Читать книгу So starben die römischen Kaiser. Historische Erzählungen - Ute Schall - Страница 7
ОглавлениеDie Julisch-Claudische Dynastie: Von Caesar bis Nero
Der Griff nach den Sternen – Gaius Iulius Caesar
100–44 v. Chr.
Unmittelbar bevor ihm jener Stich versetzt wurde, von dem die Ärzte später behaupten sollten, dass es von 26 der einzige tödliche war, sah Caesar auf und schaute mit schreckgeweiteten Augen in die Gesichter seiner Feinde, die er noch bis vor wenigen Minuten für seine Freunde gehalten hatte. Dann entfernte sich in der kurzen Zeit, die ihm der Tod noch gewährte, der tränenverschleierte Blick, und er erkannte sich im Feldherrnmantel, ein strahlender Held, vor dem sie ehrfurchtsvoll das Knie beugten. Noch einmal ritt er durch die Weiten Galliens, setzte über in die unheimlichen Wälder der germanischen Völker, überschritt, alles auf eine Karte setzend, den Rubikon und entdeckte sein Spiegelbild in den Wellen des Nils, dessen Grün den Augen der Königin glich, Kleopatras, der einzigen Frau, die in der Lage gewesen war, ihm wenigstens vorübergehend die Sinne zu rauben.
Ein letztes Mal kostete er den Geschmack der Macht, der ihm jetzt jedoch bitter erschien, sodass ein leises Seufzen seiner gemarterten Kehle entfuhr. „Auch du, mein Sohn?“, wunderte er sich, als er Brutus gewahr wurde, dem er so lange wie ein Vater gewesen war. Nein, dachte er, nein. So viel Aufhebens hätte es nicht bedurft. Wisst ihr Narren denn nicht, dass ich aus dem Partherkrieg nicht mehr heimgekehrt wäre, dass das Schicksal meine Tage gezählt hatte, ohnehin?
Dann griff er nach seiner blutbesudelten Toga und zog sie sich über den Kopf. Niemand sollte sagen können, ein Gaius Iulius Caesar, der große Caesar, verstünde nicht, mit Würde zu fallen. Sterbend umfing er die Statue des Pompeius, als suche er Halt an dem Mann, der sein Freund und sein Feind gewesen war. Und ein augurenhaftes Lächeln umspielte seinen schmallippigen Mund.
Der volle Mond streute ein diffuses Licht durch den hauchdünn geschliffenen Travertin der Fenster des ehelichen Schlafgemachs. Das Jahr war noch jung, und dennoch lastete schon eine fast sommerliche Schwüle über dem hohen Raum. In wenigen Tagen würden sie das Fest der Liberalia feiern, und zahllose Knaben würden ihre Kinderkleider ablegen und die toga virilis empfangen, um in den Kreis der erwachsenen und wehrfähigen Männer aufgenommen zu werden.
Calpurnia schreckte hoch aus wirrem Traum. Hatte sie überhaupt ein Auge zugetan? Sie wusste es nicht. Erinnerte sich nur, dass ihr gewesen war, als halte sie, die liebte, ohne wiedergeliebt zu werden, den blutüberströmten Gatten leblos in den Armen. Aber nein, da war nichts. Sie setzte sich auf und sah zu ihm hinüber. Sein Atem ging gleichmäßig, doch seine Züge umspielte ein leidender Ausdruck, und Schweißperlen glänzten auf der hohen gelichteten Stirn. Liebevoll strich sie ihm über die feuchtwarme Haut. „Gaius Iulius Caesar“, flüsterte sie. Sie hatte ihr Glück kaum fassen können, als er bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten hatte, er, nach dem sich die Schönen Roms in langen Nächten verzehrten, heimlicher König des Reiches und mächtigster Mann seiner Zeit, der Rom eine Welt zu Füßen gelegt hatte. Warum sorgte sie sich nur so sehr? Warum war ihr, als hätten sie schon lange Abschied von einander genommen? Wovor diese doch sicherlich unbegründete Furcht?
Hatte er nicht bislang allen Gefahren getrotzt? Den Nachstellungen Sullas in früher Jugendzeit, der Geldgier der Piraten, die ihn auf hoher See aufgebracht und dann, wie er meinte, gegen ein viel zu geringes Lösegeld wieder freigelassen hatten. Den gallischen Kriegern, die auf seinen Kopf ein Preisgeld ausgesetzt hatten. Der Missgunst schließlich eines Pompeius Magnus, der lange sein Freund und Schwiegersohn, zuletzt jedoch sein erbittertster Gegner gewesen war.
Aus jeder Gefahr war er gestärkt hervorgegangen, sodass der Volksmund mit einer gewissen Berechtigung verbreiten konnte, ihm hafte das Glück an wie vielen anderen erkaltetes Pech. Aber ruft nicht so viel göttliche Gunst auch manchen Neider auf den Plan?
Schwerfällig erhob sich die edle Frau, zog die neben der Bettstatt bereit liegende palla über, trat ans Fenster und öffnete leise den Seitenflügel, der den Blick auf das weitläufige säulenbestandene Atrium freigab, das im hellen Mondlicht verführerisch glänzte. Die würzige Frühlingsluft vertrieb für einen Augenblick die schweren Gedanken. Sie legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Dann tat sie einige Schritte hinaus in die unbekannte Nacht.
Bäume und Sträucher warfen gespenstische Schatten, und silbern spielte das Mondlicht auf der glatten Fläche des Teichs. Frösche quakten. Das Murmeln des Brunnens klang wie aus weiter Ferne, aus einer anderen fremden Welt. Wie friedlich doch alles erscheint, dachte Calpurnia, doch sie wusste, dass die Idylle trog. Es lag etwas Lauerndes und Warnendes in der Luft, Bedrohung, Veränderung, Verrat und Angst. Sie schleppte sich zurück zu ihrem Gatten, betrachtete aufmerksam sein eingefallenes Gesicht, die hohen Wangenknochen und die Haut, die die Spuren des Alters vorwegnahm. Und plötzlich war ihr, als blicke sie in die fahle Maske eines Toten. Erschaudernd bettete sie sich auf ihr Lager und fiel erneut in einen schweren, schweißtreibenden Traum.
Die Zeichen der Zeit standen schlecht. Angst lähmte die siebenhügelige Stadt. Menschenleer dehnte sich das Forum selbst in den lichtdurchfluteten Tagesstunden. Nachts aber machten vermummte Gestalten und zweifelhaftes Gelichter die Straßen unsicher. Ein Ausgeraubter hier, ein Erschlagener dort. Hilferufe, die ungehört in der Dunkelheit verhallten. Morgens grässlich entstellte Leichen nackt im Tiber treibend, gesichts- oder kopflos, das Gedärm nach außen gekehrt. Köpfe, die tränenlos und unbewimpert von den Gemonien rollten. Schnödes Verbrechen blieb ungesühnt.
„Weißt du es schon? Hast du es auch gehört?“ In Etrurien wurde ein Kalb mit drei Köpfen geboren. Hafer wuchs dort aus den Kronen der Bäume. Eigenartige Vögel, für die niemand einen Namen kannte, kreisten über Dörfern und Städten. Man sah eine Schlange, die sich vom Schwanz her selbst verzehrte. In Capua gar stießen Siedler beim Bau ihrer Hütten auf uralte Gräber. In einem fand sich eine eherne Tafel. In den gestelzten Lettern einer vielhundertjährigen Schrift stand darauf geschrieben:
„Unbekannter, der du die Gebeine des Capys entdeckest, melde in Rom, ein Enkel des sagenumwobenen Gründers werde dort durch verwandte Hand heimtückisch fallen. Das aber werde Italien mit großer Heimsuchung büßen.“
Düstere Zeiten kündigten sich an, Zeiten, die die Menschen verstummen ließen. Nur einer achtete der ungünstigen Omina nicht: Gaius Iulius Caesar, der sein Geschlecht auf Iulus, den legendären Vorvater, und damit auf die Göttin Venus selbst zurückführte.
„Hüte dich vor den Iden des März!“, hatte ihm erst kürzlich Spurinna im Senat zugerufen, der Seher, der blind war und doch mehr als andere sah. Aber der heimliche König Roms, Diktator auf Lebenszeit, hatte darüber nur gelacht. „Es liegt im Interesse der Allgemeinheit, dass ich am Leben bleibe. Wenn mir nämlich etwas zustieße, würde das Rom erneut in blutige Bürgerkriege stürzen.“
Doch dann auch bei ihm Träume, immer wieder diese Träume: Da war der Zaunkönig, der, einen Lorbeerzweig im Schnabel, zur Kurie des Pompeius flog. Doch sollte er sie nicht erreichen. Denn schon unterwegs stürzte sich ein Schwarm von Raubvögeln auf ihn, um ihn zu zerreißen. Wie er, Caesar, sich in Gesichten über Wolken schwebend wiederfand und Jupiter die Hand reichte. Und dann Calpurnia, die schlafwandelnd durch Gemächer, Hallen und Flure schlich, die nachts schrie und um sich schlug, ohne sich morgens daran zu erinnern. Wie sie sich drehte und wand, wenn sich das kalte Mondlicht auf ihr Antlitz legte! Dann wieder lag sie ruhig neben ihm, als sei sie in den ewigen Schlaf gesunken.
Wie von Geisterhand angestoßen springen Türen und Fenster auf. „Wer da?“, will Caesar wissen, doch eine Antwort erhält er nicht.
Und er schüttelt sie, wortstark beschwört er sie, zu sich zu kommen. Aber erst anderntags soll er erfahren, dass ihr gewesen war, als halte sie den Gatten ermordet in den Armen.
„Ich beschwöre dich, heute nicht in den Senat zu gehen“, fleht sie ihn an. Darf denn nicht auch Caesar einmal krank sein? Händeringend wirft sich die stolze Römerin vor ihm zu Boden und umfängt seine Knie. Nur diesen einen Wunsch möge er ihr noch erfüllen. Dann werde sie nichts mehr erbitten.
Aber der Gatte schüttelt sie unwirsch ab. „Ich bitte dich, Frau, reiß dich zusammen! Was soll die Dienerschaft denken? Ist dir die Fassung abhandengekommen?“ Vergeblich ihre Tränen. Was gibt der große Diktator auf Weibergeschwätz!
Einen Augenblick lang sieht er sie an. Und er schaut in Augen, die Ratlosigkeit, nein, Verzweiflung widerspiegeln, schattenumrandet über eingefallenen, fast hohlen Wangen. In einer Nacht scheint sie ihm um Jahrzehnte gealtert zu sein. Dünn spannt sich über Knochen gelbe Haut, und unter dem durchsichtigen Gewand bebt eine magere Brust.
Da dauert sie ihn. „Nun“, verspricht er, „ich werde, ehe ich gehe, noch die Auguren befragen. Damit du beruhigt sein kannst.“ Dabei drückt er ihre knochige Hand. Als er dann seinem Herzen tatsächlich einen Stoß gibt und die von Roms Männern kundigsten zu Rate zieht, können auch sie, das Gesicht nach Süden gewandt, wie es den uralten ungeschriebenen Gesetzen entspricht, kopfschüttelnd und achselzuckend nur Zeichen von rechts, also von der Seite des Sonnenuntergangs und damit des Unheils erkennen. Und als sich sogar die heiligen Hühner weigern zu fressen, da wird auch Roms stärkster Mann für einen Augenblick schwach. Täte er doch gut daran, die Warnungen seiner Frau ernst zu nehmen? Heißt es nicht, Frauen hätten mitunter das zweite Gesicht?
Aber die Verschwörer haben vorgesorgt. Sie haben Decimus Brutus, einen der Ihren, ins Haus des Diktators geschickt. Er hat den strengen Auftrag, ihn heute, koste es, was es wolle, in die Kurie zu schleppen. Zu umfangreich sind die Vorbereitungen für diesen Tag gewesen, einen Triumphtag für die Res Publica, wie man glaubt. Die Nerven liegen allenthalben blank. Denn längst ist der geplante Anschlag kein Geheimnis weniger Eingeweihter mehr. Schon pfeifen ihn die Spatzen von den Dächern. Es gibt zu viele Mitläufer, Mitwisser und potentielle Verräter.
Decimus Brutus ist ein redegewandter Mann. Nicht zufällig ist die Wahl auf ihn gefallen. Oft genug hat er die Kunst des Redens und Überredens vor den versammelten Vätern bewiesen, und auch jetzt macht er seine Sache geschickt:
„Seit wann, mein Feldherr, achtest du auf das Geschwätz einer Frau? Du selbst hast für heute den Senat einberufen. Was werden die Väter denken, wenn sie erfahren, sie sollen nach Hause gehen und wiederkommen, wenn Calpurnia besser geträumt hat? Schöne Genugtuung für deine Feinde! Caesar, werden sie sagen, der große Caesar, dem wir für den Partherfeldzug sogar das Königsdiadem angeboten haben, fürchtet sich vor den Hirngespinsten eines einfältigen Weibes. Ich höre schon ihr schadenfrohes Lachen. Aber wenn du die Sitzung durchaus verschieben willst, nun, dann ist es wohl das Beste, wenn du es den versammelten Vätern selbst sagst.“
Die triumphierenden, lachenden Gegner: Ein Argument, das auch einen Caesar überzeugt. Freilich sind nicht alle Bedenken zerstreut. Aber darf er sich ohne Not eine Blöße geben, sich dem öffentlichen Gerede aussetzen? Nicht für alle Calpurnias der Welt! Die Tränen seiner Frau missachtend, verlässt er das Haus, um als Lebender nicht wiederzukehren.
Auf der Straße dann das gewohnte Bild: Man belagert ihn, man bedrängt ihn. Aufdringliche Bittsteller begleiten die Sänfte. Aber das ist man als Caesar gewohnt. Kaum vermögen die Liktoren, einen Weg durch die drängende Menge zu bahnen. Einem der Verfolger, er heißt Artemidorus und ist ein griechischer Gelehrter, gelingt es, ihm eine kleine Papyrusrolle in die Hand zu drücken. Sein Anliegen, keucht er, sei besonders dringend. „Lies!“, beschwört er ihn, „aber bitte lies bald! Der Inhalt ist für dich von größter Bedeutung.“
Aber Caesar kommt nicht zum Lesen. Er lehnt sich entspannt zurück. Wie angenehm ist doch das Bad in der Menge! Gleich einem Fischschwanz zieht eine anschwellende Menschenschar hinter ihm her. Hat er es nicht schon immer verstanden, die Massen für sich zu begeistern? Jubelrufe. Ave! Es lebe Gaius Iulius Caesar!
Im Senat dann lächelt er spöttisch zu Spurinna hinüber. „Du siehst, Alter, die Iden des März sind gekommen!“
„Sie sind gekommen. Aber vorüber sind sie noch nicht“, gibt der alte Mann warnend zurück.
Alles ist ruhig, gewiss. Nur die Verschwörer können wissen, dass der Tag nicht halten wird, was der Morgen verspricht.
Dann die übliche Begrüßung: ein Kopfnicken zur Linken, ein Handgruß nach rechts. Ehrerbietig erheben sich die Senatoren, weniger vor dem Mann als vor dem Amt, das er auf schmächtigen Schultern trägt. Nichts deutet auf etwas Ungewöhnliches hin, im Gegenteil. Brutus und seine Freunde sind heute besonders zuvorkommend, geleiten den Diktator sogar zu seinem Sitz. Nur einige Plätze in der ersten Reihe sind leer. Aber Caesar fällt das nicht einmal auf. Da tritt, wie auf ein verabredetes Zeichen hin, Tillius Cimber an Caesar heran.
Draußen indes hat Trebonius, einer der Verschwörer, Caesars Freund Marcus Antonius in ein Gespräch verwickelt. Denn bei Antonius weiß man nie. Manche Schlacht hat er mit dem Imperator geschlagen, längst wird er schon als dessen Nachfolger gehandelt. Es steht zu befürchten, dass der erfahrene General, hielte man ihn nicht auf, die Pläne der Attentäter noch im letzten Augenblick durchkreuzte und seinem Freund zu Hilfe eilte. Zudem verfügt er über eine stattliche Anhängerschaft im Senat.
