kissen.

Er rieb sich die Augen und sah sich einer Runde von mindestens 50 Menschen gegenüber, die alle so klein waren wie er. Sie betrachteten ihn mit sehr ernsten Gesichtern.

„Ach Mist“, murmelte Bizo und machte sich in seinen Kissen noch kleiner.

Die Älteste unter den Anwesenden erhob die Stimme:

„Bizo, es ist jetzt schon das fünfte Mal, dass du den Sonnenaufgang verpasst hast. So geht das mit dir nicht weiter. Wir sind hier krank vor Sorge und wissen nicht, was dir geschehen ist. Du bleibst jetzt zur Strafe vier Wochen lang unter der Erde, gib mir deinen Magnetstein“.

Bizo griff in seine Tasche und holte den Stein heraus, mit dem die kleinen Menschen ihr unterirdisches Reich verlassen konnten. Zitternd übergab er ihn der Alten. Sie konnte fürchterlich sein in ihrem Zorn, und er dachte gar nicht daran, ihr zu widersprechen. Die anderen nickten zustimmend und wandten sich wieder der Alten zu.

„Bizo, du nimmst jetzt ein Sprudelbad und gehst dann in deine Koje, das Abendessen kannst du vergessen. Ihr anderen kommt mit mir in den Sonnensaal“, befahl sie und stand auf.

Bizo wollte zunächst protestieren, traute sich aber dann doch nicht. Vielleicht konnte er in der Küche noch ein Stück Semmling klauen, sein Magen knurrte inzwischen hörbar.

Die übrigen Anwesenden murmelten überrascht. Versammlungen im Sonnensaal waren selten, denn dieser schönste und größte Saal wurde nur für ganz besondere Anlässe genutzt, und für heute war gar keine Zusammenkunft geplant. Dennoch folgten sie der Alten willig und auf ihrem Weg gesellten sich viele weitere kleine Menschen zu ihnen.

Bizo verharrte noch einen Moment in seinen Kissen und entschied sich dann, zunächst einmal sein Glück in der Küche zu versuchen. Während Magia und die anderen auf dem breiten Laufband hinunter in den Sonnensaal schwebten, schlich er sich nach rechts über einen schmalen Gang in den großen Speisesaal, der an die Küche grenzte. Vorsichtig schaute er sich um und sah niemanden. Wahrscheinlich waren alle mit Magia unterwegs nach unten.

Er drückte sich an der Wand entlang und kroch unter der großen Theke in die Küche. Auf einem langen Wärmeband aus Edelstahl brutzelten köstliche Gerichte in großen Pfannen vor sich hin. Bizo nahm sich einen Teller aus einem Regal und griff mit der Hand in eine Pfanne.

„Was machst du denn da?“, dröhnte es hinter ihm und Bizo ließ den Semmling, den er gerade zwischen Daumen und Mittelfinger hielt, erschrocken wieder fallen. Neben ihm tauchte jetzt Kirvin auf, die dicke Hauptköchin und schaute ihn drohend an. Das war zu viel für Bizo. Geschwächt von dem langen Tag unter dem Laubhaufen und der Angst, die ihn die ganze Zeit nicht losgelassen hatte, hungrig und total übermüdet, fing er an zu weinen. Dicke Tränen liefen ihm über sein kleines Gesicht und er schluchzte bitterlich.

Die Hauptköchin war gerührt. Sie wirkte zwar nach außen immer recht bärbeißig, hatte aber eigentlich ein gutes Herz. Sie sah das kleine Männlein mit den schmutzigen Laubresten im Gesicht und an der Kleidung und den Augen voller Angst und Tränen.

Seufzend setzte sie sich auf einen Stuhl und klopfte auf ihre breiten Schenkel.

„Komm Kleiner, komm her und erzähl mir alles“.

Bizo kuschelte sich auf ihren Schoß und klammerte sich an ihrem Hals fest. Immer noch schluchzte er zum Steinerweichen und Kirvin ließ ihn weinen. Während sie ihn mit starken Armen fest hielt, beruhigte sich der Kleine ein bisschen.

„Erzähl Kirvin, was mit dir passiert ist“, raunte sie ihm ins Ohr.

„Ich hatte so viel Angst“, schluchzte Bizo, „ich musste den ganzen Tag unter einem Laubhaufen liegen“.

Kirvin hielt ihn ein Stück von sich weg.

„Du warst oben?“, fragte sie entsetzt, und Bizo nickte.

