Читать книгу Der staatsgefährliche Kuss. Eine Erzählung um Franziska von Hohenheim. - Utta Keppler - Страница 6
ОглавлениеAm zwölften Januar wurde das Wetter klar und kalt. Lange Eiszapfen hingen von den Dachtraufen, der weiße Harsch knirschte und warf seine Schatten in die Spuren der Heiducken, die den gefangenen Reignaud ins Schloß führten. Sein Komödiantengesicht war gelber als sonst, starke Furchen zogen sich von der Nase zu den Mundwinkeln, das Schwarz der gemalten Brauen war zerlaufen im Schnee, der in den offenen Schlitten geweht war; die Schminke klebte fleckig auf der unrasierten Oberlippe; die flachen Tanzpantoffeln waren durchgeweicht. Reignaud hatte seine Flucht bald aufgegeben. Schon hinter Waiblingen war ihm das Geld ausgegangen, schlotternd im dünnen Galarock hatte er sich beim dortigen Oberamt gemeldet. Ein gutmütiger Beamter hatte ihm Mäntel und Decken gegeben und für einen Schlitten gesorgt; er kannte seinen Landesherrn: Der Franzose war ein berühmter Mann in seinem Fach, und Karl hätte ihn sicher ungern verloren.
Der Amtmann hatte richtig gerechnet. Karl war milde gestimmt, als man Reignaud vorführte. Er gefiel sich in der Rolle des überlegenen Pädagogen, die er in den letzten Jahren gern spielte. Er fuhr den Mann scharf an, machte ihn allein für Julchens Ungeschick verantwortlich, stellte ihm allerlei politische Konsequenzen des verdorbenen Abends vor und benutzte die Gelegenheit, ihm sein Gehalt von 2 500 Gulden auf 2 000 zu kürzen. Dann hieß er ihn niederknieen und entließ den verängstigten Tanzmeister endlich in Gnaden; Reignaud kam gar nicht zu Wort.
Erst abends, als Karl mit Franziska im warmen Zimmer speiste, fiel ihm ein Versäumnis ein.
»Der Reignaud war bei mir, Franzel«, sagte er kauend, »und ich hab’ vergessen, ihn nach der Schubartischen auszuforschen. Ob er die mitgenommen hat? Und wo sie jetzt sein könnte? Ich muß den Kerl doch noch einmal antreten lassen, den Flederwisch!«
»Ach, laß ihn Karl, laß ihn! Er tanzt gut und komplimentiert artig, aber mit dem Mädle ist er gewiß net weggewest; das tut die nicht, so viel weiß ich sicherlich; und sie ist ja noch so jung und er schon über fünfzig.«
Sie beobachtete ihn prüfend, schmunzelte beruhigt über seine vergnügte Miene, aber ehe sie weitersprechen konnte, unterbrach Karl sie:
»Du siehst wieder so holdselig herzig aus wie eh und je!«
Sie legte geschmeichelt den Kopf schief. »Jetzt hätt’ ich dich gern gleich an den Vater vom Julchen erinnert, der immer noch da droben sitzt und wartet, Karl. Und das Mädle möcht’ doch auch wissen, wie’s dran ist; und die arme Frau, die Helene, kann einem leid tun.«
Die Herzogin seufzte. »Da hat mir das Mädle einen ganz unglücklichen Brief vom Vater gezeigt — die Mutter weiß nichts davon — ich hab ihn dann aufgehoben; hör zu, Karl, aber halt’s dem armen Gefangenen zugut, wieviel er schon hat durchmachen müssen:
›Hohenasperg, den … Vormittags 9 Uhr. Mit kranker verbundener Hand schreib ich an dich, meine Liebe, dir zu zeigen, dass ich noch lebe; aber elend und ohne Hofnung lebe. All den leeren Freiheitsvertröstungen glaub ich nicht mehr. Der Herzog ist unbeweglich und hat den Stab über den lebenslängigen Verlust meiner Freiheit gebrochen. Mir thuts leid für den Herzog, daß er so ungerecht gegen mich ist. Diß Zaudern und beständige Hinschmachten nach euch vergällt mir das Leben unaussprechlich, und ich fühle nun den täglichen Seufzer meines seeligen Vaters tief in der Seele: Lieber todt als mißvergnügt. Und ich glaube, die Hofnung einer seeligen Auflösung sei nicht weit mehr entfernt. Meine Kräfte schwinden sichtbar weg. Schwindel, Uebelkeiten aus dem Magen, zusammengeschnürter Odem, Schläfrigkeit, Erschlappung der Nerven und eine fürchterliche Gleichgültigkeit gegen alles was um mich her ist, zeigt mir den Ausgang aus dem Labirinthe des Lebens ganz in der Nähe. Ich habe ein elendes jammervolles Leben gelebt. Heil mir, wenn ich seeliglich vollende! Ein seeliger Tod! ist jetzt mein einziger tiefer aufflammender Seufzer!‹a« Franziska ließ das Briefblatt sinken.
»Da siehst, wie dem armen Mann alle Zuversicht schwindet!« sagte sie dringlich.
»Still!« fuhr Karl sie an, »von denen Staatsgeschäften laß die Finger! Ich hab dir’s gleich geschrieben, als ich dir hab meine Hand angetragen, und oft seither gesagt: Das sind meine Sachen, in die du nicht hineinzugucken brauchst!« Sein volles Gesicht wurde purpurn. »Den Phantasten soll ich womöglich noch dekorieren, der mit dem Rousseau sympathisiert? Den zähen Brocken, das derbe Leder? Lang genug, denkst du? Weißt nimmer, was der Zilling geraten hat, der Spezial? ›Man soll ihn traktieren, bis er sich anstinket, moraliter et physice!‹… und hat dabei immer noch Launen, wird mir rapportiert!«
»Aber die Disziplin habe doch einen guten Effekt gehabt bei ihm, heißt es?« wagte Franziska einzuschieben, »sonst hätt’ man ihm doch keine Festungsfreiheit gegeben!«
»Effekt? Effekt?« Karl langte an seine Halsbinde, »den Effekt, Franzel, daß er auf den Wällen ambuliert, präludiert und komponiert auf dem Clavizimbel, und denen artigen Damen die Cour schneidet. Und die Tochter ist nicht anders, wirst es schon merken. Tappig und hochnäsig, und jetzt womöglich eine Affär! Die ganze Sippschaft ist sich gleich; und der Alte bleibt hocken, bis mir’s paßt!«
»Aber der Brief vom Lavater und der Karschin ihrer, der Dichterin? Und der vom Klopstock?«
»Hörst nicht auf, Franzel? Ich weiß, was ich tu, und ich tu’s, das mußt dir merken. Und wenn zehn Dichter schreiben! Und der Pembroek soll nur hetzen, der König Friedrich ist tot! Was könnte er denn vermelden, als daß des Schubarts Tochter die Tafel gestört und sich unflätig benommen hat? Obwohl ich sie versorgt hab’ in der École und ihren Bruder, den Ludwig, in der Akademie! Soll das zu ihren Gunsten stimmen? Ich laß sie doch noch arretieren!«
»Tu nur dem Mädle nichts, ich weiß, was sie so aufgeregt hat: Der Brief und …«
»Laß mich in Ruh, Frau, hast mir wieder das Blut in den Schädel gejagt — und war so friedlich zuerst bei dir!«
Die Herzogin wurde ernst. »Du hast oft meinen Rat gelobt, Karl, bloß an den Schubart darf ich nicht rühren …«
Sie ging traurig hinaus.