Schon hat Cimber den noch immer Ahnungslosen an der purpurverbrämten Toga ergriffen. Er bittet um Gnade für seinen verbannten Bruder, den er so lange nicht gesehen hat, greift nach Caesars Händen, bedeckt ihm Haupt und Brust mit verräterischen Küssen. Der Bedrängte springt auf. Von Gnade will er heute nichts wissen. Da reißt ihm der Bittsteller die Toga vom Leib. „Was zögert ihr, Freunde?“ Es ist ein gewisser Casca, der mit gezücktem Dolch hinter dem Opfer auftaucht und den ersten Streich führt. Aber die Waffe prallt an einem Halswirbel ab. „Das ist ja Gewalt!“, wehrt sich der Angegriffene, sticht seinerseits zu und durchbohrt Cascas Arm mit einem Schreibgriffel. Versucht auch noch tapfer, die anderen Attentäter zurückzudrängen. Aber zu viele haben ihre Messer gewetzt. Das scharfe Eisen gräbt sich in sein müdes, verdorrendes Fleisch … Ein schmerzhafter Stich trifft die Seite, und Caesar sucht sterbend Halt am Bildnis jenes Mannes, der wie kein zweiter seinen Weg schicksalhaft begleitet hat: als Verbündeter, als Freund, als Schwiegersohn und schließlich als Gegner im Bürgerkrieg, der große Pompeius. Fest hält er die ihm von Artemidorus zugesteckte Rolle in der Hand. Zum Lesen ist er nicht gekommen. Das Schriftstück enthält einen Abriss der Verschwörung und die Namen aller, die in sie verstrickt sind …
In Windeseile war die Kunde von Caesars Fall aus dem Senatsgebäude gedrungen. Das Rad der Weltgeschichte stand für Augenblicke still. Angst lähmte das siebenhügelige Rom. Ein jeder stürzte Hals über Kopf ins Freie. Leerer als sonst gähnten die Straßen. Wer sollte das Ungeheuerliche erfassen? Was sollte nun werden? Ungehört verhallten die Rufe von Freiheit und Republik. In dieser Lage hätte wohl auch einem Cicero, dessen fast sprichwörtliche Beredsamkeit sogar einen Catilina ans Messer geliefert hatte, das Wort im Munde gestockt. Mit Bedacht jedoch hatten die Köpfe der Verschwörung den alten Zauderer nicht in ihre blutigen Pläne eingeweiht. Später freilich sollte er ihnen vorhalten, man habe ihn nicht zum Festmahl geladen …
Niemand vermag zu sagen, wie lange der Ermordete in seinem Blute lag. Stunden der Ungewissheit vergingen. Die Dunkelheit senkte sich schon über Rom, als sich drei von Caesars Sklaven – der vierte war in der allgemeinen Verwirrung geflohen – des blutüberströmten Leichnams erbarmten. Vorsichtig hoben sie ihn auf und betteten ihn auf die Sänfte, mit der sie den Lebenden am Morgen in den Senat gebracht hatten. Ein Arm des Getöteten baumelte lässig herab. Wer es sah, wandte den Blick erschaudernd zur Seite.
Dann wankte die kleine Gruppe heimwärts, um Calpurnia ihren Mann zurückzubringen oder das, was von ihm geblieben war.
Könige des Ostens – Antonius und Kleopatra
+ 31 v. Chr.
Noch nie hatte sie sich derart alt gefühlt. Und gedemütigt. Nichts würde ihr mehr nützen. Nicht ihre Schönheit, die einst legendär gewesen war. Nicht ihr wacher Geist, der manchen Mann in seinen Bann gezogen hatte. Und auch nicht die Tatsache, dass sie eine überaus gebildete Frau war, die zwölf Sprachen in Wort und Schrift beherrschte und ihre Gegner im wahrsten Sinne des Wortes immer verstand.
Sie war zu klug, um es nicht zu begreifen: Sie hatte das große Spiel um Macht und Leben verloren. Sie hatte ihn mit keinem ihrer Argumente zu überzeugen vermocht. Nicht mit ihrer sprichwörtlichen Verführungskunst, der seine beiden großen Vorgänger blind erlegen waren, nicht mit Tränen und Kniefall, mit denen sie vergeblich an sein Mitleid appelliert hatte, nicht mit dem Versprechen einer gemeinsamen Herrschaft über ihr Reich, das alte Land am Nil. Er würde sie ohnehin an sich reißen, die Macht. Auch ohne sie. Ihr Versuch, das Königtum für sich und ihre Kinder zu retten, war kläglich gescheitert. Mit seinen grauen Augen hatte er sie angesehen, Gaius Octavius, der große Rächer seines Adoptivvaters Caesar, und er hatte mit eiskalter Vernunft jedes Wort, mit dem sie sich hatte rechtfertigen wollen, widerlegt. Sie hatte sich nur lächerlich gemacht. Umsonst das golddurchwirkte verführerische Untergewand und das aufgelöste Haar. Umsonst alles, umsonst.
Es gab keine Rettung mehr. Aber sie würde nicht seinen Triumphzug in Rom krönen wie einst ihre Schwester Arsinoe den des später gemeuchelten Juliers gekrönt hatte. Dieser Elendsgang kam für sie nicht in Frage. Sie würde sterben, wie es sich gehörte. Sie würde die Todesart wählen, die einer Königin vom Nil und letzten Vertreterin einer großen hellenischen Epoche, der Erbin des großen Alexander, würdig war.
Wäre Octavian auf sein Angebot eingegangen, wer weiß? Aber er hätte es sich denken können: Caesars für seine Feigheit berühmter Nachfolger ließ sich auf derartige Spielchen nicht ein. Ein Zweikampf mit ihm, einem gestandenen Soldaten und grandiosen Feldherrn! Ein Zweikampf um ein Weltreich! „Marcus Antonius“, sagte er zu sich selbst, „wo lebst du denn? Erinnerst du dich nicht, dass er nie selbst gekämpft hat, sondern immer andere die Kastanien aus dem Feuer holen ließ? Weißt du nicht mehr, dass er sich vor jeder Schlacht schlotternd in die Büsche schlug und erst wieder zum Vorschein kam, wenn die Gefahr vorüber war? Ganz Rom verspottete ihn dafür. Aber es störte ihn nicht.“
Niederlage, Unglück und Verrat hatten Caesars einst so stolzem General schwer zugesetzt. Da waren die jahrelangen Beleidigungen und Verleumdungen Octavians, denen er zum Schluss nichts mehr entgegengesetzt hatte, weil er des ständigen Streitens müde geworden war. Da war die Niederlage bei Actium, als ihn sogar seine königliche Gemahlin im Stich gelassen hatte, da waren die einstigen Kameraden, die sich nicht gescheut hatten, ins gegnerische Lager überzulaufen. Nur wenige waren geblieben, die bereit waren, mit ihm unterzugehen.
Verzweifelt flüchtete sich Marc Anton in Ironie, in ahnungsvolle Reden. Er ergab sich einer Melancholie, die einem römischen Offizier schlecht anstand. Noch einmal wanderte im Kreise seiner Getreuen der Becher: Wer wisse schon, was der nächste Tag bringe? Wo würden dann seine Diener stehen? Bei ihm, bei einem anderen, während er selbst vielleicht schon tot war.
Am Morgen nach dem Trinkgelage forderte er seinen Waffendiener Eros auf, ihn zu töten. Doch so bereitwillig ihm der himmlische stets zu Diensten gewesen war, der irdische verweigerte ihm seinen Beistand und zog den Selbstmord vor.
„Das hast du fein gemacht, Eros. Du hast mir gezeigt, was ich zu tun habe.“
Und ehe ihn seine Freunde daran hindern konnten, raffte er sich auf und stieß sich das Schwert in den Unterleib.
Doch sogar zum Selbstmord taugte der verzweifelte Mann nicht mehr. Blut schoss aus der Wunde. Er krümmte sich vor Schmerzen, flehte die Anwesenden an, diesem unwürdigen Zustand ein Ende zu machen, winselte um die Gnade des Todes, wie andere um ihr Leben betteln. Aber niemand eilte ihm zu Hilfe. Der unwürdige Anblick des gefallenen Römers, der einer der größten seiner Zeit gewesen war, schlug auch den letzten Anhänger in die Flucht.
Oben, im turmartigen Überbau ihres Palastes, ist Kleopatra mit den Vorbereitungen ihres eigenen Abgangs beschäftigt. Sie hat von dem Ungeschick ihres Geliebten gehört. Wenn sie ihn ob seines Unglücks auch verachtet, in der Aussichtslosigkeit ihrer beider Lage will sie aller Welt zeigen, was sich für eine ägyptische Königin gehört. Sie bittet den Hofbeamten Diomedes, den tödlich verwundeten Gatten zu holen. Längst hat sie sich in ihrer sicheren Festung ihr Sterbezimmer eingerichtet, von der Welt Abschied genommen und sich mit ihren Dienerinnen hierher zurückgezogen. Diese letzte Bleibe will sie mit dem Mann teilen, der viele Jahre ihres Lebens so schicksalhaft begleitet hat, als Freund, als Geliebter, als Gemahl und Vater ihrer Kinder.
Er kauert am Fuße der Festung in einem Korb. Und sie selbst hilft bei der Bedienung des Seils, das ihn, vorbei an dem geschlossenen Untergeschoss des Bauwerks, in ihrer beider letzte Wohnung emporhebt.
Als die Königin den blutüberströmten Körper erblickt, zerreißt sie ihre Kleider, zerkratzt sich die Brüste, beschmiert ihr Gesicht mit dem Blut des Geliebten und nennt ihn immer wieder ihren Gemahl, ihren Herrn und König. Jetzt ist sie es, die Trost braucht. Mit schon brechendem Blick rät ihr Antonius, mit Octavian Frieden zu schließen, und er bittet sie, ihn selbst nicht zu beweinen. Groß und glücklich sei er gewesen, und es sei nicht unehrenhaft, von einem Römer besiegt zu werden. Dann haucht er in den Armen der Königin sein Leben aus, ein letztes Bekenntnis zum Römertum auf den Lippen: „De mortuis nil nisi bene.“ Später werden viele Historiker sagen, nicht Octavian habe Marc Anton auf dem Gewissen, er sei vielmehr sich selber erlegen …
Dann ist auch Kleopatras letzte Stunde gekommen. Und noch einmal erweist sie sich von königlicher Größe. Dienerinnen lassen ihr ein wohlriechendes Bad ein. Die Königin benötigt Entspannung. Sie frühstückt in altgewohnter Pracht und lässt sich danach ein goldenes Gewand anlegen. Es gilt, dem Tod würdig entgegenzutreten. Inzwischen hat ein Bauer einen Korb mit Feigen gebracht. Er hat, ohne den Argwohn der römischen Wachen zu erregen, die an den Toren aufgestellt sind, die innere Grabkammer erreicht …
Die „Erbin“ Alexanders starb am Biss der Uräusschlange, die unter den Früchten verborgen war. Und noch im Tode triumphierte sie über ihre Bezwinger. Denn sie starb als Pharaonin mit dem Anspruch auf Unsterblichkeit, die ihr das Gift des Tieres nach dem Glauben der Alten verhieß.
Man fand sie auf goldenem Lager, in königlicher Pracht und Herrlichkeit.
Als sich die Kunde von ihrem Tod verbreitet hatte, verblassten in Rom das glorreiche Ende der Schlacht von Actium und die Vernichtung des größten Gegners Marc Anton. „Fatale monstrum“ hatte sie der römische Pöbel in Nachahmung seiner Führer genannt, da er es nicht besser wusste. „Nunc est bibendum“, freute sich Horaz. Aber auch Bewunderung war zu hören: „Non humilis mulier“, kein gemeines Weib, habe sich da selbst gerichtet. Nicht einmal der Hass ihrer Feinde konnte umhin, das zuzugeben. Doch niemand konnte ahnen, dass die noch im Tode stolze Königin über mehr als zwei Jahrtausende lang Künstler und Poeten in hohem Maße inspirieren sollte.
Bis auf den heutigen Tag geistert sie durch unsere Phantasie als wahre Siegerin jener welthistorischen Epoche, eine Erbin, die sich wie nur wenige ihrer großen Vorfahren würdig erwies.
„… denn das Ende deines Leben und deiner Taten ist gekommen.“
Prinzentod – Drusus
39–9 v. Chr.
Wenn ich an Drusus denke, taucht sein Bild vor mir auf aus den Tiefen einer vergangenen Zeit. Das ebenmäßige, fast schöne Gesicht eines jungen Mannes kommt mir in den Sinn, tiefliegend die rätselhaften Augen, die immer ein wenig lauernd blicken und das Feuer einer unterdrückten Leidenschaft ahnen lassen. Ich sehe den Kranz der üppigen aschblonden Locken, die seine Züge umrahmen, dunkel die dichten Brauen, geradlinig die Nase mit dem schmalen Rücken, von samtener Weiche die Lippen, die stets ein geheimnisvolles Lächeln umspielt, ein sanft geschwungener Bogen über einem markanten, energischen Kinn. Ich erinnere eine hoch aufgerichtete, doch feingliedrige Gestalt, die majestätisch durch die weitläufigen Gänge meines Vaterhauses schritt, sehe ihn freundlich bald zur einen, bald zu anderen Seite grüßen, beiläufig, ohne die Überheblichkeit, die man bei einem Menschenkind, das die Natur mit so vielen Vorzügen gesegnet hat, im Allgemeinen erwartet.
Ich habe auch sie vor mir, die ungezählten Mädchen Roms, die in ihrem Staunen erstarren, wenn er auf seinem schwarzen Hengst vorübersprengt, Mensch und Tier scheinen eins, die ihn mit schmachtendem Herzen verfolgen, ehe sie ohnmächtig zu Boden sinken, wenn sie ein zufälliger Blick aus seinen strahlenden Augen streift.
Er ist es, dem Roms Jugend zujubelt, dem Blumen, Geschenke und Heilsrufe zufliegen, auch manche Aufforderung zu geheimem Treff. Einmal nur, ach schöner Drusus, es braucht ja auch niemand zu wissen.
Aber auch dieses Bild steigt auf aus dem tiefen Brunnen der Vergangenheit: Ich erlebe einen der traurigsten Tage in der vielhundertjährigen Geschichte der erhabenen Roma. Vor mir ein unüberschaubarer Leichenzug, der sich dunkel und schweigend durch die Porta Flaminia zwängt und stadteinwärts Richtung Marsfeld wälzt. Nirgendwo ist ein Durchkommen. Hoffnungslos verstopft sind Plätze, Märkte und Gassen, Menschen wie Ameisen, die sich eingefunden haben, den allzu früh verlorenen Sohn zu beweinen. Aber kein Laut ist zu hören. Selbst die Hufe der Pferde sind mit dicken Wolltüchern umwunden, damit ihr Klappern die Totenstille nicht störe.
Wo immer der sechsspännige Leichenwagen auftaucht, drängt die Menge ehrfurchtvoll heran. Ein jeder versucht, wenigstens einen Zipfel des golddurchwirkten Purpurtuchs zu berühren, das den vornehmen Leichnam vor allzu neugierigen Blicken verhüllt.
Voran schreitet gesenkten Hauptes Tiberius, die Augen vom Wein und von Tränen gerötet, als schmerze auch ihn dieser für Rom so herbe Verlust. Dabei haben die Römer längst über seine Schuld oder Unschuld am Unglück des Bruders ihre eigenen Geschichten gesponnen.
Alte Männer weinen leise vor sich hin. Frauen haben sich mit spitzen Nägeln Gesichter und Brüste zerkratzt. Schmerzverzerrt schreien stumm ihre Mienen. Viele der Trauernden haben verzweifelt die Arme zum Himmel emporgerissen, als klagten sie die Ungerechtigkeit der Himmlischen an. Aber jeder leidet still vor sich hin, als wage er nicht, die Würde des Augenblicks durch ein wie auch immer geartetes Geräusch zu entweihen.
Wenn ich an Drusus denke, läuft es mir eiskalt den Rücken hinab. So habe ich zuletzt bei den heiligen Opferhandlungen empfunden, als mir der Glaube der Kindheit noch nicht abhandengekommen war. Die Anziehungskraft kommt mir in den Sinn, die schon der Jüngling auf Menschen und Massen ausübte, und die Geschicklichkeit, mit der er ihnen, unbewusst und ohne dass sie es merkten, seinen Willen aufzwang.
Wann immer ich an Drusus denke, denke ich an den Tod.
Rom, das stolz auf mehr als sieben Jahrhunderte zurückblickt. Rom, der Nabel der Welt, auf den sich die Blicke aller Völker richten. Rom, dessen Macht das Mittelmeer zu einem Binnensee degradiert, dessen Frieden sich über die ganze bekannte zivilisierte Welt gebreitet hat.
Vor wenigen Jahren erst sind Tiberius und Drusus, Stiefsöhne des römischen Kaisers Augustus, mit ihren Truppen siegreich bis zur Donau vorgestoßen und haben der Weltmacht einmal mehr einen Gebietszuwachs beschert. Aber zufrieden ist der erste römische Princeps noch nicht. Träume, immer wieder Träume: von einem Rom, das weit bis zu den Ufern der Elbe reicht, von einem Reich, das sich vom grimmen Nordmeer bis zu den Donauauen erstreckt. Rom, das im Norden und Süden, im Osten und Westen von natürlichen Grenzen umgeben ist, Grenzen, die es erlauben, von nur wenigen Soldaten geschützt zu werden, da sie für die Barbaren nur schwer oder gar nicht zu überwinden sind. Rom, das keinen Rivalen neben sich duldet, das es für einen göttlichen Auftrag hält, allen noch nicht bekehrten Völkern der Welt seinen Frieden aufzuzwingen, was immer man im Zentrum der Macht darunter versteht.
Immer wieder dringen germanische Stämme in das Reichsgebiet ein. Immer wieder werden Roms ureigenste Interessen durch solche Dreistigkeit verletzt. Längst hat der Princeps beschlossen, der barbarischen Kühnheit in einer groß angelegten Offensive die Stirn zu bieten. Geht es doch nicht an, sich durch bloße Verteidigung vor aller Welt ständig lächerlich zu machen. Drusus fällt die ehrenvolle Aufgabe zu, den geplanten Feldzug ins feindliche Germanengebiet zu leiten. Im anschaulichen Bericht des Geschichtsschreibers Dio Cassius weht uns noch heute ein Hauch jenes Grauens entgegen, das die römischen Legionäre stets befiel, wenn es in Germaniens unheimliche Wälder ging.