„Und warum bist du nicht rechtzeitig herunter gekommen?“, fragte sie ihn ärgerlich.

„Wir haben Erdbeeren gegessen, weißt du, auf dem großen Feld“, begann Bizo eifrig und Kirvin nickte wissend. Für die Kinder war es immer besonders schwer, dass es bestimmte Sachen unter der Erde einfach nicht gab, und dazu gehörten natürlich auch Erdbeeren.

„Mit wem warst du denn oben?“, fragte sie neugierig.

„Mit Ingor und Larma. Wir saßen in dem Erdbeerfeld und hatten einen Korb voll gepflückt, den wollten wir euch mitbringen. Aber dann kam der Hund des Bauern“.

„Der Hund?“, fragte Kirvin ungläubig, „wieso lässt der seinen Hund nachts draußen? “

„Ich glaub, der ist abgehauen. Jedenfalls mussten wir ganz schnell auf die Bäume klettern, und ich hab den letzten Baum erwischt. Stundenlang hat der Hund vor diesem Baum gesessen und geheult, die beiden anderen schafften es in der Zeit über die Rutschbahn nach unten. Als es hell wurde, ist der Hund nach Hause getrottet. Ich habe unter dem Laubhaufen Schutz vor dem Sonnenlicht gesucht, aber ich habe den ganzen Tag gedacht, der Hund kommt zurück“.

Wieder zitterte Bizo und die ganze Anspannung des Tages lag in seinem Schluchzen.

Kirvin ließ ihn weinen und schaukelte ihn wie ein Baby. Welch’ eine Angst musste er ausgestanden haben. Ein tiefer Zorn auf seine beiden Kameraden packte sie. Warum hatten die nichts gesagt? Es wäre ein Leichtes gewesen, Bizo auf dem Magnetstrahl unter die Erde zu holen. Der Sache würde sie nachgehen, aber zunächst musste sie ihren kleinen Schützling versorgen.

„Komm Bizo, jetzt essen wir erst mal was Vernünftiges“, sagte sie und Bizo strahlte. Kirvin nahm einen großen Teller und häufte Bizo all die Köstlichkeiten auf, von denen er auf dem Weg nach unten geträumt hatte. Dazu gab es ein großes Glas Blaumilch, und der Kleine vergaß vor lauter Begeisterung die Schrecken der letzten Stunden.

Nachdem er alles aufgegessen hatte, schickte Kirvin ihn ins Sprudelbad, wo er erst einmal einschlief und von gedeckten Tischen und Gläsern voller Blaumilch träumte.

Die kleinen Menschen waren derweil über ein Laufband einen breiten Gang entlang gegangen, der immer tiefer in die Erde hinein führte.

Die Wände waren mit Wandteppichen verkleidet, auf denen Motive von Menschen zu sehen waren, die groß und kräftig waren und verschiedenen Tätigkeiten nachgingen. Einige bauten ein Haus, welche waren auf der Jagd und andere wiederum arbeiteten auf den Feldern. Vor einem besonders schönen Wandteppich stoppte die Alte das Laufband und blieb versonnen davor stehen. Ein großer Mann stand auf einer Anhöhe, bekleidet mit einem prächtigen purpurnen Gewand. Er sprach zu einer Menge, die ihm aufmerksam lauschte.

Die Alte betrachtete das Bild eine Zeit lang und sagte dann:

„Aton, mein Ahne, ich brauche jetzt deine Kraft. Ich muss meinem Volk helfen. Wir sind nicht mehr so groß und so stark wie Ihr zu eurer Zeit, aber wir haben noch die gleiche innere Kraft und das gleiche Feuer, das euch damals berühmt gemacht hat. Zeig mir, dass ihr bei uns seid, dann wird alles gut.“

Die Menge verharrte atemlos. Keiner rührte sich, und auf einmal kam von irgendwoher ein starker Windstoß und bauschte den Teppich vor den Augen der Menge.

Die Alte nickte zufrieden und ging weiter auf dem Laufband, bis sie an eine breite goldene Tür gelangte. Vor dieser Tür standen zwei kleine Wächter, die ehrfürchtig beiseitetraten.

„Magia, wir grüßen dich“, sagten sie und erhielten ihrerseits einen freundlichen Gruß.

