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Sinn findet nicht, wer chronisch aggressiv ist

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Manchmal ruft er mich an, der alte Mann. Wenn ich ihn dann nach seinem Befinden frage, antwortet er mürrisch: „ Man muss ja zufrieden sein.“ Er ist es aber nicht. Denn, so scheint mir, wartet er nur darauf, dass er mit seinen Schimpfkanonaden beginnen kann: Von seinen erwachsenen Kindern will er nichts mehr wissen, und wehe, wenn sie einmal vor seiner Tür stehen sollten! - Der Mann, den er einmal einen Freund genannt und dem er viel geschenkt hat, habe sich als treulos erwiesen. - Seine Frau lässt ihn zu oft allein. Er verlangt von ihr, dass sie ständig in seiner Nähe ist, sogar bei Fußball-Übertragungen. - Die Telekom hat ihn wieder einmal versetzt. - Der Gärtner hat keine Ahnung, wie ein gepflegter Garten auszusehen hat. - Über den Nachbarn will er lieber gar nichts sagen. Einen solchen Menschen kann man nur vergessen. - In einer Schublade wartet ein Revolver auf ihn, falls sein Leben noch unerträglicher werden sollte.

Hat der alte Mann denn Grund für diese und viele andere Klagen? Wenn ich ihm sagen möchte, dass sein Leben aus meiner Sicht nicht nur beklagenswert verlaufen ist, wechselt er sofort des Thema. Dann erkundigt er sich nach meinem Befinden. Dabei bemerke ich, dass ihn das kaum interessiert. Wenn wir diesen kurzen Gesprächsteil abgehandelt haben, schimpft er über die Ärzte, die ihm nahegelegt haben, sich neurologisch untersuchen zu lassen, da er ein wenig vergesslich geworden ist. Sein Hausarzt weiß ohnehin viel besser als alle Fachärzte, was ihm fehlt, denn er spielt mit ihm Golf.

Wenn ich jetzt an ihn denke, überkommen mich unterschiedliche Gefühle:

Mitleid, weil ich sehe, wie er sich durchs Leben quält -, Zorn, weil ich die Fülle seiner Aggressivität denkbar überflüssig finde -, Mitgefühl, weil ich befürchte, dass sein Sterben wahrscheinlich einmal schwer werden wird. Denn wer nicht irgendwann im Leben Sinn erfahren hat, wird sinn-los sterben.

Trotz allem: Ich mag den alten Mann: Manchmal lächelt er. Dann scheint es mir, als sähe ich für Augenblicke sein Jungengesicht. Oder: Wenn er sich unbeobachtet fühlt, überschattet manchmal eine tiefe Traurigkeit sein Gesicht. Irgendwann weinte er still in sich hinein. Dann hätte ich ihn am liebsten umarmt, doch das hätte er keinesfalls zugelassen. Zweifellos hätte er mich aggressiv angefaucht. Denn er konnte sich nicht lieben lassen.

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