Chatten und Sueben hat der Stiefsohn des Kaisers bezwungen, wenn auch in einer Art Pyrrhussieg, denn seine Verluste wiegen den Gewinn nicht auf. Dann durchquert er das Cheruskerland, überschreitet, kühn geworden, die Weser und erreicht schließlich die Gestade der Elbe, verbrannte Erde hinter sich zurücklassend. Ein mächtiger Strom liegt vor ihm, ein Fluss, der von fernen Bergen kommt und sich in den nördlichen Ozean ergießt. Sehnsüchtig blickt Roms tüchtiger Feldherr an das jenseitige Ufer, wählt Mutige aus, die mit ihm das große Abenteuer wagen wollen, den Fluss zu überschreiten bereit sind. Dichter Nebel verhüllt seinen Blick. Da taucht plötzlich aus den undurchdringlichen Schwaden eine hohe Gestalt auf, ein übergroßes Germanenweib, das sich ihm und seinem Ansinnen entschieden entgegenstellt. Und er vernimmt eine raue Stimme: „Wohin willst du, unersättlicher Drusus? Kehre um! Es ist dir nicht beschieden, das jenseitige Land zu schauen. Denn das Ende deiner Taten und deines Lebens ist gekommen.“ Und wie er gleichsam aus dem Nichts erschienen ist, fällt der Spuk in sich zusammen.
Verunsichert ist Roms begnadeter Feldherr. Viel halten sich er und seine Zeitgenossen auf ihre Vernunft zugute, und dennoch lassen sie sich durch Wunderzeichen und allerlei Vorhersagen immer wieder verstören. Man lebt in einer abergläubischen Zeit. Ein jeder hätte gehandelt wie er. Er gehorcht der unheimlichen fremden Seherin sofort. Haben nicht auch zu Hause schon Zeichen, Unheil verheißende Omina, vor allzu großer Kühnheit gewarnt? Dennoch: Es gilt, vor aller Welt Roms Besitzanspruch auf dieses Gebiet zu bekunden. In aller Eile schlägt er deshalb seine Siegeszeichen auf, um sogleich den Rückmarsch an den schützenden Rhein anzutreten. Nur Roms unsterbliche Götter können wissen, dass er ihn nie erreichen wird.
Zutiefst in seinem Selbstbewusstsein erschüttert, verfolgt von Hexenbann und Zauberspruch, reitet er, die unheilvolle Prophezeiung im Ohr, womöglich unvorsichtiger, als es durch das unwegsame Gelände geboten ist. Irgendwo zwischen Saale und Rhein behindert eine unbekannte Kraft seinen Weg. Hoch auf steigt das erschrockene Ross. Der geübte Reiter stürzt vom Pferd. Er fällt so unglücklich, dass er sich einen offenen Bruch des Oberschenkels zuzieht. Die besten Feldärzte werden zu Rate gezogen. Aber sie schütteln nur verzweifelnd den Kopf. An eine Fortsetzung des Ritts ist nicht zu denken. Müde und traurig schlagen die Legionäre das Nachtquartier auf.
Langsam siecht Roms Hoffnungsträger, das Idol seiner Jugend, dahin. Wölfe umstreifen heulend das Lager. In der Ferne ist weibliches Klagegeschrei zu vernehmen, und vom Himmel herab regnet es blutige Sterne.
Endgültig verdüstert sich der germanische Himmel. Ein Mond ist über dem schrecklichen Unfall vergangen. Die Soldaten beten und opfern, bis ihre Kraft zu Ende geht. Einige bieten den Himmlischen ihr eigenes Leben für das ihres Feldherrn an. Aber Roms Götter erweisen sich als nicht so gnädig. Sie wollen den billigen Ersatz nicht.
Vor Drusus läuft noch einmal das Leben ab, die Kindheit im Hause des Stiefvaters unter Livias strengem Blick, seine eigene Familie, die in Rom als vorbildlich gilt, die Feldzüge, die er zum Ruhme des Vaterlands unternommen hat. Dann schließt der Liebling der Römer für immer die Augen. Er ist erst 30 Jahre alt. Man schreibt das Jahr 744 a.u.c. Christliche Autoren werden vom Jahr 9 vor Beginn der neuen Zeitrechnung sprechen.
„Und dankend lasst uns alle dann nach Hause gehen.“
Vom Sterben des Kaisers Augustus
31 v.–14 n. Chr.
„Ja, ist es denn möglich?“, wunderte sich der Greis, der grau und ganz klein in seine Kissen gesunken war. „Es scheint, als neige sich mein Leben nun tatsächlich zum Ende, und die Vorzeichen, die es mir so unmissverständlich angezeigt haben, behielten zum Schluss doch Recht. Aber ist es nicht gut so? Befürchtete ich doch schon, der Tod hätte mich vergessen. Mehr als fünf Jahrzehnte mühevollen Regierens haben mich müde gemacht, meinen Körper ausgemergelt und meinen Geist verbraucht. Aber ich blicke dankbar zurück. Und auch ein wenig stolz. Habe ich nicht eine Stadt aus Ziegeln vorgefunden und sie zu einer aus Marmor gemacht? Habe ich nicht die Waffen beiseitegelegt und meinen Zeitgenossen eine Ära des Friedens, des Wohlstands und Glücks beschert? Schon beginnen sie, vom augusteischen Zeitalter zu sprechen. Und sie lieben mich. So bin ich sicher: Man wird noch meiner gedenken, wenn unsere Knochen schon Staub sind, die Berge abgeschliffen und die Flüsse und Seen ausgetrocknet. Gelassen und heiter gehe ich Charon entgegen, dem Fährmann, der mich von der Last des Lebens befreien und sicher über den Styx begleiten wird in jene andere Welt, in der die Ahnen meiner schon harren.“
Vielfach hatte sich Octavian Augustus, Kaiser des Römischen Reiches, Vater des Vaterlandes, der sich bescheiden nur Princeps nannte, der Erste unter Gleichen, der Tod angekündigt. Da hatte etwa, während er opferte, ein Blitzstrahl eine der Statuen getroffen, die ihm ein dankbares Volk in Rom und anderswo so zahlreich errichtet hatte, und das „C“ seines Namens Caesar hinweggeschmolzen. Die Seher waren mit der Deutung dieses Omens rasch zur Hand: „C“, so meinten sie, entspräche dem Buchstaben für hundert, also habe er noch hundert Tage zu leben. Und der Rest des Namens, „aesar“, bedeute in der Sprache der Etrusker „Gott“ …
Und hatte er nicht selbst das Ende vorausgesagt? Unbewusst zwar, und doch! Er hatte beabsichtigt, Tiberius, den Nachfolger und Adoptivsohn, nach Illyrien zu schicken und ihn bis Benevent zu begleiten. Aber immer neue Gerichtsfälle hielten ihn in der Hauptstadt fest. Da rief er ungehalten aus, er werde nun nicht länger in Rom bleiben, auch wenn sich alles gegen ihn verschworen habe. Allen Widrigkeiten zum Trotz begab er sich auf die Reise, die er, ganz gegen seine Gewohnheit, auch bei Nacht nicht unterbrach. Aber sein geschundener Körper spielte nicht mehr mit. Eine heftige Durchfallerkrankung befiel ihn, und er wusste wohl am besten, dass sie der Anfang vom Ende war.
Der römische Sommer stand hoch. Auf den Dächern der Millionenstadt brütete die Hitze, und von der Subura, der schmuddeligen Unterstadt, stieg ein mächtiger Gestank zum Palatin hinauf. Kaum vermochte ein Gesunder, die stickige Luft zu ertragen, die auch vom Tiber her über dem vornehmsten Hügel waberte. Schon seit den Tagen der längst verlorenen Republik hatte es sich Roms Nobilität zur Gewohnheit gemacht, die heiße Jahreszeit am Meer zu verbringen, bevorzugt am Golf von Neapel, wo eine frische Brise stets für Abkühlung sorgte. Aber man liebte die Gegend, die man liebevoll nur Campania, das Land, nannte, nicht nur wegen des heilsamen Klimas und der warmen Quellen. Seit Jahrzehnten hatte eine der lieblichsten Landschaften des gesamten Reiches die Vornehmen der Hauptstadt angezogen. So hatte Cicero in Puteoli einen feudalen Landsitz besessen und auch Vergil im nördlichen Teil des Golfes seine letzte Ruhestätte gefunden. In den berühmten Grotten hauste die geheimnisvolle Wahrsagerin Sibylle, die im Epos des größten römischen Dichters Unsterblichkeit erlangt hatte. Und es befand sich hier ein Eingang zur Unterwelt …
Der Kaiser stand nachdenklich am Fenster seines Arbeitszimmers und beobachtete das Treiben auf dem Circus unterhalb seines Palastes. „Ich muss von Rom weg“, murmelte er vor sich hin. „Die Götter haben meine Tage gezählt. Wie leicht könnte mein Ableben hier Unruhen auslösen, ehe Tiberius verständigt werden und nach Rom zurückkehren könnte, um die Dinge in die Hand zu nehmen. Wenn ich anderswo sterbe, wird sich mein Tod länger geheim halten lassen, und es ließe sich der Übergang leichter regeln. Weine nicht, kleines Mädchen!“, wandte er sich an die Kindsklavin, die soeben ins Zimmer getreten war, um ihm seine Mittagsmahlzeit, einen Kanten trockenen Brots und eine Handvoll Feigen, zu bringen. „Das ist eben der Lauf der Natur. Alles ist im Fluss, wie schon Heraklit sagte. Alles ist von der Schöpfung zum Wandel, zur Veränderung bestimmt. Auch wir, Mädchen, auch wir. Denke nur an die Metamorphosen meines Freundes Ovid! Ob er noch lebt? Ich sehe an deinem erstaunten Blick, du kennst ihn nicht. Wie solltest du auch? Kann doch kaum ich mich noch an sein Gesicht erinnern. Es ist gut. Du kannst gehen. Es ist gut.
Cum subit illius tristissima noctis imago qua mihi supremum tempus in Urbe fuit, cum repeto noctem, qua tot mihi cara reliqui, labitur ex oculis nunc quoque gutta meis“,
erinnerte er sich des einstigen Freundes.
In Begleitung von Tiberius, dem düsteren Claudiersohn, segelte er die campanische Küste entlang. Von überall her strömten die Menschen herbei, um ihm zuzujubeln. Auch Matrosen und Passagiere eines Schiffes, das soeben aus Alexandria eingetroffen war, alle weiß gekleidet und blumenbekränzt, riefen ihm Glückwünsche und Danksagung zu. Nur durch ihn und seine umsichtige Herrschaft könnten sie Leben, Freiheit und Wohlstand genießen. Noch einmal sonnte sich der bedeutendste Mann des Imperiums in der allgemeinen Verehrung. Er war gerührt und beschloss, sich für die wenigen Tage, die das Schicksal ihm noch ließ, gegen jedermann freundlich und großzügig zu erweisen. So verteilte er Gold und wertvolle Gewänder. Noch einmal besuchte er Capri, das sonnendurchflutete Eiland, das er einst – es schien ihm wie in einem fernen früheren Leben – von Neapolis gegen das weniger reizvolle Ischia getauscht und seinem Privatvermögen einverleibt hatte. Dort verteilte er Körbe mit Delikatessen, wie sie die Inselbewohner selten gesehen und nie zuvor gekostet hatten. Und in ausgelassener Fröhlichkeit verfolgte er die sportlichen Wettkämpfe der griechischen Jünglingsvereine und dachte voll Wehmut daran, dass ihm, dem damals gerade 18-Jährigen, die Verantwortung für ein Weltreich zugefallen und eine ähnliche Unbeschwertheit nie vergönnt gewesen war.
Vor langer Zeit schon hatte er seinen Palast auf Capri zum Lieblingsaufenthaltsort für die Sommermonate erkoren, aber nur selten hatte er dort längere Zeit verbracht. Die Sorge um das Imperium gestattete private Neigungen nicht.
Vom Speisesaal aus blickte der Kaiser ein wenig neidisch zu einer nahen Insel hinüber, auf die sich einige seiner Höflinge zurückgezogen hatten, um der süßen Muße zu frönen. „Apragopolis“ nannte Augustus sie, Nichtstuerstadt. Unter den vornehmen Aussteigern hatte sich auch ein gewisser Masgaba befunden, ein Günstling des Kaisers, der im Jahr zuvor gestorben und auf der Insel begraben worden war. „Ktistes“, Gründer, hatte ihn Augustus ein wenig spöttisch genannt, als wäre er der Entdecker des Eilands gewesen. Menschen mit Fackeln besuchten gerade sein Grab. Masgaba war bei den Inselbewohnern offensichtlich sehr beliebt gewesen.
„Das Grab des Gründers seh’ ich ganz in Flammen stehen“, zitierte der Princeps einen griechischen Vers. Verwundert sah ihn Trasyllos, sein ahnungsloser Begleiter, an, und sogleich fuhr der Kaiser fort: „Siehst du der Fackeln Glanz zu Ehren Masgabas?“ Aber der Grieche konnte sich auf die Worte seines Herrn keinen Reim machen.
Zeitlebens war, wie gesagt, der Princeps um seine schwächliche Gesundheit besorgt gewesen, hatte er sich jede Beschränkung auferlegt, um das Ende möglichst lange hinauszuzögern. Jetzt, im Angesicht des Todes, zeigte er einen verblüffenden Leichtsinn. Er kümmerte sich nicht um seinen angegriffenen Zustand, als ginge ihn dieser nichts an. In erstaunlicher Gelassenheit verbrachte er mehrere Tage in seinem Palast. Wieder und wieder wandelte er durch Gänge und Zimmerfluchten, um Abschied zu nehmen, und ließ sich endlich, den Blick sehnsüchtig rückwärtsgewandt, wieder aufs Festland übersetzen, um dort noch manche Stadt mit seinem Besuch zu erfreuen.
Zum letzten Mal riefen ihn die Pflichten des Staatsoberhaupts. Sein Darmleiden hatte sich verschlimmert, und doch wohnte er, als wäre alles gut, den gymnastischen Spielen in Neapolis bei, die dort alle vier Jahre zu seinen Ehren veranstaltet wurden. Dann endlich konnte er daran denken, seinen „Sohn“ Tiberius, wie versprochen, nach Benevent zu begleiten. Von dort aus gedachte er nach Rom zurückzukehren. So es dem Willen der Götter entsprach.
Aber er kam nur bis Nola, Nola in Campanien, wo sich sein Elternhaus befand. Von Stunde zu Stunde verschlechterte sich jetzt sein Zustand. Besorgt rief Livia, Augustus’ langjährige Gefährtin, die wahre Herrscherin Roms, ihren Sohn Tiberius zurück. Doch hat er den Stiefvater wirklich noch lebend angetroffen? Darüber streiten seit 2.000 Jahren die Gelehrten.
Der Nachfolger sei zu spät gekommen, behauptet Tacitus. Aber Livia habe das vor Hofstaat und Volk geschickt verheimlicht. In weiser Voraussicht nämlich habe sie Straßen und Haus stark besetzen lassen, um den Tod des einen und die Nachfolge des anderen gleichzeitig bekannt zu geben. Sueton hingegen, der Skandalreporter der frühen Kaiserzeit, ist ganz sicher, dass zwischen Vater und Sohn noch jenes letzte klärende Gespräch stattfand, nach dem Augustus das arme römische Volk bedauert habe, das nun von so langsamen Kinnbacken zermalmt würde.
War es diese Version, die auch der offiziellen Hofberichterstattung entsprach? Konnte sich Tiberius auf diese Weise nicht auf geheime Anordnungen seines Vorgängers berufen und sie jeder Nachprüfung entziehen, wenn es unliebsame Maßnahmen zu treffen galt? Denn gerade an ihnen sollte zumindest zu Beginn seiner Herrschaft kein Mangel sein.
Auch in Campanien flirrte der Sommer. Der 19. August war angebrochen. Man schrieb das 766. Jahr nach Gründung der Stadt. Spätere Geschlechter würden vom Jahr 14 der neuen Zeitrechnung sprechen.
Augustus, der merkwürdige Greis, ist sich bis zuletzt treu geblieben. Er ist jetzt 76 Jahre alt, und das Wunder seines vom Schicksal reichlich bemessenen Lebens wird von jedermann im Reich bestaunt. Nahezu alle seine Weggefährten hat er überlebt. Jetzt endlich wartet der Tod auch am Bett dieses Kranken, den jener so lange vergessen zu haben scheint.
Sanft schlummert der alte Mann auf demselben Lager, auf dem vor Jahrzehnten sein Vater gestorben ist, seinem Ende entgegen. Auf einmal schrickt er auf und beklagt sich, er werde von 40 Jünglingen weggetragen. „Haben sich vor dem Haus schon viele versammelt?“, will er von der Frau an seiner Seite wissen, die er wie keine andere gehasst und geliebt hat. Dann verlangt er einen Spiegel. Er bittet, ihm das Haar zu kämmen und die Wangen zu heben. Auch dem Tod, dem letzten aller Feinde, muss man würdig gegenübertreten. Bei den Freunden, die sein Sterbelager umstehen, erkundigt er sich, ob er die Komödie seines Lebens gut gespielt habe.
Und, wie es auf der Bühne Brauch ist, fügt auch er, der große Schauspieler, die Schlussformel hinzu:
„Wenn es euch gefallen, gewähret Beifall diesem Spiel.