Magia ging durch den riesigen Raum, der rundherum vergoldet war und von einer nachtblauen Decke mit blinkenden Sternen gekrönt wurde. Der Fußboden war mit hellem Marmor ausgelegt, und in der Mitte stand ein prachtvoll verzierter Thron, den Magia nun bestieg. Die übrigen Menschen setzten sich auf die vielen kleinen Hocker, die rund um den Thron standen.

„Reich mir den Becher“, befahl Magia, und Alvin, der Stammesälteste, nahm ehrfürchtig einen Becher aus einem kleinen gläsernen Schrank und füllte ihn mit einer Flüssigkeit aus einer blauen Flasche.

Magia nahm einen Schluck, schloss die Augen und lehnte sich in ihrem Thron zurück.

Einige Minuten passierte gar nichts, doch plötzlich begann Magia, in einem merkwürdigen Singsang zu sprechen.

„Ich bin 300 Jahre alt, und unser Volk ist 1000 mal 300 Jahre alt, wir sind das Volk der Asamier.“

Die Anwesenden nickten und bewegten sich rhythmisch vor und zurück.

„Eine Laune des Schicksals zwang uns, unter die Erde zu gehen. Hier haben wir uns ein neues Reich geschaffen. Wir nennen uns jetzt das Volk der Erdmunkel. Wir haben eine hohe Intelligenz, wir haben eine hervorragende Technologie, wir können uns ernähren. Es fehlt uns an nichts, außer der Fähigkeit, im Sonnenlicht zu leben. Bis vor ein paar Jahren hatten einige von uns noch geringe Restlichtfähigkeiten, so dass unsere Verbindung zu der Oberwelt auch tagsüber nicht völlig unterbrochen war. Aber diese Munkel leben nicht mehr und seitdem haben wir schon viele Mitglieder unseres Volkes verloren, weil sie es nicht geschafft haben, vor Sonnenaufgang wieder unter der Erde zu sein. Sie sind da oben elendiglich verbrannt. Und immer häufiger fragen sich die Menschen in der Oberwelt, wen sie da vor sich haben, wenn sie einen unserer toten Freunde finden. Uns droht Gefahr, die Menschen der Oberwelt holen auf. Schon haben sie Mittel entwickelt, mit denen sie neue Untersuchungen durchführen können. Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie Dinge entdecken, die sie niemals wissen dürfen.“

Viele der Anwesenden seufzten, und manchen einem liefen Tränen über die Wangen.

Magia sprach weiter: „Wir brauchen Hilfe, wir brauchen einen Menschen aus der Oberwelt, der uns unterstützt“.

Jetzt erhob sich ein heftiges Gemurmel und etliche der kleinen Menschen machten ein ablehnendes Gesicht.

„Wir haben keine andere Chance, ich habe es gesehen.“

Magia hörte erschöpft auf, zu reden. Alwin wagte sich an ihre Seite und bat sie:

„Sprich weiter, Magia. Sag uns, was du gesehen hast.“

Magia wand sich auf ihren Thron. Nach einigen Minuten sprach sie weiter.

„Ein kleines Mädchen habe ich gesehen, mit blonden Zöpfen. Sie wohnt im flachen Land. Sucht sie. Sie heißt Kira, und sie ist die richtige, wenn sie weinen kann“.

Danach fiel Magia in eine Art Trance und sagte nichts mehr.

Alvin beendete die Sitzung und forderte zwei Erdmunkel auf, Magia in ihre Koje zu bringen.

Dann rief er den Rat der Ältesten zusammen.

„Erdmunkel, ihr habt Magias Worte gehört und ihr wisst, was sie bedeuten. Folgt mir Freunde, wir müssen darüber beraten“.

Gemeinsam verließen sie den Sonnensaal und gingen über das Laufband zurück, um in die Kommandozentrale der Unterwelt abzubiegen.

Mit dem Magnetstein öffnete Alvin die Tür zum Zentralraum. Hier waren die Wände und die halbrunde Decke ganz und gar mit silbernen Stoffen verkleidet, weil Silber für die Erdmunkel die Farbe der Konzentration war. Hier wurden alle strategischen Pläne ausgearbeitet, die für das Leben und das Überleben der Munkel von Bedeutung waren. Hier gab es einen direkten Zugang zum Matrixraum, von dem aus ein raffiniertes System von Magnetstrahlen die Munkel an jeden gewünschten Ort der Oberwelt bringen konnte. Unmittelbar daneben befand sich der Überwachungsraum, von dem aus mittels einer hoch entwickelten Technik Bild- und Tonaufnahmen von jedem beliebigen Ort auf der Welt gemacht werden konnten.

