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I.

Religion lebt – oder ist sie doch schon tot? Zur religiösen Gegenwart

1. Was kommt, ist schon da

Was ich in meinem Alltag als Pfarrer erlebe, ist kein großes, alles erschütterndes Erdbeben, sondern Schlimmeres als ein Erdbeben. Die alten Kirchenmauern, die jahrhundertelang das, was wir Religion nennen, umschlossen, beschützt und bewahrt haben, werden nicht von einem spürbaren heftigen Erdstoß in Schutt und Asche gelegt. Was sich hinter unserem Rücken, also irgendwie spürbar, aber eben nur schwer fassbar, vollzieht, ist ein inneres Zerbröseln und Bröckeln des alten Gefüges, als würden sich die Steine, die lange die Kirchenmauern getragen haben, von innen zersetzen, verfaulen wie Obst, das überreif ist und seine Zeit gehabt hat. Das Alte trägt nicht mehr, verliert an Plausibilität und Evidenz. Auf einmal verlieren die alten Überzeugungen ihre Kraft, die Netze lösen sich auf. Neue Lebensrhythmen, andere Gewohnheiten, veränderte Perspektiven rücken traditionelle und ererbte Kirchlichkeit in ein blasses, wenig anziehendes Licht. Religion und Glaube sind den Medien jenseits von Pädophilie und Kirchenaustrittsstatistiken lange schon keine Schlagzeile mehr wert, denn das kirchliche Siechtum ist wenig interessant. Einerseits.

Andererseits gibt es offenbar diese vage Sehnsucht nach Spiritualität, diese diffuse Rückkehr der Religion. Der Buchmarkt zu Spiritualität (und Esoterik) boomt und treibt immer neue und überraschendere Blüten. Doch bleibt diese Sehnsucht neblig, schwer zu fassen. An den Kirchen, den organisierten und institutionalisierten Strukturen, zieht sie jedenfalls vorbei, ohne Spuren zu hinterlassen. Die Bankreihen am Sonntagmorgen bleiben zumeist leer.

Das ist der Ausgangspunkt meiner Überlegungen zu dem, was ich als „Freestyle Religion“ beschreiben werde. Mit Absicht wähle ich einen Ausdruck, der im üblichen kirchlich-theologischen Sprachgebrauch eher ungewöhnlich, wenn nicht sogar ein wenig verwirrend ist. In jedem Fall ist „Freestyle Religion“ oder „religious Freestyle“ unbelastet von Vorurteilen und vorschnellen Einordnungen. Freestyle Religion ist das Kommende, das schon da ist, die Kontur des Neuen, das sich zeigt. Wenn wir genau hinschauen, sehen wir diese Kontur bereits an vielen Orten als praktizierte und gelebte Religion. Zugleich enthält sie, wie ich meine, ein noch unentdecktes Potential, das es zu entwickeln und zu stärken gilt – um der Religion und der Menschen willen. Freestyle Religion kommt und ist schon da. Versuchen wir also zu verstehen, was in unserer Gegenwart religiös vor sich geht und was sich zukünftig immer deutlicher zeigen wird. Eine Beschreibung der Gegenwart kommt nicht umhin, auch zu beschreiben, wie es zu diesem Zustand der Gegenwart gekommen ist: Welche Wellen haben der Religion ihre derzeitige Gestalt gegeben, welche Stürme und Sturmfluten sind über sie hereingebrochen?