Und dankend lasst uns alle dann nach Hause gehen.“
Dann verabschiedet er sich von allen und wendet sich sterbend der Frau zu, die mehr als 50 Jahre an seiner Seite verbracht und sein Leben schicksalhaft begleitet hat:
„Livia, bleibe immer unserer glücklichen Ehe eingedenk und lebe wohl!“
Jetzt erst darf Augustus tot sein. Tiberius hat die Nachfolge angetreten, der düstere Claudier, der Menschenfeind. Stafettenreiter werden hinaus ins Reich eilen und die Nachricht allen verkünden. Und in Rom wird auf dem Marsfeld bald der Scheiterhaufen lodern, und Numerius Atticus, ein ehemaliger Prätor, wird bei Eid aussagen, er habe die Seele des Verstorbenen hinauf in den Himmel fahren sehen (und von Livia dafür eine stattliche Belohnung erhalten). So sind Augustus Tempel und göttliche Ehren gewiss.
Der neue Erbe, der, wehmütig beschworen, vor Menschengedenken von den Göttern herabgestiegen war, ist endgültig in seine himmlischen Sphären zurückgekehrt.
Der alte Mann von Capri – Tiberius
14–37 n. Chr.
Als der junge Agrippa Postumus begriff, dass es kein Entrinnen gab, dass die Henkersknechte des verhassten Alten im fernen Rom kein Erbarmen kannten und niemals seinem Zauber erliegen würden, beschwor er mit ermattenden Kräften alle Flüche des Schicksals auf Tiberius’ blutbeflecktes Haupt herab. Er sagte ihm den schrecklichsten aller Tode voraus, weissagte ihm jahrelange Einsamkeit und Menschenangst und schließlich den langsamen Fall von geduldiger Mörderhand.
„Ich sehe Tiberius“, hauchte er, „er wünscht zu sterben und wird nicht sterben können. Und doch hat er Angst vor dem Tod. Ich sehe ihn, von weit her kommend, vor den Toren Roms verharren und auf verschlungenen menschenleeren Pfaden um die Mauern der Ewigen schleichen, vom Ort seiner gemeinsten Verbrechen angezogen und abgestoßen zugleich. Sehe ihn zitternd vor Furcht auf immerwährender Flucht.
Flüstern höre ich das Volk der entsetzten Quiriten: Biberius nennen sie ihn, den Trinker. Selbst der Tod fürchtet sich vor ihm, sagen sie, selbst der Tod. Unbeweint wird er in das Reich der unterirdischen Schatten eingehen. Und mancher wird fordern, den faulenden Leib in der schlammigen Flut des Tibers zu versenken, ‚Tiberium in Tiberim‘, auf dass er, im Leben umgetrieben vor Angst, auch im Jenseits keine Ruhe fände.“
Er weigere sich im Übrigen zu glauben, schleuderte der Junge seinen Mördern entgegen, sein Großvater, der weise Augustus, habe diesen Tod gefordert. Denn bei aller Strenge sei dieser doch nie so weit gegangen, einen Angehörigen seiner Gens vorzeitig den Geistern der Unterwelt zu weihen. Zumal auch vor einigen Wochen erst zwischen Augustus und ihm jene klärende Aussprache stattgefunden habe, die man zu Recht als Versöhnung werten könne.
Schwer lastete der Septemberhimmel über der Gefangeneninsel Planasia. Früher als sonst hatte der Herbst seine Vorboten geschickt, stundenlange Regenfälle und Sturm, der die ausladenden Kronen der Schirmpinien wanken ließ. Der Gesang der Zikaden war schon lange verstummt. Die Natur hatte sich längst zur Ruhe begeben.
Mit dem Mut der Verzweiflung war Postumus, der so genannt wurde, weil er erst nach dem Tod seines Vaters zur Welt gekommen war, seinen Henkern entgegengetreten. Er hatte in die Augen von Männern geschaut, deren wahre Heimat das Schlachtfeld war, der graue Himmel Germaniens oder die Steinwüsten an Illyricums zerklüfteter Küste. Er hatte gesehen und begriffen.
Also beugte Augustus’ tapferer Enkel das lockengekrönte Haupt, sodass er nicht ohne Würde von dannen ging.
Schon haben diejenigen, die Zeugen dieses Trauerspiels geworden sind oder auch nur davon vernommen haben, dem neuen Kaiser ewige Rache geschworen. Schon ruft der Senator Lucius Scribonius Libo alle aufrechten Römer zum Umsturz auf. An jeder Mauer, an jedem Stein finden sich Schlagworte von Freiheit und Republik. Selbst unter den Soldaten, die in den entferntesten Reichsteilen stationiert sind, brechen Unruhen aus, deren Nachhall das Imperium in seinen Grundfesten erschüttert.
Allenthalben aber geistert nächtens der ruhelose Jüngling umher, das bluttriefende Haupt unter den rechten Arm geklemmt, eine schauerliche Erscheinung und doch in seiner Unschuld Mitleid heischend, und ruft Jung und Alt auf, für das ihm widerfahrene Unrecht Vergeltung zu üben und sein unschuldig vergossenes Blut zu rächen, wie es Römerbrauch ist.
Blumenbekränzt prangen des Morgens seine Standbilder, taubenetzt und von der Sonne erwärmt, ein jugendlicher Heros und Gott, während man des Kaisers griesgrämig blickende Konterfeis besudelt und zerschlagen findet. Hunde verrichten daran ihre Notdurft. Knaben treten achtlos auf den zerstreuten Trümmern herum. Als man neulich gar auf dem Kopf einer Statue des Augustus-Nachfolgers ein umgestülptes (benutztes!) Nachtgeschirr entdeckte, brach Rom darüber in offene Heiterkeit aus. Seitdem freilich hat der Herr vom Palatin die nächtlichen Sicherheitskontrollen verschärft. Aber die Römer kennen viele Wege, dem verhassten Mann dennoch ihre Verachtung zu zeigen. Was niemand wissen kann: Rom wird noch manche Jahre auf sein Ableben warten müssen.
Zu weiteren Schritten kann sich der erste Mann im Staate im Augenblick nicht durchringen. Angstgelähmt von den heftigen Reaktionen, die Agrippas heimtückische Ermordung ausgelöst haben, zieht er sich ins Innere seines Palastes zurück, sodass schadenfrohe Zungen behaupten, schon beginne der Fluch des kaiserlichen Enkels zu wirken …
Noch hatte sich der Winter nicht endgültig auf das gebirgige Festland zurückgezogen. Schon in wenigen Tagen würden sie drüben das Fest der Liberalia feiern, und die Römer würden ihren herangewachsenen Knaben in feierlicher Zeremonie die Männertoga anlegen und sie in den Kreis der erwachsenen und damit wehrpflichtigen Männer aufnehmen. Aber das würde er wohl nicht mehr erleben, denn, nun ja. Es war offensichtlich: Die Götter hatten seine Tage gezählt. Und das war gut so. Hatte nicht sein berühmter Vorfahr Gaius Iulius mit dem Beinamen Caesar kurz vor seinem Tode gesagt, sein Leben sei lang genug gewesen, sowohl an Jahren als auch an Ruhm? Was die Jahre betraf, konnte er, Tiberius aus dem berühmten adelsstolzen Geschlecht der Claudier, mehr als mithalten, sogar mit seinem Vorgänger, dem vergöttlichten Augustus, dessen Leben ebenfalls nie zu enden schien. Beim Ruhm freilich …
Der alte Mann stand sinnend am Fenster der Villa Jovis auf Capri und blickte auf das türkisgrüne Wasser hinab. Viele Jahre waren vergangen, seit sein Schiff dort unten angelegt hatte, der einzigen Stelle der Insel, die es erlaubte, Menschen an Land zu lassen. Wie viele Jahre? Er erinnerte sich nicht. Verwundert hatte damals das Volk der Quiriten seinen Weggang von Rom verfolgt. Aber ein Vorwand für die Reise, eine Reise ohne Wiederkehr, wie nur er selbst ahnte, war schnell zur Hand: Galt es doch, in Capua einen Jupitertempel einzuweihen und im campanischen Nola einen für Augustus, der dort gestorben war. Dann der Entschluss, nach Capri überzusetzen, dem sonnigen Felsen, den sein Vorgänger einst gegen das weniger reizvolle Ischia von Neapel eingetauscht hatte. Nur er und die unsterblichen Götter konnten damals wissen, dass er nie mehr nach Rom zurückkehren würde. Hatte er nicht Inseln schon geliebt, als er noch nicht Princeps war? Waren sie, meerumspült und felsenbewehrt, nicht die einzigen Orte, die ihm Abstand und Sicherheit boten und ihn vor den Menschen schützten, an denen ihm immer weniger lag, an denen er immer mehr litt?
Freunde? Er hatte nie welche gehabt. Früher mochte das nur an seinem unnahbaren Wesen gelegen haben, später auch an der Tatsache, dass er Princeps war, Kraft der ungeschriebenen römischen Verfassung über allen anderen stand und schon durch seine einzigartige Stellung zu lebenslanger Einsamkeit verdammt war. Die Götter allein wussten, wie sehr er sich manchmal wünschte, dass alles anders wäre.
Es war Zeit, dieses nie zu enden scheinende Leben zu überdenken. Er wusste, dass man ihm seit langem Gift verabreichte, Gift in kleinen Dosen, das auch seine Existenz in kleinen Dosen vernichtete, Geist, Seele und Leib. Stunde um Stunde starben sie ein wenig mehr. Aber stirbt der Mensch nicht ohnehin mit dem Augenblick seiner Geburt, ja, wenn man gewissen Philosophen folgen wollte, sogar mit der Zeugung im Mutterleib?
Der alte Mann lächelte gequält. Was spielten solche Spitzfindigkeiten jetzt noch für eine Rolle? In wenigen Tagen würde er zum letzten Mal aufs Festland übersetzen, und er würde nicht mehr an seinen Zufluchtsort zurückkehren. Auch bis Rom würde er als Lebender nicht mehr kommen, ohne freilich darüber unglücklich zu sein. Verband er doch mit der Stadt seiner Geburt, seiner Siege und mehr noch seiner Niederlagen nicht die angenehmsten Erinnerungen. Die Unbeliebtheit beim Volk, die starke Mutter, die nie aufgehört hatte, sich in sein Leben einzumischen, der Stiefvater, der ihm über so viele Jahre nichts als Verachtung entgegengebracht hatte. Das Andenken an die Frau schließlich, die er als einzige in seinen 78 Jahren wirklich geliebt hatte: Vipsania Agrippina, von ihm preisgegeben, ja geopfert zu Gunsten einer zweifelhaften Staatsräson.
Nein, er sehnte sich wahrhaftig nicht nach der vielgerühmten Roma, nach dem Geschrei ihrer Gassen, dem Gestank ihrer Märkte und der Arroganz ihrer senatorischen Oberschicht. Wie klug war es doch von ihm gewesen, wenigstens ihnen, den stets auf ihren Vorteil bedachten Stadtvätern, gelegentlich zu zeigen, wer der eigentliche Herr im Hause war. Er hatte die Prozesse wegen Majestätsbeleidigung erfunden, und es hatte sich gezeigt, dass viele Patrizier sich dieses Verbrechens schuldig gemacht hatten.
Der Kaiser ließ den Blick über das ruhige Meer schweifen, einen wehmütigen Blick voll Sehnsucht und verhaltener Trauer.
Es galt also, für immer Abschied zu nehmen von all diesen Stätten, die ihm auf dem Felsen teuer geworden waren, den schroffen Schluchten, die viele seiner Feinde verschlungen hatten, den blühenden Gärten, die sein Herz erfreut, und den dunkelgrünen Orangenhainen, deren Düfte seine Sinne berauscht hatten. Er würde sie nicht wiedersehen. Er würde sie hinter sich lassen, wie er das Rauschen des Meeres hinter sich ließ, den unermüdlichen Gesang des Windes und alle Gerüchte, die sich um seine Person rankten, seinen angeblich unersättlichen Geschlechtstrieb, seine zum Himmel schreiende Wollust und die angeborene Grausamkeit.
Ja, was glaubten sie denn? Hatte er, Kaiser des mächtigsten Reiches, das die Welt jemals sah, es nötig, ausgerechnet im Alter jenen perversen Lastern zu verfallen, die ihm die Römer nur allzu bereitwillig andichteten? Was hätte er davon, Knaben als „Fischlein“ abzurichten und Scharen von nackten Mädchen und Lustknaben in seiner Anwesenheit miteinander schlafen zu lassen, wo doch seine, des Kaisers Manneskraft längst erschlafft war? Er war kein Idiot. Er wusste sehr genau, dass ihn noch so lüsterne Spielchen nicht zum Jüngling gemacht hätten. Er trug sein Alter, wenn auch so, wie er sein ganzes Leben getragen hatte: wie ein Kreuz.
Die Grausamkeit, gewiss. Er war nicht mehr und nicht weniger grausam, als es seine Vorgänger gewesen waren, war es nur, um sich und das Reich zu schützen vor Unruhe, Umsturz und zerstörerischem Verrat.
Und dennoch würden die Geschichtsschreiber kein gutes Haar an ihm lassen. Er würde nicht, wie weiland der vergöttlichte Augustus, sein ungeliebter Stief-, Adoptiv- und Schwiegervater, in den römischen Götterhimmel aufsteigen, denn schwerlich würde sich einer von Roms Noblen dazu herablassen, den Aufstieg der Seele des Verstorbenen unter Eid zu bezeugen.
Aber ein Unglück wäre auch das nicht. Er kam aus dem Unbewussten, dem Nichts, und er würde wieder dorthin zurückgehen – immerhin in der Gewissheit, endlich Ruhe zu finden, auch die vor sich selbst.
Die Hafenstadt Misenum hatte dem ersten Mann des Reiches einen kühlen Empfang bereitet.
Nirgendwo hatten sich Menschen zu seiner Begrüßung eingefunden. Nur ein paar Stadtväter waren erschienen, den Kaiser in ihren Mauern willkommen zu heißen, wie es ihre Pflicht war.
Wie gut, dachte Tiberius, dass ich meinen ursprünglichen Plan im letzten Moment geändert habe, so kurz vor dem Ziel! Aber konnte ich denn anders? Haben mir die Götter nicht unmissverständlich zu verstehen gegeben, mein Vorhaben zu überdenken? Womöglich hätte mich der römische Mob in Stücke gerissen. Nein, diesen Triumph gönne ich diesen Quiriten nicht. Der lebende Tiberius soll ihnen nicht in die Hände fallen. Mit dem toten mögen sie verfahren, wie es ihnen beliebt.
Nur wenige Kilometer vor den römischen Mauern hatte der Princeps erschrocken festgestellt, dass die zahme Schlange, mit der er, sehr zum Entsetzen seiner Umwelt, so gern gespielt hatte, in ihrem Korb von Ameisen aufgefressen worden war. Sofort hatte er Umkehr befohlen, wollte sich wieder auf die schützende Insel zurückziehen. Aber in Misenum hatte den Greis ein so heftiges Fieber befallen, dass an eine Seereise nicht zu denken war, zumal sich das Meer äußerst launisch zeigte. Stürme peitschten haushohe Wellen, dann lag alles wieder friedlich da, um Mann und Maus im nächsten Augenblick zu verschlingen.
„Gaius Caligula“, flüsterte der Alte, als sich sein Großneffe vorsichtig dem Krankenlager näherte. „Man berichtet mir, du habest dich bereits allen als mein Nachfolger empfohlen. Wie lange ich davon weiß? Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Ich habe dich nur deshalb entkommen lassen, weil ich den Römern einen Gaius gönne.“ Er zog bedächtig einen Ring vom Finger, betrachtete ihn lange, sah auch dem Jungen fest in die Augen, ballte die Fäuste und steckte das Juwel wieder an seine Hand. Dann schickte er die Diener hinaus und blieb mit dem jungen Verwandten allein.
„Mein Neffe, dein Vater Germanicus, hat mir keine Wahl gelassen: Als ich begriff, dass er bei den Römern immer beliebter wurde, musste ich eingreifen. Konnte ich denn zusehen, wie er langsam, aber sicher, die Macht ergriff? Und auch seine beiden älteren Söhne, deine Brüder, haben mir im Weg gestanden. Das Imperium Romanum ist, wie du noch selbst erfahren wirst, nicht groß genug für mehrere Caesaren. Schließlich deine aufsässige Mutter Agrippina. Oh diese Agripp…“
Ein heftiger Hustenanfall schüttelte den mageren Leib. Dann war Tiberius plötzlich verstummt, und es schien, als wäre alles Leben aus seinen Adern gewichen. Das Gesicht des Alten war zu einer grinsenden Maske gefroren. Ungläubig starrte Gaius auf die erstarrten Züge. Dann breitete sich Erleichterung über sein Gemüt. Schon beugten die hereinströmenden Diener das Knie. „Heil dir, Caesar! Heil unserem Kindchen, unserem Hühnchen, heil dir, Gaius Caligula, neuer Stern am römischen Staatshimmel!“
Doch kaum war der erste Jubel verstummt, schlug Tiberius die Augen auf. Nach Essen verlangte der alte Mann, nach einem Festmahl, um seine Wiederauferstehung zu feiern.
Aber Caligula hatte bereits an der Macht geschnuppert, hatte ihren Atem in sich aufgesogen und war augenblicklich davon vergiftet worden.