Jetzt saßen Alvin und seine Mitstreiter allerdings etwas ratlos an dem großen ovalen Tisch aus dunkelblauem Stein.

„Lasst uns den Trank der Weisen nehmen, bevor wir beraten“, sagte Alvin und forderte seine Gehilfen mit einem Kopfnicken auf, ihnen das gewünschte Getränk einzuschenken. Sie nahmen einen Schluck aus ihren Silberbechern und schlossen für einen Moment die Augen. Dann eröffnete Alvin die Sitzung.

„Was meint ihr zu dem Spruch der Seherin?“, fragte er in die Runde.

„Wenn Magia das so gesehen hat, dann müssen wir ihrem Wunsch folgen“, eröffnete Olef die Gesprächsrunde.

Bandur, der Überwacher, stimmte ihm zu:

„Wir müssen im flachen Land nach kleinen Mädchen mit blonden Zöpfen suchen, die Kira heißen, wir machen von jeder eine Bildaufnahme und bringen sie Magia“.

Ceros, ein sehr alter Mann, meldete sich zu Wort.

„Es ist eine sehr weitreichende Entscheidung, die wir hier zu treffen haben“, sagte er bedächtig und fuhr fort, „aus gutem Grund halten sich die Erdmunkel seit vielen, vielen Generationen von den Menschen aus der Oberwelt fern. Wir haben nicht viel Gutes von ihnen erfahren, und die meisten Munkel haben Angst vor ihnen. Wir müssen die Auswirkungen unserer heutigen Entscheidung gut bedenken“.

„Vielleicht ist jetzt die Zeit für einen Neuanfang gekommen, vielleicht bricht jetzt für uns eine andere Zeit an“, meinte Kalia, die einzige Frau im Ältestenrat nachdenklich.

„Was meinst du damit, Kalia?“ fragte Alvin.

„Ich meine, dass es in der Entwicklung unseres Volkes immer Sprünge gegeben hat. Wesentlichen Änderungen folgte oft lange Zeit der Stagnation. Nun, wir haben uns technisch entscheidend weiter entwickelt und sind den Menschen aus der Oberwelt darin weit überlegen. Aber wir waren in unserer Kultur und unseren sozialen Beziehungen seit Jahrhunderten auf uns selbst bezogen und haben keine Impulse mehr von außen bekommen. Ich könnte mir eine solche Begegnung also auch belebend vorstellen und würde es gerne ausprobieren“.

Alle schauten Alvin an und warteten auf seine Entscheidung. Er lehnte in seinem Sessel und hatte die Augen geschlossen. Auf dem steinernen Tisch stand ein Stundenglas, dessen Sand unaufhörlich rann.

Als der Sand die andere Hälfte des Glases gefüllt hatte, öffnete Alvin die Augen und sagte: „Ich stimme zu. Die Überwacher werden morgen mit ihrer Arbeit beginnen. Jetzt gehen wir zusammen zum Essen“.

Sie verließen den Silberraum und begaben sich über das Laufband zum Speisesaal. Dort waren nebeneinander viele kreisförmige Vertiefungen in den Boden eingelassen, auf deren Rändern Kissen lagen. In der Mitte der Vertiefungen befanden sich Tische, die mit Tellern und dampfenden Schüsseln gedeckt waren. Zehn Munkel, die in dieser Woche Küchendienst hatten, trugen weitere Schüsseln auf und schleppten Krüge herbei, aus denen sie eine blaue Flüssigkeit in die Becher schütteten.

„Hm, heute gibt es Masalis“, freute sich Bandur, nahm einen Schluck Blaumilch und häufte sich das wohlriechende Gemüse auf den Teller.

„Siehst du, das Leben unter der Erde hat auch Vorteile“, sagte er schmatzend zu dem neben ihm sitzenden Alvin, „die Menschen in der Oberwelt kennen kein Masalis, und Blaumilch haben sie auch nicht“.

Alvin lächelte und bediente sich mit Knollzwiebeln, auch ein Gewächs, das die Erdmunkel unter der Erde zogen.

Die Munkel ernährten sich nur von Pflanzen, manchmal auch von oberirdischen, die sie auf versteckten Plätzen nachts anbauten und auch im Dunkeln ernteten. Und manchmal gab es sogar Getreide oder Obst, das die Munkel auf ihren nächtlichen Ausflügen von den Feldern ernteten und in die Unterwelt schickten. Viel brauchten sie nicht, da sie im Laufe der Jahrtausende immer kleiner geworden waren und ihre Körperlänge jetzt kaum mehr als vierzig Zentimeter maß.