Und was lassen sich daraus für Schlüsse für ihre zukünftige Gestalt ziehen: Bleiben die Kirchen als Symbolgestalten institutionalisierter Religion ohnmächtige Opfer dieser Prozesse, oder vermögen sie diesen Veränderungsprozessen aktiv eine Richtung zu geben? Ist die Theologie mehr als ein hinterherdenkendes und dogmatisches Anhängsel der Kirche? Oder kann sie vorausdenken, konstruktiv Potenziale und Gestaltungsmöglichkeiten für die Zukunft der Religion entwickeln und in Gang setzen? Kurz: Kommen die Kirchen aus ihrer jammernden und selbstzentrierten Opferrolle heraus und können sie etwas zur Lebensbewältigung, zur Heilung des Einzelnen und des Gemeinschaftlichen heute beitragen? Kritisch beitragen, indem sie Fehlentwicklungen benennen und im Gespräch mit anderen Wissenschaften Kriterien für gelungene Religiosität und Spiritualität so aufzeigen, dass der Einzelne in die Lage versetzt wird, eine eigene Spiritualität, einen eigenen Glaubensstil, seine und ihre Freestyle Religion so zu gestalten, dass sie nicht nur eine Privatsache bleibt, sondern auch aufs Gemeinschaftliche ausstrahlt?

In diesem Sinn versteht sich das Folgende als kritische und praktische Anleitung, die individuelle Art spirituell zu sein, so zu entwickeln, dass sie tragfähig, also eigensinnig, kooperativ und weltzugewandt zugleich ist. Denn eigensinnig, kooperativ und weltzugewandt muss eine Spiritualität sein, so meine Grundthese, wenn sie tragfähig und belastbar sein soll.

Im ersten Teil werde ich versuchen, die Kräfte, die unsere religiöse Gegenwart prägen, sichtbar zu machen. Im zweiten Teil wird es darum gehen, die drei grundlegenden Dimensionen des Religiösen zu beschreiben. Die wesentlichen Merkmale des Freestyle, also die Muster, die unseren Umgang mit religiösen Elementen bestimmen, werden im dritten Kapitel genauer bestimmt. Das vierte Kapitel schließt mit praktischen Übungen.

2. „Freestyle Religion“ und „religious Freestyle“

Um aus den religiösen Festlegungen und Vorurteilen herauszukommen, habe ich für meine Überlegungen einen Terminus gewählt, der ursprünglich aus dem jugendlich geprägten Bereich des Sports kommt, inzwischen aber eine existenzielle Grundhaltung beschreibt. „Freestyle“ bezeichnet seit den 1980er Jahren den individuellen Wunsch, dem Leben einen eigensinnigen und eigenwilligen, ganz persönlichen Stil zu geben. Was sich ursprünglich auf die sportliche Fähigkeit bezog, mit dem Snow- oder Skateboard etwas Eigenes zu kreieren und anderen zeigen zu können, einen eigenen Sprung oder eine neue Sprungkombination, ist inzwischen zum gesellschaftlichen Normalfall geworden: In den 1960er Jahren war jeder ein Künstler. Heute ist jeder ein Freestyler. Jede etwas Eigenes. So lautet der Imperativ des Heute: Arbeite das Besondere deines eigenen Selbst heraus.1

Wenn ich am Rand der Skipiste wackelig auf meinen Ski stehe und (etwas neidisch) zuschaue, wie andere einen spektakulären Sprung nach dem anderen über die Schneerampe hinlegen oder wie „Freerunner“ über Parkbänke und Mauern springen, wird mir deutlich, was Freestyle meint. Jahrelang habe ich in Italien meinen Kindern beim Parcours-Training zugeschaut, wie sie die Bewegungsfolgen für Backflips und Saltos geübt haben. Wer Jugendlichen beim Freestyle-Sport zuschaut, versteht sehr bald, dass sich im „Freestyle“ physisches Können, persönlicher Ausdruck, bewusste Gestaltung, Individualität und Gruppenzugehörigkeit auf einzigartige Weise verbinden.

Mit dem Begriff „Freestyle Religion“ übertrage ich nun das Bedürfnis nach etwas Eigenem auf den Bereich der Religion: Menschen beginnen, ihre Religiosität zunehmend bewusster und in Anpassung an ihre eigenen Lebenslagen und Bedürfnisse als etwas Eigenes zu gestalten. Kein Wunder also, dass auch in anderen Bereichen (und auch in der Theologie) Freestyle zunehmend in den Blick gerät.