Geistesgegenwärtig griff er nach einem fülligen Kissen und drückte es dem Großonkel fest auf Nase und Mund, um dem Tod ein wenig zur Hand zu gehen …
„Mögen Mutter Erde und die unsterblichen Götter dir einen Platz unter den Verdammten bereit halten!“, begrüßte das Volk den in Rom eintreffenden Leichnam.
Und es scheint, als hätten die Himmlischen die unfrommen Gebete erhört.
Noch nach zwei Jahrtausenden geistert Tiberius Claudius Nero als misstrauisch, finster und menschenscheu durch die Geschichtsbücher der abendländischen Welt, als der, unter dessen unseliger Herrschaft der Sohn Gottes den Kreuzestod erlitt und für den es deshalb keine Erlösung geben kann.
Gaius Caesar, genannt Caligula
37–41 n. Chr.
Längst war sein Anblick den meisten Römern verhasst. Von dem „Kindchen, Hühnchen und Sternchen“, das vor nicht einmal vier Jahren seinen Einzug in Rom begleitet hatte, war nicht viel übrig geblieben, und mancher gedachte zustimmend der Worte des sterbenden Vorgängers, Gaius sei zu seinem, Tiberius’, Verderben und zum Verderben aller am Leben geblieben.
In unheilvoller Weise hatte sich in Caligulas Adern das Blut seiner Vorfahren vermischt, das seines Urgroßvaters Augustus und das von Marcus Antonius, der einst Augustus’ größter Widersacher und Rivale um das Imperium gewesen war.
Dabei hatte alles so hoffnungsvoll begonnen. Da hatte ein hochmotivierter Jüngling den Römern den Himmel auf Erden versprochen, und man war nach der Schreckensherrschaft eines Tiberius nur allzu leicht geneigt, seinen Beteuerungen Glauben zu schenken. Da wurden Verbannungsdelikte aufgehoben, fern der Heimat Ermordete in pietätvoller Zeremonie nach Hause geholt. Mutter Agrippina und die ermordeten Brüder wurden im Familienmausoleum am Tiber zur letzten Ruhe gebettet. Da erfuhren die Schwestern Ehrungen, die bislang im Römerreich für Frauen ohne Vorbild waren.
Sein Kosename, Caligula, der ihm im Soldatenlager seines Vaters gegeben worden war, weil er dort schon als Dreijähriger in viel zu großen Soldatenstiefeln, den caligae, herumgestapft war, klang fast zärtlich durch die römische Stadt. Aber es sollte nicht lange dauern, bis sich Gaius Caesar diese Liebkosung verbat.
Denn bald ließ „Stiefelchen“ seinen wahren Charakter erkennen. Viele Jahre seiner elternlosen Jugend hatte er am Hof des Tiberius auf Capri verbracht, hatte mit steigendem Vergnügen Folterungen und Hinrichtungen beigewohnt und endlich seine angeborene Lust an gemeinem Genuss und Grausamkeit entdeckt. Im Schutz von Perücken und wallenden Gewändern hatte er nächtens Bordelle und übel beleumdete Kneipen aufgesucht und harmlose Passanten überfallen, um sein erhitztes Gemütchen zu kühlen. Kaum war er auf den Thron gelangt, hatte in Rom das endlich überwunden geglaubte Morden wieder begonnen, die staatliche Willkür, schrecklicher noch als unter Tiberius, die keinen verschonte, in jede Bauernkate, jede Bürgerstube drang und selbst vor den ältesten Adelshäusern nicht Halt machte. Der Großonkel hatte sich als ausgezeichneter Lehrmeister erwiesen, Caligula als äußerst gelehriger Schüler. Bald kursierte ein geflügeltes Wort durch die Stadt, es habe niemals einen besseren Sklaven und nie einen schlechteren Herrn gegeben.
„Oh hätte doch dieses Volk einen einzigen Hals!“, rief der Kaiser aus, als das Publikum während eines Rennens im Zirkus einen anderen Favoriten hatte als er selbst. „Oderint dum metuant! – Mögen sie mich hassen, wenn sie mich nur fürchten!“ wurde die Maxime seines Handelns.
Hatte Stiefelchen vielleicht den Verstand verloren? Oder waren es Spuren der Epilepsie, an der er in seiner Jugend gelitten haben soll? Niemand konnte sich den Sinneswandel erklären. Was aber sollte man von einem Kaiser halten, der während eines Festmahls mit Blick auf die beiden Konsuln, die neben ihm lagen, plötzlich in wahnsinniges Gelächter ausbrach und auf die Frage, was ihn denn so erheitere, antwortete: „Ich denke gerade daran, dass ich die Macht habe, euch die Kehlen durchschneiden zu lassen.“ Oder an jede Frau, die er küsste, die Worte richtete: „Auch dieser schöne Kopf wird fallen, wenn ich es wünsche.“
Schwere Krankheit hatte ihn gezeichnet. Als er sich leidlich davon erholte, war Caligula auch äußerlich ein anderer geworden. Er war für einen Römer ungewöhnlich groß, mit blassem Gesicht und magerem Hals über einem plumpen Leib, der auf spindeldürren Beinen schaukelte. Die Augen eingefallen und die Stirn breit und finster. Er hatte eine Glatze, war ansonsten aber wie ein Tier behaart. „Die Ziege kommt“, flüsterte der Mob, wohl wissend, dass solche Dreistigkeit mit Lebensgefahr verbunden war. Denn die kaiserlichen Spitzel hatten ihre Augen und Ohren überall.
Caligula wusste selbst um seine Hässlichkeit. So sehr sie ihn auch verdrießen mochte, versuchte er doch, seinem Gesicht einen noch wilderen Ausdruck zu verleihen.
Vor dem Spiegel stand Caligula, schreckliche Fratzen und Grimassen schneidend. An Schlaf war schon lange nicht mehr zu denken. Die Angst um sein Leben wuchs und mit ihr sein seltsames Gebaren. Bei Gewittern verkroch er sich unters Bett. Sollten ihn Frauengewänder, ein angeklebter goldener Bart, Blitz, Dreizack und Schlangenstab vor Unheil bewahren, in die Nähe der Götter rücken oder gar zum Unsterblichen machen? In den merkwürdigsten Verkleidungen tanzte Roms erster Mann durch den Palast.
Für keinen überraschend kam schließlich Caligulas Rendezvous mit dem Tod. In Olympia begann das riesige Jupiterstandbild zu lachen, als es Arbeiter im Auftrag des Kaisers abbauen und nach Rom schaffen wollten. Blitzeinschläge auf dem Kapitol in Rom kündigten Unheil für das Kaiserhaus an. Auch der Astrologe Sulla, ein Meister seines Fachs, konnte Caligula nur ein baldiges gewaltsames Ende vorhersagen. Zuletzt wurde das Orakel von Antium, der Stadt, in der Caligula geboren war, befragt. Dort wurde ihm empfohlen, sich vor einem gewissen Cassius in Acht zu nehmen. Daraufhin gab er den Befehl, Cassius Longinus, den Statthalter von Kleinasien, zu ermorden. Aber auch diese Vorsichtsmaßnahme rettete ihn nicht vor dem Tod.
Denn ein anderer Cassius fühlte sich berufen, Stadt und Reich von diesem Scheusal zu befreien.
Die Prätorianer, zum Schutz der Majestät angetreten, hatten genug. Cassius Chaerea, Tribun einer Prätorianerkohorte und ein altgedienter Soldat, der noch nie vor einem Gegner zurückgeschreckt war, hatte sich viel von Gaius gefallen lassen müssen. Zu viel? Chaereas Geduld war jedenfalls erschöpft.
Zu dieser Zeit wurden in Caligulas Geheimarchiv auch zwei Büchlein gefunden, die die Titel „Schwert“ und „Dolch“ trugen. Sie enthielten die Namen und (angeblichen) Verbrechen der vom Kaiser zum Tode verurteilten Senatoren und Ritter. Eile war daher geboten.
Um die Mittagszeit beschloss der Kaiser, die Theateraufführungen, die er seit den Morgenstunden aufmerksam verfolgte, vorübergehend zu verlassen, um sich zum Essen in den Palast zu begeben. In dem Korridor, den er auf seinem Weg durchqueren musste, traf er auf eine Gruppe vornehmer Knaben, die sich gerade auf die nächste Aufführung vorbereiteten. Er blieb stehen, um ihnen zuzusehen und einige ermunternde Worte an sie zu richten. Da traten plötzlich Cassius Chaerea und Cornelius Sabinus an ihn heran. Dieser bat um Bekanntgabe der Tageslosung. „Jupiter!“, sagte Gaius zutreffend. Darauf rief Chaerea aus: „So sei’s denn erfüllt!“ Als sich der Kaiser umwandte, spaltete ihm ein Schwerthieb das Kinn.
Auf dem Boden wälzt sich schmerzverzerrt Caligula und schneidet die vor dem Spiegel tausendfach eingeübten Grimassen. „Ich lebe ja noch!“ Weitere Hiebe folgen. Ein Schwert dringt ihm sogar durch die Schamteile.
Auf die Hilferufe der Sänftenträger eilt die germanische Leibwache herbei. Sie kommt zu spät. Die Mörder werden nun ihrerseits niedergemacht. Mit ihnen sterben mehrere Senatoren, die von den Attentätern nie in ihre blutigen Pläne eingeweiht worden sind.
Halb nur wird Caligulas Leiche auf dem eilig errichteten Scheiterhaufen in den Gärten des Lamia verbrannt. Die Reste werden unter einer leichten Rasenschicht verscharrt. Erst später werden seine beiden aus dem Exil heimgekehrten Schwestern sie ordnungsgemäß verbrennen und im Familienmausoleum bestatten.
Bis dahin aber wird Caligulas Geist keine Ruhe finden. Keine Nacht wird in dem Raum, in dem er erschlagen wurde, ohne Spuk vergehen, und Gespenster werden Lamias Parkwächter nächstens erschrecken und in die Flucht schlagen.
Und es wird lange dauern, bis auch das Volk von Caligulas Tod überzeugt sein wird. Kann es nicht sein, dass Gaius selbst das Gerücht seiner Ermordung in die Welt gesetzt hat, um die Gesinnung seiner Untertanen zu prüfen? Kann es nicht sein, dass er sich furchtbar rächen wird an all denen, die ihm die Gefolgschaft aufgekündigt haben? Vorsicht ist geboten. Gewissheit wird es erst geben, wenn den Römern ein neuer Caesar präsentiert wird.
Noch ahnt niemand, wen dieses Schicksal ereilen soll.
Ein Trottel namens Claudius
41–54 n. Chr.
War er wirklich geistig so zurückgeblieben, dass seine Mutter mit Recht von einer „Missgeburt von einem Menschen“ sprechen konnte, den „die Natur nur begonnen und nicht vollendet“ habe? Oder gehörte er zu denen in Rom, die die Schauspiel- und Verstellkunst so meisterhaft beherrschten, dass sie damit ihre Umgebung über Jahrzehnte zu täuschen vermochten? Fest steht, dass der stotternde, ständig aus Mund und Nase triefende und mit dem Kopf wackelnde Nachfolger Caligulas, sein Onkel Claudius, von Kind an mit mancherlei Gebrechen behaftet war und am Hof des jungen Verwandten nur allzu bereitwillig die Rolle des Schwachsinnigen, des Hofnarren, übernahm, was ihm vermutlich das Leben rettete. Denn der grausame Neffe hätte ihn wohl kaum verschont, hätte er nur im Entferntesten geahnt, dass ihn ausgerechnet Clau…, Clau…, Claudius auf dem Thron beerben sollte. Aber auch er selbst hatte allenfalls zu hoffen gewagt, sein Leben zurückgezogen und unbehelligt in Gesellschaft seiner Bücher und wissenschaftlichen Schriften zu beschließen. Das Schicksal hatte es anders bestimmt. Fünfzig Jahre war Tiberius Claudius Drusus – so sein offizieller Name – alt, als ihn das Los traf, zum mächtigsten Mann der abendländischen Welt aufzusteigen und sich damit einen wichtigen Platz in den Annalen zu sichern.
Kaum hatte Claudius erfahren, dass Caligula erschlagen worden war, versteckte er sich hinter schweren Vorhängen, um wenigstens sein erbärmliches Leben zu retten, das er als so naher Angehöriger des verhassten Ermordeten bedroht sah. Vorhänge hatten ihn, als er noch jung war, bei öffentlichen Veranstaltungen vor den neugierigen Blicken der Römer verborgen, weil sich die Familie seiner schämte. Vorhänge würden ihn, so es den Göttern gefiele, auch jetzt vor den wütenden Prätorianern retten, die stampfend und grölend durch den Palast zogen und nach weiteren Opfern Ausschau hielten. Schon lag Caesonia erschlagen, Caligulas arglose Gattin, die für seine Gräueltaten nichts konnte, und der kleinen unschuldigen Tochter hatten sie den Kopf an einer Mauer zerschmettert.
Zitternd lauschte Claudius dem Klacken der nagelbewehrten Soldatenstiefel auf den Steinböden, ein Angst einflößender Gleichklang, der anschwoll, verharrte und schwand. Und er glaubte schon, die Gefahr überwunden zu haben und zumindest für den Augenblick entkommen zu sein. Suchen würden sie nach ihm nicht. Dafür war er zu unwichtig.
Doch noch wagte er sich nicht aus seinem Versteck. Noch fürchtete er, sein unkontrollierbares Zittern, das Klappern der Zähne, die hart aufeinander schlugen, könnte man hören. Aber der Spuk war wohl vorüber, so glaubte er, als plötzlich, gleichsam aus dem Nichts, ein einsamer Soldat auftauchte, ein Nachläufer gewissermaßen, der den Anschluss an die Horde verloren hatte. Wieder das Klacken der Nägel auf dem steinernen Untergrund. Wieder das Furcht einflößende Geräusch, das anschwoll, verharrte und diesmal nicht schwand.
„Ei, wen haben wir denn da?“ Der Prätorianer sah Claudius’ Schuhe unter dem Vorhang hervorspitzen, trat näher und riss den Stoff beiseite. Für einen Augenblick blieb dem Behinderten das Herz stehen. Gewiss, sein Leben war nicht angenehm gewesen, und dennoch! Er hatte es geliebt, mit allen seinen Unzulänglichkeiten. Hatte in den Wissenschaften Zuflucht und ein wenig Trost gefunden und sich mit der Familiengeschichte, an der er gerade gearbeitet, die er bis in Einzelheiten erforscht hatte und die Teil der römischen Geschichte war, in Fachkreisen sogar eine gewisse Anerkennung erworben. Offensichtlich hatten die Menschen gar nichts begriffen. Er war keineswegs der Familiendepp, den er schon so lange nur allzu überzeugend spielen musste. Und selbst seine körperlichen Gebrechen waren eher Anzeichen von ungeheurer Anspannung, ja, Nervosität. Er war Claudius, Sohn des unvergessenen Drusus, eines der fähigsten und beliebtesten römischen Heerführer aller Zeiten, der allerdings schon vor Jahrzehnten im Feindesland umgekommen war und an den er sich nicht erinnern konnte.
Claudius schaute, noch immer gelähmt vor Angst, dem vor ihm stehenden jungen Mann in die Augen und entdeckte dort eine Furcht, die der seinen glich. Doch plötzlich fiel sein Gegenüber auf die Knie, das gezückte Schwert noch immer in der Hand. „Heil dir, Imperator! Heil dir, Claudius Caesar Augustus!“
Hören diese Demütigungen denn nie auf?, dachte Claudius, und er schüttelte unwillig den Kopf. Doch schon waren die anderen Prätorianer zurückgekehrt, um ihn ebenfalls als neuen Herrn des Imperiums zu begrüßen. Sie setzten den noch immer verängstigten Mann in eine Sänfte und trugen ihn in ihr Lager. Was sollte das? Wurde er etwa zur Hinrichtung geschleppt? Welche Schandtat hatte man sich denn wieder für ihn ausgedacht. Wenn er schon sterben sollte, warum nicht gleich, warum nicht hier? Selbst die Menschen auf der Straße steckten die Köpfe zusammen. Hatte der arme Narr noch nicht genug gelitten?
Aber die Prätorianer, sich ihrer Macht, Kaiser zu stürzen und Kaiser zu machen, mittlerweile bewusst, machten keine Anstalten, Claudius umzubringen. Immer wieder versicherten sie ihn seines neuen Ranges. Doch erst als Agrippa, König der Juden, der mit ihm seit ihrer beider Kindheit befreundet war und gerade in Rom weilte, ihn ermunterte, sich nicht länger zu sträuben, gewöhnte sich Claudius an seine neue Rolle und begann, sich als Herrscher zu fühlen …
Die Nacht war kalt. Der Herbst hatte längst Einzug gehalten und ließ einen langen, rauen Winter ahnen. Es waren verschwommene Bilder, die vor seinen Augen erstanden, vage Erinnerungen, wie von Nebelschleiern verhüllt. Unter den vielen Gestalten, die sich ihm näherten, glaubte er, seinen Vater zu erkennen, ein Mann mit noch jugendlichen Zügen, der ihm freundlich zuwinkte und ihn einlud, näherzutreten. Drusus. Er sah Agrippina, seine vierte Ehefrau, die auf ihn zutrat, wallend weiß gewandet, ihr verführerischstes Lächeln um Lippen und Mund. Kein Wunder, dachte er, dass ich von allen Bewerberinnen gerade sie erwählt habe. Es hätte Schönere gegeben, gewiss. Und doch keine, in der sich Schönheit und Geist auf so geheimnisvolle Weise vereinten. Er hatte eine gute Wahl getroffen, davon war er nach wie vor überzeugt, wenn sie auch …
Nun ja, das Leben war ihm längst zur Last geworden, und er konnte es der noch immer attraktiven Frau nicht verdenken, wenn sie nach so vielen Jahren an seiner Seite den Wunsch verspürte, sich von ihm zu befreien. Soweit es an ihm lag, war er einverstanden. Er würde sich nicht wehren. Was nützte es auch? Er hoffte nur, der Tod würde ihm noch genügend Zeit lassen, dieses Leben, das so voller Überraschungen gewesen war, zu überdenken. Er müsste Schmerzen haben, aber er spürte nichts. Fühlte nur, wie sich das Gift langsam in seinem Körper ausbreitete und von ihm Besitz ergriff, eine wohlige Wärme verbreitend.