Die Stimmung beim Essen war sehr aufgeregt. Magias Spruch hatte sich inzwischen bei allen herumgesprochen, und nicht wenige hatten Angst davor, einem Menschen aus der Oberwelt Zutritt zu ihrem Reich zu verschaffen. Man hatte im Laufe der Jahrhunderte viele schlechte Erfahrungen mit diesen Menschen gemacht, die von Generation zu Generation weiter berichtet wurden. Noch heute sprach man von den Erlebnissen, die einige ihrer Vorfahren mit den Menschen aus der Oberwelt hatten, als sie Nacht für Nacht in einer Stadt namens Köln aufgestiegen waren, um für diese Menschen zu arbeiten. Sie hatten nachts Brot gebacken und das Mehl gemahlen. Sie hatten sogar Fleisch gepökelt, was sie enorm widerlich fanden, sie hatten geputzt und gemauert und vieles andere getan - und wie hatten die Menschen es ihnen gedankt? Eine Frau hatte Erbsen auf die Treppe geschüttet, auf denen die Munkel ausrutschten, sich verletzten. Eines brach sich sogar ein Bein. Das war dann für alle Zeit das Ende ihres Einsatzes in jener Stadt gewesen, und wenn die Menschen ihr Verhalten bedauert hatten, dann konnte man das nur einem Gedicht entnehmen, das noch heute von den guten Werken der „Heinzelmännchen zu Köln“ kündete.

In dieser Nacht wurde im Speisesaal lange diskutiert. Männer, Frauen und Kinder sprachen miteinander, tranken Blaumilch und Sellerieschnaps. Es waren alle da, bis auf die diensthabenden Überwacher und Bizo, der immer noch tief, satt und glücklich schlief.

Am nächsten Tag mussten die Kinder in die Munkelschule, die sich auf der zweiten Ebene befand.

Vor Beginn des Unterrichts wurden Bizo, Ingor und Larma zu der Schulleiterin gerufen, die von Kirvin informiert worden war.

„Setzt euch“, sagte sie streng und dir drei quetschten sich brav auf eine Bank.

Dann führte die Schulleiterin ein strenges Verhör durch und befragte insbesondere Ingor und Larma, warum sie Bizo alleine in der Oberwelt zurück gelassen hatten, ohne die Kommandozentrale zu informieren.

„Wir wussten, dass wir Ärger kriegen, deshalb haben wir nichts gesagt“, antworteten die beiden ängstlich.

„Aber damit habt ihr unverantwortlich gehandelt. Wenn Bizo etwas zugestoßen wäre, hättet ihr Schuld gehabt. Und ihr hättet damit auch dem gesamten Volk der Erdmunkel einen großen Schaden zufügen können. Das ist ein schlimmes Vergehen, ich muss euch empfindlich bestrafen. Ihr seid offensichtlich noch nicht reif genug, die Oberwelt zu besuchen, deshalb bleibt ihr ab heute für ein ganzes Jahr in der Unterwelt. Darüber hinaus besucht ihr einmal pro Woche den Oberweltlernkurs bei Professor Palman. Gebt mir eure Magnetsteine!“

Ingor und Larma blieb die Luft weg. Die Aushändigung des Magnetsteins und damit die Berechtigung zum Besuch der Oberwelt war im Leben eines jeden jungen Erdmunkels ein besonderes Erlebnis, und der Entzug des Steins war eine furchtbare Blamage. Und dann auch noch für ein ganzes Jahr, welch eine Schande!

Ingor funkelte den unglücklichen Bizo an: „Das ist alles deine Schuld“.

„Irrtum“, sagte die Schulleiterin. „Bizo könnte tot sein, und das wäre dann eure Schuld. Was ihr getan habt, ist fast unverzeihlich, dafür müsst ihr euch wenigstens bei ihm entschuldigen. Und, so leid mir das tut, wenn ihr nicht einsichtig seid, müssen wir euer Verhalten auf der Schulkonferenz diskutieren, wollt ihr das?“

Beide schüttelten den Kopf und baten Bizo zerknirscht um Verzeihung. Dann durften die drei zum Unterricht gehen.