So heißen Freestyler in der neueren Wirtschaftssprache „Lead User“. Das sind die Menschen von morgen, weil sie Bedürfnisse haben, die die breite Masse noch lange nicht hat und die darüber hinaus an Problemlösungen arbeiten, die kreativ auf solche Bedürfnisse antworten.2

In der theologischen Dogmatik wird so etwas nicht selten als Bastel-Mentalität und „Bastel-Religion“ abgewertet. Freilich ohne die Nöte und die Sehnsüchte zu verstehen, die einen solchen selbstverantworteten religiösen Gestaltungsprozess motivieren und notwendig machen. Um was es mir im Folgenden geht, ist deshalb mehr und substanzieller als eine solche Bastel-Religion. Seine wirkliche Sprengkraft zeigt der Begriff „Freestyle Religion“ erst, wenn wir ihn im Sinne von „religious Freestyle“ verstehen, also nicht nur als eine weitere Religion, sondern als eine grundlegend neue Haltung der Religion und dem Religiösen gegenüber. Eine Haltung, die das übliche monotheistische Entweder-oder zugunsten eines additiven Sowohl-als-auch übersteigt. Das Substantiv „Religion“ und die Substanz der Religion, der sich klare Zugehörigkeiten und Glaubensinhalte zuordnen ließen, lösen sich zunehmend in das Adjektiv „religiös“ auf, dem diese Klarheit und Eindeutigkeit fehlen. Religionen lassen sich voneinander abgrenzen, religiös sein nicht mehr. So tun wir gut daran, nicht nach Religion, sondern nach religiös sein zu fragen, nicht nach Mystik, sondern nach dem Mystischen, nicht nach Spiritualität als einem abgegrenzten Bereich, sondern nach spirituellen Dimensionen, die sich einem Subjekt erschließen können.

3. Vom Zerbröseln institutionalisierter Religion

Die großen Epochenzäsuren lassen sich in der Regel an einzelnen Ereignissen festmachen: Das Ende des Kalten Krieges lässt sich mit dem Fall der Berliner Mauer eindeutig datieren, die Reformation mit Luthers Thesenanschlag 1517. Ganz gleich, wie viel historisierende Phantasie beim krachenden Anschlagen der 95 Thesen von Martin Luther an die Kirchentür der Wittenberger Schlosskirche mit im Spiel ist – am Ende hat jeder Hammerschlag zum Einsturz der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung geführt. Die Situation, in der wir uns heute befinden, macht es uns da viel schwerer, ein aussagekräftiges Ereignis zu benennen, das uns das An-den-Rand-Drängen institutionalisierter Religion so veranschaulicht, wie es die Beschreibung des belgischen Theologen Bruno Latour tut: „Als man merkte, dass das Kirchenschiff zu weit war, zog man sich auf die Kapelle zurück und überließ den Touristen die heiligen Stätten, die der Verwaltung historischer Baudenkmäler zufielen; dann fand man die Kapelle zu groß und flüchtete in die Krypta; als ihnen die Krypta zu weitläufig erschien, drängten sich die wenigen Verbliebenen in der Sakristei zusammen. Und morgen? Man wird sich in einem Besenschrank verstecken und nicht mehr hinauswagen.“3

Es ist nicht nur ein stiller Exodus aus der Kirche, der sich seit den 1960er Jahren vollzieht. Es ist eben mehr als nur das allmähliche Abschmelzen einer Großinstitution. Es geht vielmehr um das innere Abreißen einer Verbindung zwischen den Menschen und der Kirche als Institution. Es ist wie ein inneres Abhandenkommen, das in den meisten Fällen die Kirchenmitgliedschaft sogar einschließt. Man gehört formell noch zur Kirche, aber man hört nicht mehr hin, fühlt sich bei jedem Kontakt eher fremd als heimisch und versteht die Sprache, die dort gesprochen wird, immer weniger. Wie bei einem alten Ehepaar, das zwar noch im gleichen Haushalt lebt, aber lange schon innerlich ausgezogen ist.