Der alte Mann lächelte. Das hier war kein Traum. Und kein zweites Gesicht. War es nicht eigenartig? Er sah sich schwebend über seiner Bettstatt, blickte hinab auf den eigenen gedunsenen Leib und in die starren Augen des Todes. Als ob ein Mensch fliegen könnte!
Aber er lebte ja noch. Locusta, Roms berühmteste Giftmischerin, verstand ihr Handwerk. Er hatte ihre Dienste gelegentlich selbst in Anspruch genommen, wenn es darum gegangen war, einen potentiellen Rivalen um die Macht oder eine der Kaiserin möglicherweise unliebsam gewordene Schönheit aus dem Weg zu räumen. Erst vor wenigen Tagen hatte er sie durch die weiten Flure des Palastes huschen und in Agrippinas Gemächern verschwinden sehen, und nicht einmal die aufwändige Verkleidung hatte ihn, den Kaiser, zu täuschen vermocht. Aber hatte er auch geahnt, wem dieser Besuch in Wirklichkeit galt? Welchen Zweck er verfolgte? Ein kurzer Verdacht war ihm zwar gekommen, aber er hatte den Gedanken gleich wieder verworfen. Nein, sicherlich war seiner klugen Frau, die schon lange die Regierungsgeschäfte übernommen hatte, weil sie ihm selbst lästig geworden waren, dem Princeps im Weiberrock, wie die Römer seine Agrippina ein wenig respektlos nannten, wieder einmal einer jener Verräter in die Hände gefallen, die im Interesse der Staatsräson rasch und möglichst unauffällig unschädlich gemacht werden mussten. Locusta hatte da ihre besonderen Mittel: Langsam, aber sicher wirkende Tröpfchen, geschmack- und geruchlos, die man leicht den Speisen zusetzen konnte, ohne dass der Betroffene etwas davon merkte, und die auch am Toten keine erkennbaren Spuren hinterließen.
Es musste am gestrigen Abend geschehen sein. Hocherfreut hatte ihm seine Gattin berichtet, sie habe den neuen Koch überreden können, ihm jenes Pilzgericht zuzubereiten, von dem sie wusste, dass es zu seinen Leibspeisen gehörte. Heißhungrig hatte er es verschlungen, als gälte es, sein Stelldichein mit dem Tod zu beschleunigen. Er hatte den ganzen Tag fast nichts zu sich genommen, hatte seit dem Sonnenaufgang Stunde um Stunde bei den Spielen verbracht, die auf ihn mit zunehmendem Alter eine immer stärkere Faszination ausübten. Eigens für ihn hatte man einige Hinrichtungen auf den frühen Tag festgesetzt, und es war ihm wie immer ein Genuss gewesen, dem Todeskampf so manchen Schwerverbrechers hautnah zuzusehen. Dem Sterben des Vatermörders, der, nackt an einen Pfahl gebunden, hungrigen Löwen ausgesetzt worden war. Der Kindsmörderin, die das Neugeborene in einem Fass ertränkt hatte und der nun das gleiche Schicksal widerfuhr. Dann dem Kampf der Gladiatoren, deren Aufgabe es war, möglichst viele Gegner niederzumachen und dabei selbst am Leben zu bleiben. Wilde Tiere endlich, die, seit Tagen ausgehungert, aufeinander gehetzt wurden und elend verbluteten. Spiele nur für ihn, den Kaiser. Und kein Vorhang, der ihn vor neugierigen Blicken verbarg. Niemand, der auf ihn sein kritisches Auge gerichtet hatte. Niemand, der sich seiner schämte.
Gleich nach dem Essen hatte ihn eine große Müdigkeit befallen. Er hatte sie zunächst auf den vollen Magen geschoben, auch wenn was er empfand anders war als die Erschöpfung nach dem übermäßigen Genuss schwerer Speisen, die er nur allzu gut kannte. Der Kopf war ihm plötzlich auf die Brust gesunken, und er hatte beschlossen, ein wenig zu ruhen und danach weiter zu essen. Er wollte sich noch an Agrippina wenden, aber da hatte ihm schon die Sprache versagt. Vier junge Sklaven hatten ihn dann auf eine Bahre gebettet und fortgetragen. Danach erinnerte er nichts.
Als er aus dem fast ohnmachtartigen Schlaf erwachte, fand er sich in seinem Privatgemach wieder. Am Fußende seiner Liegestatt kauerte seine Gattin, eine Schüssel mit frisch gekochtem Brei auf dem Schoß.
„Du musst essen, geliebtes Onkelchen, damit du wieder zu Kräften kommst!“, flötete sie. „Du hast gestern Abend das ganze Essen von dir gegeben, und ich habe angeordnet, dir mit einer Feder den Hals zu kitzeln, um dich zu erleichtern, wie du es gewohnt bist. Hat mein lieber Claudius etwa wieder zu hastig gegessen und zu viel in sich hineingeschlungen? Ich habe dich oft genug gewarnt. Du bist schließlich kein Jüngling mehr. Auch dein Leibarzt predigt dir immer wieder, du mögest dich bei Speise und Trank ein wenig mäßigen.“ Damit warf sie dem Leibarzt Xenophon, der sich ebenfalls am Lager des Sterbenden eingefunden hatte, einen vielsagenden Blick zu. „Aber nein!“, fuhr sie scheinbar tadelnd fort. „Mein Claudius weiß alles besser. Mein Claudius lässt sich nichts sagen. Er ist ja schließlich Kaiser und keinem Rechenschaft schuldig.“
Onkelchen! Wann hatte Agrippina ihn zuletzt so genannt? Die Erinnerung an seine Hochzeit mit der attraktiven Nichte rang ihm ein freundliches Lächeln ab. Er dachte an die Einwände der Senatoren, als er ihnen mitteilte, er beabsichtige, seine Nichte zu ehelichen, die zweimal verwitwete Iulia Agrippina, und mit ihr nach dem Tod der berüchtigten Messalina dem Reich eine Kaiserin zu geben, deren Ruf über jeden Zweifel erhaben war. Er erinnerte sich der Empörung, die seine neue Verbindung beim Volk ausgelöst hatte, waren doch Eheschließungen zwischen so nahen Verwandten bis dahin in Rom gänzlich unüblich gewesen. Und doch hatte sich die allgemeine Aufregung wieder gelegt, sobald man erkannt hatte, dass die resolute Frau ein Segen für Stadt und Reich war. Nur für ihn selbst hatte sich auch sie wie ihre drei Vorgängerinnen eher als Fluch erwiesen. „Es scheint, ich habe mit meinen Ehefrauen kein Glück!“, hatte er sich erst kürzlich bei seinem Kammerdiener beklagt, und es war leicht möglich, dass seine Unzufriedenheit auch der hohen Frau zu Ohren gekommen war und sie in Angst versetzt hatte. Angst, der oft unberechenbare Gatte könne in einem Anfall von Wut auch ihr nach dem Leben trachten, sodass es darauf ankam, seinen möglichen Absichten zuvorzukommen.
„Noch ein Löffelchen für meinen lieben Claudius!“ Erneut schob sie dem Mann eine Portion Brei in den Mund, ohne auf seinen stummen Protest einzugehen.
Der Kaiser verschluckte sich, hustete lange und ließ sich endlich völlig erschöpft in die Kissen zurückfallen. Er hatte die Sprache nicht wiedergefunden. Durch wildes Gestikulieren versuchte er, seiner Frau verständlich zu machen, wie schlecht er sich fühlte und dass er nicht gewillt war, auch nur einen einzigen weiteren Bissen zu sich zu nehmen. Heftig schüttelte er den Kopf.
Xenophon, der in Agrippinas Plan eingeweiht war, sah sie an und nickte zustimmend. In wenigen Minuten würde es soweit sein. In wenigen Minuten würde sich Agrippinas sehnlichster Wunsch erfüllen, und Nero, ihr über alles geliebter, wenn auch nichtsnutziger Sohn, würde endlich Kaiser sein. Ein schmutziges Morgenrot hüllte Rom in ein diffuses Licht. Dicht am Totenbett stand die Witwe, Trauer heuchelnd und ihr Schicksal beweinend. Sie hielt Claudius’ Sohn Britannicus fest umschlungen, als suche sie an ihm verzweifelt Halt in ihrem tiefen Schmerz. Ihr Klagegeschrei geisterte durch die Flure und weiten Zimmerfluchten.
Draußen indes präsentierte sich Nero dem Volk als neuer Kaiser Roms.
Zu seinen ersten Amtshandlungen wird es gehören, den soeben Verstorbenen unter die Götter zu erheben und seine sterblichen Überreste in pompöser Zeremonie im Familiengrab am Tiber zu bestatten. Erst später wird er die Welt wissen lassen, Pilze müssten eine Götterspeise sein, da sie seinen Adoptiv- und Schwiegervater so unverhofft zum Gott befördert hätten.
„… wenn er nur herrscht!“ – Der Tod Iulia Agrippinas
+ 59 n. Chr.
Der Anschlag auf ihr Leben war missglückt.
Wenn sie an die vergangenen Stunden zurückdachte und das Geschehen nochmals vor ihren Augen ablaufen ließ, soweit sie sich überhaupt zu erinnern vermochte, soweit ihr Angst und Entsetzen nicht die Sinne getrübt hatten, erschauderte sie vor dem, zu dem Menschen fähig sind.
Sie kannte ihn gut. Ihr „Früchtchen“ mochte andere narren als sie, Iulia Agrippina, Tochter des Germanicus und Witwe des vergöttlichten Claudius Augustus. Selbst die ihr am wenigsten gewogenen Geschichtsschreiber am Hofe ihres Sohnes konnten nicht umhin, ihr die Gabe eines scharfen Verstandes zu bescheinigen.
Hatte man je gehört, dass ein Schiff bei sternenklarer Nacht und fast gespenstisch ruhiger See keine fünf Meilen vom Festland entfernt plötzlich auseinanderbrach, ohne dass es auf Sandbänke gelaufen oder auf Riffe gestoßen wäre? Krachend war das Oberdeck eingebrochen, als hätte es ein gewaltiger, vom Himmel herabgefallener Felsen geteilt. Dann war mit nicht geringerem Lärm das Unterdeck geborsten. Wie auf ein verabredetes Zeichen hin waren alle Lichter erloschen. Dunkelheit und Schweigen allenthalben. Und einige Wimpernschläge lang die unergründliche, fast unheimliche Stille des Todes. Gluckerndes Wasser wie das Schmatzen riesenhafter Kraken, die mit gierigen Mäulern nach Beute schnappen. Und plötzlich Flammen, die an den sich schon neigenden Balken leckten und das Wasser um das Unglücksgefährt in wenigen Augenblicken in ein nächtliches Inferno verwandelten. Wimmern und Schreien von Verwundeten, Sterbenden oder nur Furchtsamen. Ein gigantisches Opfer für den Rossebändiger Neptun. Das Meer ein brennender Altar. Menschen das Opfervieh.
Wie durch ein Wunder waren sie und Acerronia, ihre langjährige Vertraute, geschützt von der gepolsterten Rückwand des Ruhebetts, auf dem sie gerade lagen, von den herabstürzenden Trümmern nur leicht verletzt worden und hatten sich mit vielen anderen treibend in den eiskalten Fluten wiedergefunden. Ihr war es gelungen, sich schwimmend in Ufernähe zu retten, wo sie, der Erschöpfung nahe, von mitleidigen Fischern aus dem Wasser gezogen, ihre Lebensgeister mit heißen Getränken geweckt, sie selbst in dicke Wolldecken verpackt und schließlich nach Hause gebracht worden war.
Arme Acerronia! In ihrer Verblendung hatte sie sich hilfesuchend an die Schiffsleute gewandt. „Rettet mich, ich bin die Mutter des Kaisers!“ So würdelos Agrippina dieses Schauspiel auch fand und so sehr sie die Freigelassene dafür verachtete, sie hatte doch ein gewisses Verständnis für die Angst eines Menschen in Todesgefahr.
Nicht lange waren die Hilferufe ihrer Freundin ungehört geblieben. Kaum hatte man sie unter treibenden Schiffsplanken, Bohlen, Kisten und Leichen erspäht, als man auch schon mit Stangen und Rudern auf sie einschlug, bis sie für immer verstummte. Hatte sie, Agrippina, nicht gut daran getan zu schweigen und so die Aufmerksamkeit von sich abzulenken, wenn auch beständig auf der Hut und auf das Schlimmste gefasst? Mit weit ausholenden Bewegungen ihrer kräftigen Arme war sie dem Unglücksort rasch entkommen, aber die stechende Kälte des Wassers hatte ihr bald alle Glieder gelähmt. Man schrieb erst den Monat des Mars. Glücklicherweise war sie zäh. Seit frühen Kindertagen beherrschte sie die Kunst des Schwimmens, das ihr Vater Germanicus beigebracht hatte, als sich ihre Familie noch hoch im Norden an den Ufern des Rhenus und im Glück befand. Wer den Fluten des reißenden Rheins widersteht, sagte man, wird sein Leben nicht in anderem Wasser verlieren.
Die Wunde an ihrer linken Schulter schmerzte, als hätte sich blankes Eisen in ihr verletzliches Fleisch gebohrt. Noch wirkte das beruhigende Heilmittel nicht, das sie sich selbst gebraut hatte. Wem konnte man in diesen schrecklichen Zeiten noch trauen? Aber bald würde es sich wie Balsam auf ihre gequälte Seele legen, die Mären der Nacht vertreiben und sie in sanften Schlummer wiegen.
Und doch! Die Angst in ihr wurde groß. Sie kannte ihn gut. War er nicht Fleisch von ihrem Fleische und Geist von ihrem Geist, Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus, ihr Sohn und Kaiser? Sie erinnerte sich der Worte der alten Seherin, die sie bei seiner Geburt befragt hatte: „Er wird Kaiser sein und seine Mutter umbringen.“ Darauf sie, die adelsstolze Julierin, vielleicht ein wenig zu hochmütig: „Mag er mich töten, wenn er nur herrscht!“
Agrippina, die mit ungeduldigen Schritten die Zimmerflucht ihres Landhauses durchmessen hatte, hielt plötzlich inne, nippte an dem Becher, der mit feurigem Falerner gefüllt war, verzog ein wenig den schönen Mund und verfiel wandernd erneut in schwere Gedanken. So waren also auch seine Gehorsamsbeteuerungen nur geheuchelt und gespielt. Sie hätte es wissen müssen. Ein Trugbild das für sie arrangierte Gastmahl. Täuschung seine Freundlichkeit. Ihr Früchtchen hatte Talent, fürwahr, und es hätte nicht viel gefehlt, da wäre sie ihm auf den Leim gegangen. Sie musste sich vorsehen. Es wäre nicht klug, dem skrupellosen jungen Mann zu zeigen, dass sie ihn und seine Pläne durchschaute. Sie könnte sich, dachte sie, vor weiteren Anschlägen wohl am besten schützen, wenn sie die Ahnungslose spielte.
Still stand nun Iulia Agrippina, biss sich auf die Lippen, prüfte die Worte der alten Seherin und begriff, dass sich der zweite Teil des Fluchs noch in selbiger Nacht erfüllen würde.
Mit einer schroffen Drehung wandte sie sich ans Schreibpult und schrieb hastig einen Brief, bemüht, das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken. Sicherlich, schrieb sie, habe er von dem Unfall seiner Mutter mit Entsetzen gehört. Aber er möge sich ihretwegen keine Sorgen machen. Dank der Gnade der Götter sei sie davongekommen. Er solle aber bitte seinen zweifellos beabsichtigten Besuch bei ihr verschieben. Wenn sie auch auf wundersame Weise dem Tod entronnen sei, so bedürfe sie jetzt doch dringend der Ruhe.
Sie faltete das Schreiben sorgfältig zusammen und siegelte es mit ihrem Blut. Dann übergab sie es dem Freigelassenen Agermus mit dem Auftrag, es auf schnellstem Wege an den kaiserlichen Hof im nahen Baiae zu bringen und keinem anderen als ihrem Sohn zu übergeben.
Über dem Halbrund des Golfes der Neustadt glitzerten und funkelten die Sterne. Der Palast des Kaisers schlief. Nur der Jüngling hatte keine Ruhe gefunden, hatte schwer geträumt und ertrug nun die Länge der Nacht nicht mehr. Wieder und wieder war das Bild der Mutter aus den Tiefen der Dunkelheit aufgestiegen, einer schönen, stolzen, aber auch unbeugsamen und unerbittlichen Frau. Züge, die ein wissendes Lächeln umspielte, und eine Rechte, die fest die linke Schulter umklammerte, während zwischen den Fingern hellrotes Blut hervorquoll. Da wusste er: Sie hatte überlebt und zweifelte keinen Augenblick daran, wem dieser „Unfall“ zuzuschreiben war.