Die Frauen und Männer nahmen ebenfalls ihre Arbeit auf. Einige waren mit der Weiterentwicklung und Pflege der Magnettechnik beschäftigt, andere bauten neue Räume aus oder renovierten die alten. Gerade war die große Bibliothek an der Reihe. Die Munkel hatten eine bemerkenswerte Klimatechnik entwickelt, so dass selbst die vielen Bücher, die sie sich aus den Bibliotheken der Oberwelt besorgt hatten, unbeschadet aufbewahrt werden konnten.

Es gab ein Rechenzentrum, das mit allen wichtigen Stationen auf der Welt verbunden war, eine medizinische Station, ein Elektrizitätswerk, ein Wasserwerk, ein Heizwerk, in dem auch der Müll verwertet wurde und vieles mehr. Das alles funktionstüchtig zu erhalten, erforderte eine Menge Arbeit. Besonders aufwändig war die Instandhaltung der Außenwände ihres Reichs, die aus einem undurchdringlichen Metall bestanden, das keinen unerwünschten Zutritt ermöglichte, das jedoch ständig mit einer blauen Lösung gestrichen werden musste.

Auch die Beleuchtung der Unterwelt bedurfte der stetigen Wartung. Die Munkel hatten im Laufe der Zeit raffinierte Lichtsysteme entwickelt, die in allen Räumen zwölf Stunden lang Tageslicht simulierten und dann langsam dunkler wurden, bis sie durch Kerzen und Nachtlampen ersetzte.

Eine große Anzahl von Erdmunkeln war mit der Beschaffung und Zubereitung von Nahrung beschäftigt. Die unterirdischen Pflanzungen mussten gepflegt, die oberirdischen abgeerntet werden, es gab eine Molkerei und eine Fabrikation für alkoholfreie Getränke, für Ambrosiawein und für Sellerieschnaps, eine Bäckerei und eine große Küche.

Auch die Kultur kam nicht zu kurz. Abgesehen von einer Lernfabrik, in der die Kurse aller Fernuniversitäten abgerufen werden konnten, gab es eine begabte Theatergruppe, ein Orchester und eine Musikgruppe für die Jüngeren.

Wenn die Munkel auch ihre eigenen Traditionen und Gebräuche weiterentwickelt hatte, so waren Einflüsse aus der Oberwelt doch nicht völlig unbemerkt an ihnen vorbei gegangen. So sollte es schon vorgekommen sein, dass ein junger Munkel sich heimlich im Rhythmus der Musik der Beatles bewegte.

Seit ein paar Jahren gab es auch Fernsehen unter der Erde, die geschickten Munkeltechniker hatten ein Kabel verlegt und einen großen Fernsehsaal eingerichtet. Die Einrichtung war sehr umstritten gewesen. Die Jüngeren waren der Meinung gewesen, dass man unter der Erde auf Dauer nur überleben konnte, wenn man wusste, was oben passierte, die Älteren waren der Auffassung, die Jungen würden sich mit dem Leben unter der Erde nicht mehr abfinden können, wenn sie das Leben auf der Oberwelt so präsent hätten. Das Gegenteil war aber der Fall gewesen. Je mehr Unruhe es in der Oberwelt gab, desto größer war die Freude der Munkel an ihrem beschaulichen Dasein tief unter der Erde.

Und es fehlte ihnen ja eigentlich an nichts, wenn da nicht die unstillbare Sehnsucht nach einem Leben in Normalität, Sonne und Licht gewesen wäre. Nach einem Leben, wie es ihre Vorfahren geführt hatten, als sie noch groß, bedeutend, stark und gesund gewesen waren.

Bandur, einer der Überwacher, betrat mit seinen Mitarbeitern den Überwachungsraum und nahm seinen Platz ein. An drei großen Bildschirmen begannen sie, die Häuser im flachen Land zu durchforsten. Nach ein paar Tagen hatten sie 18 Mädchen ausgemacht, die Kira hießen. Davon hatten drei kurze schwarze Haare, sieben waren schon fast erwachsen und zwei waren noch Babys. Von den restlichen sechs Mädchen machte er Bilder, die sie Magia zeigten. Das Mädchen, das sie gesehen hatte, war jedoch nicht dabei.

Wieder trafen sich die Erdmunkel im Sonnensaal, und Magia ließ sich erneut in Trance versetzen. Und wieder sah sie das gleiche Mädchen, und sie sprach:

„Wir müssen weiter suchen, wir haben sie noch nicht gefunden, aber ich weiß, dass es sie gibt.“

Kiras Mission

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