Angst keimte in ihm und wuchs. „Gleich wird sie kommen und sich furchtbar rächen. Sie wird ihre Sklaven bewaffnen, die Soldaten aufhetzen und sich an Senat und Volk von Rom wenden. Zu Hilfe! Hört mich denn keiner?“
Fern der herrschaftlichen Gemächer am Ende der staubigen Höfe des Sommerpalastes von Baiae, fern auch aller fleischlichen Lustbarkeiten und eines untertänigen Gehorsams, fieberte der Erzieher einem glanzlosen Morgen entgegen. Durch das Geäst der Pinien schimmerte schon das erste zarte Tageslicht. Er träumte schwer. Schweiß lag auf seiner hohen Stirn, und ihm war, als habe ihn jemand gerufen. Seneca schlug die Augen auf, erhob sich mühsam, wickelte sich in ein grobes Gewand und schlurfte müde die vertrauten Wege entlang, seiner Pflicht entgegen. Nero, sein Schüler und Mündel, das nie erwachsen geworden war, Herr und Gott aller Römer, litt vielleicht an den Toten seiner verjährten Verbrechen und bedurfte seiner, ihn vor sich selbst zu schützen, oder er hatte ein neues Lied komponiert und benötigte einen, das Kunstwerk anzuhören und gebührend zu loben. Von seinen, Senecas, Worten hing es ab, ob der junge König ihn weiterhin liebte und bei sich behielt, ihn davonjagte oder zertrat.
In ehrfurchtsvoller Scheu betrat er das Gelass seines Schützlings. „Nero?“ Aber der Kaiser der Römer antwortete nicht. Er kauerte in einem Winkel des düsteren Gemachs, die Knie fest an den fülligen Leib gezogen und das Gesicht in zitternden Händen vergraben. „Hilft man mir denn nicht?“
Als spräche er zur ganzen Welt und nicht zu dem gebeugten Mann, der noch immer, ein dunkler Schatten, in der Eingangspforte stand, stellte Nero plötzlich die einzige Frage seines jungen Lebens: „Was soll mit ihr geschehen?“
Sie. Die Mutter. Die Furie. Die Frau. Die Kaiserin und Rächerin. Nero kannte nur noch diese Namen, von denen der eine für den anderen stand, wenn er an sie dachte, die ihn geboren hatte und wiedergeboren, als sie ihm den Thron zuschob, die Herrschaft über das gewaltige Reich der Römer. Er hatte sie aus seinen Augen und Gedanken verbannt und allen Hofschranzen und Untertanen verboten, ihren Namen auszusprechen, die verhassten Silben. Agrippina. Aber seine Feinde und falschen Freunde sangen bereits Spottlieder auf sie und auf ihn. Schon habe sich, sangen sie, die anziehende Frau ihrem Sohn angeboten, und der habe ihrer Gier nach Zärtlichkeit, Lust und Macht nicht lange widerstanden. Und selbst Poppaea Sabina, die vorgab, ihn zu lieben, nannte ihn ungeniert einen unmündigen Knaben, der nicht die geringste Freiheit besäße.
Ohne den Alten anzusehen, fuhr der römische Kaiser auf. „Ich ertrage die Frau nicht mehr. Du wirst sie mir aus den Augen schaffen. Du wirst, was du begonnen hast, noch heute Nacht vollenden.“
Schwaches Licht dringt Anicetus, dem gedungenen Mörder, dem Befehlsempfänger, entgegen. Die Augusta ist allein, beschützt von einer einzigen jungen Dienerin, unruhig, weil noch kein Bote von Nero gekommen ist. Auch der Freigelassene, der ihren Brief überbracht hat, ist noch nicht zurückgekehrt. Gespannt erscheint ihr die Atmosphäre. Müsste, wäre alles gut gegangen, die Stimmung nicht eine andere sein?
„Auch du verlässt mich?“, ruft sie der Dienerin nach, die sich eilig entfernt. Dann sieht sie sich Anicetus gegenüber, den zwei weitere, ihr unbekannte Männer begleiten.
Aber die Tochter des Helden Germanicus gibt sich unerschrocken. „Wenn du gekommen bist, mich zu besuchen, melde, ich habe mich erholt. Bist du aber gekommen, um mich zu töten, dann weigere ich mich zu glauben, mein Sohn habe den Muttermord befohlen.“
Doch ihr Mut beeindruckt die rauen Männer nicht. Es ist einer von Anicetus’ Begleitern, der ihr als erster mit einem Knüppel auf den Kopf schlägt. Der andere hat bereits sein Schwert gezückt. Ihm streckt sie ihren Schoß entgegen und ermuntert ihn, zuzustoßen. „Triff den Leib, der einst Nero getragen hat!“
Aber zäh wie im Leben erweist sie sich auch im Sterben. Es bedarf vieler Hiebe, ehe sie tot ist.
Noch in derselben Nacht wird ihr Leichnam auf einem Speisesofa verbrannt. Fürsorgliche Diener bestatten die Asche an der Straße nach Misenum neben dem Landhaus, das einst Iulius Caesar gehört hat, und solange ihr Sohn herrscht, wird ihr kein standesgemäßes Grab zuteilwerden.
Der junge Kaiser aber wird jetzt von den Erinnyen gehetzt. Er wird keine Ruhe mehr finden. Längst ist er sich der Schwere seines Verbrechens bewusst:
Trompetenschlag erklingt von den nahen Bergen, und vom Grabhügel der Mutter hört man leises Wehklagen, bis endlich ein gellender Schmerz die Nacht zerschneidet. Aus allen Richtungen schlägt Nero der verhasste Name entgegen, Agrippina hier und Agrippina dort. Tausend Krallen bohren sich in sein gemartertes Fleisch, brechen es auf, reißen ihm die letzte Faser, löschen den letzten Lebensfunken aus. Es gibt kein Entrinnen, und der Muttermörder weiß es. Noch einmal zerreißt ein schriller Schrei die Dunkelheit. Dann lösen sich die Schreckensbilder langsam auf, und der unheimliche Spuk verblasst. Zurück bleibt ein fader Geschmack und das triumphierende Bellen eines Wolfes, das sich erst nach Stunden in der Ferne verliert. Aber wie Nero erschöpft den nur allmählich verstummenden Tönen lauscht, erkennt er, dass es seine eigene Stimme ist, das heisere Lachen des Wahnsinns, der fortschreitend von ihm Besitz ergreift.
Das gefährliche Dampfbad – Octavias qualvolles Sterben
+ 62 n. Chr.
Die Farbe der Morgendämmerung hatte etwas Bedrohliches und ließ dem aufmerksamen Beobachter das Blut in den Adern gefrieren. Grau und unheimlich türmten sich die schweren Wolken am östlichen Horizont, dazwischen feuriges Rot, als hätten Blitze mächtiges Gebirge zerrissen. Blut, das als dicke Tropfen vom Himmel fiel.
Leid und große Veränderung kündigten sich an.
„Ich weiß, dass meine Tage gezählt sind“, stellte Octavia ohne besondere Bitterkeit fest. „Ich weiß es schon lange und auch, dass das für viele Unvorstellbare schon bald eintreten wird.“
Sie ließ den Blick in die Ferne schweifen, Richtung Festland. Trübes Wasser, soweit das Auge reichte, ohne die leiseste Ahnung von Rom, das man sonst an klaren Tagen wenigstens als Schemen am Horizont sah. Auf dieser gottverlassenen Gefangeneninsel also auch sie, die Tochter des großen Claudius, die Gattin Neros, der ihren Vater, seine eigene Mutter Agrippina und auch ihren Bruder Britannicus aus dem Weg geräumt hatte. Oh ja, er war gründlich, dieser Mann, er vergaß keinen, wenn es um den Erhalt seiner Macht ging. Er erinnerte sich auch in jeder Stunde des Tages an sie. Es hatte so kommen müssen. Das alles war noch nicht lange her, die vielen Tode, sie hatte sie vorausgesehen in sich stets wiederholenden Träumen.
Die junge Andromeda erschauderte. Ihre kaum 20-jährige Herrin hatte Recht. Was blieb ihr, die Unglückliche zu trösten? Und dieser weitere Mord, unsinniger noch als jeder andere zuvor, würde auch ihr Ende bedeuten, denn es ging nicht an, dass eine Sklavin die überlebte, zu deren Dienst sie geboren war. Überhaupt, wenn sie zu viel wusste. Was sollte sie auch noch ohne die fast gleichaltrige Frau, der sie sich mit Haut und Haaren verschrieben hatte, die ihr in manchen Jahren innigste Freundin geworden war, deren Geheimnisse, Wünsche und Sehnsüchte sie tief in ihrem Herzen verschlossen hatte, in einer sicheren, uneinsehbaren Gruft.
„Poppaea Sabina“, fuhr Octavia fort. „Sie wird keine Ruhe geben. Sie kann nicht zulassen, dass ich am Leben bleibe und durch meine bloße Gegenwart ihren Anspruch streitig mache. Sie liebt Nero nicht. Aber sie liebt die Macht. Und sie weiß, dass die nur über ihn zu erlangen ist. Aber erst, wenn ich tot bin und er sie heiraten kann. Und das wird er, da hat sie ihn in der Hand. Sie ist eine geschickte Erpresserin, die alle Mittel ihrer Weiblichkeit einsetzt, um ihn zu beherrschen. Schon jetzt droht sie ihm ganz unverblümt mit Liebesentzug und damit, dass sie ihn verlässt und zu ihrem angeblich so vornehmen früheren Gatten Otho zurückkehrt, wenn er, Nero, sich nicht bald ihren Wünschen beugt. Wer sie denn sei, dass sie sich derart hinhalten lassen müsse? Störe ihn etwa der Ruhm ihrer Ahnen? Oder vielleicht ihre Schönheit, ihre Klugheit? Er habe doch keine Skrupel gehabt, sich von seiner Mutter zu befreien, weshalb zögere er dann, die ungeliebte Ehefrau, die seinem Glück nur im Wege stünde, zu beseitigen? Ist denn ein römischer Kaiser irgendjemandem Rechenschaft schuldig? Und wer würde es schon wagen, für eine Octavia Partei zu ergreifen?“
Wieder lief Andromeda ein eiskalter Schauer den Rücken hinab. Sie war ja selbst oft genug Zeugin mancher Tragödie geworden. Hatte doch Nero, jegliches Schamgefühl missachtend, mehr als einmal versucht, seine junge Frau zu erdrosseln, und immer erst im letzten Augenblick von ihr abgelassen, wenn der Riese Celer auf Andromedas Hilferufe ins Zimmer gestürzt war und seine mächtige Gestalt drohend vor der kaiserlichen Fettleibigkeit aufgerichtet hatte. Nero hatte sich dann immer gleichsam ekelnd abgewendet, als habe er es nicht nötig, sich selbst die Finger schmutzig zu machen. Wozu hatte er schließlich seine Leute? Anicetus etwa, den Flottenkommandanten von Misenum, einen grobschlächtigen Kerl ohne Gewissen, der ihn schon bei der Ermordung Agrippinas so hilfreich unterstützt hatte. Ja, und auch Seneca, der die böse Tat zumindest ersonnen hatte. Würde jemand denken, dass selbst der weltberühmte Philosoph …? Hatte ihn doch ein jeder stets als Vorbild menschlichen Wohlverhaltens geschätzt.
Gewiss, Octavia galt als unfruchtbar, und selbst sie, die einfache Andromeda, wusste, dass das für einen römischen Kaiser ein absoluter Scheidungsgrund war. Den gegenteiligen Beweis hatte die Herrin nicht zu liefern vermocht. Aber hätte sie denn schwanger werden können, wo Nero sie so selten und allenfalls aus einer lästigen Pflicht heraus besucht hatte? Anicetus, warum wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie diesen brutalen Totschläger bald schon wiedersehen würde, ohne dass sie es wollte?
„Missfällt dir etwa meine tadellose Gestalt? Oder fürchtest du dich vor meinem regen Geist?“ Poppaea Sabina wälzte sich gelangweilt auf ihrer Kline und naschte von dem Konfekt, das auf einer dicken Silberschale vor ihr lag. „Ach nein, gib es zu, es ist der Ruhm meiner Ahnen, der dich zögern lässt! Im Gegensatz zu deiner, der Julisch-Claudischen, Gens haben meine Vorfahren schon die Geschicke der frühen Republik mitgeprägt. Und nie in der schmuddeligen Unterstadt zwischen Ratten und streunenden Hunden gehaust. Nero, mein Geliebter“, sie streckte dem Mann beide Hände entgegen, „du wirst dich, du weißt es nur zu gut, vom Mangel deiner unrühmlichen Herkunft auf Dauer nur reinwaschen können, wenn sich dein Blut mit dem eines der ältesten Adelsgeschlechter Roms vereint. Aber ich werde mich dir erst dann hingeben können, wenn du mich vor den Göttern und der Welt zu deinem rechtmäßigen Eheweib gemacht hast. Ich habe da meine Prinzipien. Bis dahin, oh mein Geliebter, muss ich mich in meiner maßlosen Sehnsucht nach deinem lieben Körper verzehren und befürchte, daran zu Grunde zu gehen. Willst du das, mein Herr und Gebieter, willst du auf immer auf deine schöne Poppaea verzichten?“
„Anicetus, mein Freund! Ich hoffe, du verzeihst mir, dass ich dich in deinem Ruhestand störe, den du dir mehr als jeder andere verdient hast. Aber du sollst noch einmal Gelegenheit erhalten, deinen Kaiser glücklich zu machen. Was sage ich, ihm erneut das Leben zu retten. Wer eignete sich dafür besser als Anicetus, der verlässlichste meiner Offiziere?“ Mit ausgestreckten Armen eilt Nero auf den Untergebenen zu.
„Es geht um Octavia, meine frühere Gattin. Ich habe mich, wie du wahrscheinlich weißt, kürzlich von ihr scheiden lassen, lassen müssen, denn sie ist unfruchtbar. Ich will ganz offen zu dir sein. In mancherlei Vorzeichen haben mir die Götter ihren Willen offenbart: Ich soll Poppaea Sabina heiraten und meinen Römern in ihr eine neue Kaiserin geben. Die Sache allerdings ist die: Sie weigert sich, mir ihr Ja-Wort zu geben, fürchtet den bösen Einfluss der Ex-Frau und besteht darauf, sie unschädlich zu machen. Aber Octavia ist kerngesund und gerade 20 Jahre alt. Ich habe versucht, sie der ehelichen Untreue anzuklagen, hatte aber keinen Erfolg. Sogar beim peinlichen Verhör beteuerten alle Zeugen ihre Unschuld, und ihre Kammerjungfer, eine nicht übel beleumdete Sklavin namens Andromeda, meinte sogar gegenüber dem Offizier, der die Befragung leitete, Octavias Geschlechtsteile seien reiner als sein Mund. Es hatte keinen Zweck. Die Richter mussten die Frau von dem gegen sie erhobenen Vorwurf freisprechen. Seitdem lebt sie auf der Gefangeneninsel in der Verbannung. Mich würde sie nicht weiter stören, aber es gilt, den Willen der Götter zu erfüllen. Poppaea Sabina findet keine Ruhe. Sie fürchtet die Unglückliche wie einen Dämon, der gewiss, so meint sie, eines Tages in den Palast zurückkehren und sich bitter rächen werde. Entweder sie oder Octavia. Ich müsse mich entscheiden.“
Ganz nahe tritt der Kaiser an seinen Mordgesellen heran. „Habe ich denn eine Wahl? Haben mir die Himmlischen nicht längst ihren Wunsch unmissverständlich mitgeteilt? Nur du, mein lieber Anicetus, nur du kannst mir jetzt noch helfen. Ich verlasse mich ganz auf deine Phantasie.“
Es dauerte nicht lange, da kursierten die wildesten Gerüchte durch die Stadt. Octavia, die angeblich so keusche, habe sich von Anicetus verführen lassen, und ihr Abenteuer sei nicht ohne Folgen geblieben. Aus Scham und aus Furcht habe sie aber die Leibesfrucht abgetrieben. Der arme Herr Nero! Man mochte über ihn sagen, was immer man wollte, aber das hatte er nicht verdient. Da sieht man doch, wie Recht er hatte, als er sich von dieser Schlange befreite. Es habe ihr ja ohnehin keiner eine Träne nachgeweint, als sie in Ostia das Schiff bestiegen habe, das sie nach Pandateria brachte. Hatte überhaupt jemand diese verschlossene, immer ein wenig finster und menschenscheu dreinschauende junge Frau verstanden? Fluch über Octavia! In den Hades mit ihr, ehe sie in Stadt und Reich noch mehr Schaden anrichten konnte!
Das ließ sich Nero, überrascht, dass seine Quiriten so leicht zu täuschen waren, nicht zweimal sagen. Anicetus kam mit seinen Mannen, fesselte die, die sich kaum wehren konnte, und öffnete ihr die Adern. Da das junge Leben aber zu langsam versiegte, musste ein heißes Dampfbad nachhelfen.
Darin ist Claudius’ unglückliche Tochter erstickt.
„Niemandsorgt dafür, weise, alle sorgen sich nur, lange zu leben. Dabei kann es jedem gelingen, weise zu leben, keinem jedoch, lange da zu sein. Der hat die Weisheit erfasst, der ebenso sorglos stirbt, wie er geboren wurde.“
Seneca oder Der Weisheit Höhepunkt
+ 65 n. Chr.
Zur Zeit Neros lebte in Rom eine Frau, die ihrer bleichen Gesichtsfarbe wegen einer wandelnden Leiche glich. Sie hieß Pompeia Paulina und war die Gattin des großen Philosophen und Nero-Erziehers Seneca. Er hatte sie, ein junges Mädchen, nach seiner Rückkehr aus dem Exil geheiratet. Doch obwohl der über 50-Jährige nach römischer Auffassung längst ein Greis und, wie überkommene Bildnisse verraten, alles andere als von strahlender Schönheit war, scheinen die beiden eine gute Ehe geführt zu haben. So sehr war Pompeia Paulina um seine schon immer anfällige Gesundheit besorgt, dass er Grund hatte, sie zu bitten, sie möge ihn doch nicht gar so hingebungsvoll lieben.
Das ungleiche Paar hätte seine gemeinsamen Tage in Ruhe beschließen können. Doch da traf, 65 n. Chr., ein kaiserlicher Befehl das Haus des Gelehrten. Nero beschuldigte seinen früheren Erzieher, sich an der Verschwörung des Piso beteiligt zu haben, und der Tribun Silvanus überbrachte Seneca den Befehl, „freiwillig“ aus dem Leben zu gehen.
Ruhig und gelassen nahm der alte Mann die kaiserliche Anordnung entgegen. Er hatte längst damit gerechnet, dass sein einstiges Mündel ihn, den unbequemen und ständigen Mahner, loswerden wollte. Neider hatten ihn bei Nero angeschwärzt. Als Seneca das zu Ohren gekommen war, hatte er um eine Audienz gebeten. Höflich, wie es seiner Art entsprach, dankte er dem jungen Kaiser für alle Wohltaten, die er empfangen hatte, sprach von zu viel Glück, das ihm widerfahren sei, sodass er Bescheidenheit und Genügsamkeit nicht den nötigen Platz habe einräumen können. Er legte seinem einstigen Schüler seinen Besitz zu Füßen, um seine Tage entsprechend der von ihm vertretenen Lehre frei von materiellen Gütern zu beschließen.
Doch Nero lehnte ab. Er gab den Dank an den alten Lehrmeister zurück. Und umarmte und küsste ihn. Er wollte vor der Welt keineswegs als habgierig und grausam erscheinen, indem er sich am Reichtum seines Freundes, eines in Ehren ergrauten Mannes, bereicherte. Seneca wusste, dass Nero andere Mittel kannte, sich seinen Besitz dennoch anzueignen. Er zog sich in ein Landgut außerhalb der Stadt zurück, und es heißt, man habe ihn in Rom nur noch selten gesehen.
Nun also stand er dem Tribunen Silvanus gegenüber. Er habe noch einen Wunsch, ließ er diesen wissen. Er wolle in aller Ruhe sein Testament aufsetzen. Aber dafür reichte die Order des wenig feinfühligen Soldaten nicht.
Seneca befand sich gerade bei einem Festmahl inmitten seiner Freunde, als ihn der Selbstmordbefehl erreichte. Die Gäste begannen sogleich, heftig zu weinen. „Meine Herren“, munterte er sie auf, „wo bleibt im Angesicht des Unglücks Ihre Fassung, um die wir so viele Jahre gerungen haben?“
Dann wandte er sich an seine Gattin Paulina. „Lebe wohl, geliebtes Mädchen!“ Und er beschwor sie, sich zu mäßigen, damit sie sich nicht endlosem Schmerz ergäbe, sondern in der Betrachtung eines der Tugend geweihten Lebens die Sehnsucht nach ihrem Gatten zu ertragen versuche.
Aber die junge Frau zeigte den ganz und gar festen und unbeugsamen Willen, ihren Mann auf dieser letzten beschwerlichen Reise ins Ungewisse zu begleiten. Da gab sich Seneca endlich geschlagen: „Ich habe dir gezeigt, was dein Leben erträglich machen könnte, aber du ziehst die Ehre zu sterben vor. Ich verwehre dir nicht das Recht, zum Vorbild zu werden. Selbst wenn unser gemeinsamer Tod Zeugnis davon gibt, so wird doch dein Tod mehr Aufsehen erregen.“
Gemeinsam öffneten sie sich die Pulsadern. Doch aus Senecas greisem, ausgezehrtem Leib floss das Blut nur zäh. Auch das Durchtrennen der Adern an den Beinen und in den Kniekehlen konnte den Fluss nicht beschleunigen. Er bemühte sich, die Schmerzen mit stoischer Gelassenheit zu ertragen, rief seinen Schreiber zu sich und begann, ihm eine längere Rede zu diktieren. Aber der Tod weigerte sich hartnäckig, ihn zu erlösen. Da bat er seinen Arzt Annaeus um Gift. Doch auch das zeigte keine Wirkung. Erst ein heißes Bad, nach dem der Alte schließlich verlangt hatte, beschleunigte sein Sterben. Wie es üblich war, versprengte er noch ein wenig Wasser als Trankopfer für Jupiter, den Befreier. Im Dampfbad endlich ist jener Mann erstickt, von dem es heißt, er gehöre zu den weisesten Menschen des Altertums, und unter ihm sei in Rom die Stoa zu letzter Vollendung gereift.
Als Nero erfuhr, dass Paulina das Schicksal ihres Mannes zu teilen entschlossen war, erschrak er sehr. Er hegte keinen Groll gegen die junge Frau, und er wollte sie nicht zur Märtyrerin erhöhen. Eilig sandte er deshalb einen weiteren Boten zu Senecas Haus. Er verbot Paulina, aus dem Leben zu gehen, und befahl, ihre Wunden zu verbinden und sie, koste es, was es wolle, zu retten.
Das Tor zum Hades hatte sich vor ihr noch nicht ganz geöffnet. Freigelassene und Sklaven bemühten sich, den Blutstrom zu stillen. Nur böse Zungen behaupteten, sie sei nicht ungern zu den Freuden des Lebens zurückgekehrt. Doch lebte sie stets in rühmlicher Erinnerung an den Gemahl, durch ihre Blässe, die jedem verriet, wieviel von ihren Lebensgeistern entwichen war, eine stumme Anklage gegen die Willkür des Tyrannen.
„Seht, das ist Treue!“ Kaiser Neros mühsames Sterben
54–68 n. Chr.
Er trug es nach Weiberart in Locken gelegt, das rotblonde Haar, das ihm weit über den Nacken hinabfiel. Auch sein Bart machte dem Namen, den er von seinem Vater geerbt hatte, alle Ehre: Ahenobarbus. Rotbart.
Ein wenig sah er schon aus wie eine Witzfigur: Von mittelgroßer Statur, war sein Körper über und über mit Flecken besät, und er strömte, wenn wir dem antiken Biografen glauben dürfen, einen unangenehmen Geruch aus. Stiernackig sei er gewesen, ein feister Leib mit weit hervorragendem Bauch, der auf spindeldürren Beinen schaukelte. Sein Gesicht war aber offenbar nicht unsympathisch mit graublauen, sehr kurzsichtigen Augen, die ungläubig auf die Welt schauten und staunten, was sie sich von ihm alles gefallen ließ.
Vierzehn Jahre schon herrschte er nun über das größte Reich, das das Abendland bis dahin gesehen hatte, und man ließ ihn gewähren, hatte sich trotz seines bizarren Aussehens und seiner noch ungewöhnlicheren Launen an ihn gewöhnt.
Vergessen war der überraschende Tod seines Adoptivvaters Claudius, der einst zu den wildesten Spekulationen Anlass gegeben hatte. Vergessen auch Britannicus’, des ungeliebten Stiefbruders tragisches Ableben, lange bevor seine Zeit gekommen war, verdrängt der Muttermord und in die Annalen verbannt Octavias qualvolles Ende. Niemand weinte Claudius’ unscheinbarer Tochter noch eine Träne nach. Und niemand vermisste Poppaea Sabina, die zumindest für einige Schicksale im Kaiserhaus die moralische Verantwortung trug. In einer Anwandlung unkontrollierten Zorns hatte die Hochschwangere ein Fußtritt des Gatten in die Unterwelt befördert, und mancher betrachtete ihren frühen Tod nicht nur als ausgleichende Gerechtigkeit des Schicksals, sondern auch als Erfüllung eines ihrer innigsten Wünsche. Hatte die exzentrische Frau, die zuletzt doch noch Kaiserin geworden war, nicht immer wieder geäußert, sie wolle jung sterben, da sie sich außer Stande sehe, die Spuren des Alterns mit Würde zu tragen?
So hatte, mit Ausnahme des Kaisers selbst, schließlich jeder das erhalten, was ihm von der Vorsehung zugedacht worden war, doch auch für Nero war die Stunde der Abrechnung gekommen.
„Es ist aus mit mir!“ Immer wieder schlug er sich an die Stirn und zerriss seine Kleider. „Es ist aus mit mir!“ Und: „Niemals ist einem Herrscher größeres Unrecht widerfahren, denn ich verliere meinen Thron und lebe doch noch!“ In äußerster Wut griff er nach seinen zwei teuersten Kristallbechern und schleuderte sie zu Boden. Es war, als ahne er bereits seinen bevorstehenden Sturz, als sähe er leibhaftig den Tod, der schon auf ihn lauerte.
Was hatte Nero, von Natur aus ohnehin unbeherrscht, derart aus der Fassung gebracht?
Am achten Jahrestag der Ermordung seiner Mutter erfuhr er von einem Aufstand der Gallier unter Führung von Iulius Vindex. Aufstände hatte es während seiner Regentschaft immer wieder gegeben, sogar stadtrömische Verschwörungen, aus denen er stets als Sieger hervorgegangen war. Schon hatten seine Römer begonnen, ein wenig neidisch auf sein Glück zu schielen. Als man ihm aber auch noch hinterbrachte, dass ganz Spanien, eine der ältesten und am tiefsten romanisierten Provinzen, von ihm abgefallen sei, verließen ihn die Sinne. Wieder einmal drang das Wehklagen vom Grabhügel seiner Mutter im fernen Neapel, mit den Jahren mehr oder weniger erfolgreich unterdrückt, an sein Ohr, als wolle sich Agrippina ein letztes Mal Gehör verschaffen. Lange blieb Roms Kaiser wie tot liegen. Als er wieder zu sich kam, wusste er, was er zu tun hatte.
Aufbrausend machte er seinen Gedanken Luft. Alle Senatsmitglieder sollten vergiftet, die Heerführer ermordet, Rom noch einmal in Brand gesteckt und die wilden Tiere aus den Käfigen im Zirkus frei gelassen und auf das undankbare Volk gehetzt werden, damit niemand das Feuer löschen könne. Wer wollte seine Herrschaft dann noch bedrohen? Dann wieder, wenn sich seine Nerven beruhigt hatten, brütete er still vor sich hin und schmiedete Pläne, die nur einem kranken Hirn entsprungen sein konnten: Er wolle freiwillig auf sein Amt verzichten, ließ er seine Umgebung wissen. Was bedeute ihm, dem großen Künstler, schon ein römischer Thron? Seine Kunst werde ihn ernähren, freilich nicht hier in Rom, sondern im fernen Alexandria, wo weniger Banausen lebten und man für seine Genialität Verständnis aufbringe.
Aber auch diesem Gedanken hing er nicht lange nach. Mutig und entschlossen werde er den Abtrünnigen entgegentreten, sie durch seine Tränen umstimmen und ihnen seine Lieder vortragen. Vielleicht sollte er sich ja auch an das Volk wenden, in Trauerkleid und Büßergewand, und es für alle seine Missetaten um Verzeihung bitten. Auch das schwebte ihm als mögliche Lösung seines Problems vor. Und er begab sich sogleich zu seiner Lyra, um Texte zu verfassen und Melodien zu komponieren. Tatsächlich fand sich in seinem Nachlass eine perfekt aufgesetzte Rede dieser Art.
Doch wurden ihm immer weitere Hiobsbotschaften überbracht. Nach und nach fielen die in den Provinzen stationierten Truppen von ihm ab. Allmählich begann er zu begreifen, dass seine Tage als Kaiser tatsächlich gezählt waren. Da beauftragte er die berühmt-berüchtigte Giftmischerin Locusta, ihm einen tödlich wirkenden Trank zu brauen, um einem eventuell auf sein Leben geplanten Anschlag zuvorzukommen. Aber Gift? Würde er je den Mut aufbringen, es zu nehmen?
Mitternacht war herangerückt. Es war totenstill im Palast. Selbst das vertraute Klicken der nagelbewehrten Soldatenstiefel seiner Leibwache, das ihm so oft den Schlaf geraubt hatte, war nicht zu hören. Nero ahnte Schreckliches, stürzte zum Eingang und riss die Türen auf. Die Prätorianer hatten ihn verlassen. Diener und Hofbeamten antworteten auf sein Rufen nicht. Er war allein, und man hatte ihn gründlich beraubt. Sogar das von Locusta gemischte Gift hatten sie ihm weggenommen. Verzweifelt rannte er zum Tiber, um sich in die trüben Fluten zu stürzen. Da trat ihm der Freigelassene Phaon in den Weg und bot ihm sein unweit der Stadt gelegenes Landgut als Zufluchtsort an.
Nero schöpft neuen Lebensmut. Er schwingt sich auf sein Pferd und jagt durch die Nacht, bis zur Unkenntlichkeit verkleidet und das Gesicht unter einem großen Tuch verhüllt. Epaphroditus, ein anderer Freigelassener und der letzte seiner Getreuen, und sein Geliebter Sporus begleiten ihn. Doch was ist das? Vor ihm erzittert die Erde, die Gräber öffnen sich, als wollten sie ihn verschlingen, und alle, die Nero ermordet hat, treten ihm in den Weg. Soldaten schreien, als er am Lager der kaiserlichen Garde vorüberprescht. Sein Pferd scheut. Das Tuch rutscht ihm vom Gesicht, und er wird von einem Prätorianer erkannt. Aber der verdutzte Mensch verrät ihn nicht. Vielleicht weiß er nicht, ob er soeben einem Gespenst begegnet ist oder dem Mann, dem er einst ewige Treue, dessen Leben er zu schützen geschworen hat.
Im Garten des Landhauses angelangt, muss Nero zu Fuß weiter. Schilf, Gestrüpp und Brombeersträucher setzen dem Fliehenden zu. Auch ins Haus kann er nicht sofort. Die Lage muss erst erkundet werden. Phaon bittet ihn, sich vorerst in einer Sandgrube zu verstecken. Aber Nero weigert sich. Er will nicht bei lebendigem Leib begraben werden. Lieber kauert er sich in die Nähe eines Wasserlochs. Es dauert Ewigkeiten, bis man ihn in die Villa lotsen und er sich auf einer fleckigen Matratze ausruhen kann. Leise wimmert der noch gestern mächtigste Mann der Welt vor sich hin. Er weiß jetzt, dass es aus ist mit ihm. Er hat zu hoch gesetzt und das riskante Spiel um Macht und Leben verloren. Und er ahnt, dass ihm die Mörder schon auf den Fersen sind.
„Welch großer Künstler geht mit mir verloren!“ Immer wieder ruft er diesen Satz verzweifelt in die Dunkelheit. Dann meldet man ihm, ein Bote aus Rom sei eingetroffen mit der Nachricht, der Senat habe ihn zum Staatsfeind erklärt und befohlen, ihn nach der Vorfahren Brauch zu bestrafen.
„Nach der Vorfahren Brauch?“, wundert sich Nero. Er hat von dieser Hinrichtungsart noch nie gehört. Und er reißt Phaon den Brief aus der Hand. Wie denn eine solche Tötung vor sich gehe, will er von seinem Freigelassenen wissen. Der Delinquent, meint dieser, werde auf dem Forum nackt an einen Pfahl gebunden und mit Ruten zu Tode gepeitscht.
Da ergreift den Kaiser blankes Entsetzen. Er nimmt zwei Dolche, die schon bereit liegen, prüft die Spitzen und – legt sie wieder weg. „Das ziemt sich nicht für Nero, nein das ziemt sich nicht. Im Übrigen ist meine Zeit noch nicht gekommen.“ Da aber hört er Reiter herangaloppieren. Sie haben den Auftrag, ihn lebend zu fangen. Noch einmal durchdringt seine weinerliche Stimme den Raum: „Welch großer Künstler geht mit mir verloren!“ Dann stößt er sich die Messer in die Kehle. Dem Soldaten, der ihn holen sollte, haucht er sterbend entgegen: „Seht, das ist Treue!“ Es ist Neros letzter fataler Irrtum. Da er noch nicht tot ist, erlöst ihn Epaphroditus von seinen Qualen.
32 Jahre war Nero alt, als er starb. Die Ironie der Geschichte wollte, dass er am sechsten Jahrestag der Ermordung seiner Gattin Octavia ums Leben kam. Viele freuten sich, nicht nur in Rom. Das ganze Imperium durchdrang ein Aufschrei der Erleichterung.
Und doch glaubten manche, er sei gar nicht tot, und es fanden sich noch viele Jahre frische Blumen auf seinem Grab.