Auf dem Etikett, das diesen Prozess beschreibt, steht Entkirchlichung und Enttraditionalisierung. Was innerhalb der Kirchenmauern gilt, gilt lange schon nicht mehr außerhalb. Was im kirchlichen Inner-Circle Common Sense ist, stößt außerhalb nur noch auf Kopfschütteln: eine kleine Party an Karfreitag, warum nicht? Halloween zu feiern, ist doch cool, oder? Tischgebete sind peinlich, für die Kinder ohnehin und Gästen sowieso nicht zumutbar. Das Problem daran: Auch den Inner-Circle gibt es vielerorts schon nicht mehr. Die einzigen, die Halloween nicht feiern, sind die Pfarrerskinder, die nicht kommen durften.

Um unsere Gegenwart und die Rolle der Religion darin zu verstehen, müssen wir die Geschichte erzählen, die zu dieser Gegenwart geführt hat. Bis vor Kurzem wurde diese Geschichte unter dem Stichwort der „Säkularisierung“ erzählt. Ihre Kurzfassung besagt: In der ausdifferenzierten Moderne wird Religion überflüssig und verliert immer mehr an Bedeutung, bis sie schließlich gänzlich verschwindet. Betrachtet werden kann sie dann nur noch in den Glasvitrinen der historischen Museen. Die letzten Jahrzehnte haben jedoch gezeigt, dass sich das Sterben des bereits totgesagten Patienten Religion nicht nur in die Länge zieht, dass dieser vielmehr erstaunlich vital erscheint. Die Geschichte der Säkularisierung, also das Vorrücken von Wissenschaft und Technik und die Inbesitznahme von einst religiösen Bereichen, muss offenbar differenzierter und anders erzählt werden4 – und zwar so, dass der Bedeutungsverlust institutionalisierter Religion (Kirchen) einerseits und der breitgefächerte Boom des Spirituellen anderseits gleichermaßen in den Blick kommen. Ob dieser Prozess als Verlust beschrieben werden muss oder als Chance der Religion, endlich nichts anderes sein zu müssen als Religion, bleibt dabei zunächst offen: „Die Religion, die durch die Feuertaufe der Säkularisierung gegangen ist, weiß um die Grenzen der Religion, also um die Notwendigkeit der Selbstbegrenzung. Die Gesetze des Himmels und der Erde mit den Mitteln der Religion zu ergründen und zu verkünden: Das geht nicht!Die Kirche ist nun nicht mehr für alles zuständig, nur noch für Spiritualität und Religiosität.“5

Wie immer dieser Prozess bewertet wird – in jedem Fall kommt es zu erheblichen Verschiebungen und Verlagerungen. Und diese erdbebenartigen Verschiebungen sind es, die für die Großkirchen spürbar und immer deutlicher sichtbar werden.

Schauen wir diesen Prozess etwas genauer an, lassen sich mindestens fünf Aspekte ausmachen, die zu dieser Situation geführt haben und sie heute noch prägen.

3.1 Individualisierung eins und zwei

Zur Eigenart geschichtlicher Prozesse gehört es, dass in ihnen verborgene Spannungen und bisher zusammengehaltene Gegensätze erst im Laufe der Zeit deutlich hervortreten und möglicherweise auseinanderbrechen. Das spannungsvolle Beieinander von Religion und Individualität gehört zu diesen Phänomenen. Das Christentum hat sich, anders als das Judentum, zu dem es anfangs noch gehörte, immer an den Einzelnen gewandt. Ohne Ansehen von Herkunft, Sprache, religiöser Zugehörigkeit und Geschlecht galt die christliche Botschaft den Einzelnen, um aus diesen „Herausgerufenen“ die „ecclesia“, die Kirche, zu bilden. So war und ist noch immer die am Einzelnen vollzogene Taufe, die auf der individuellen Glaubensentscheidung (etwa bei der Konfirmation) beruht, zentrales Sakrament des christlichen Glaubens. In diesem Sinne ist christlicher Glaube Quelle von Individualisierung. Soziale und kulturelle Bindungen lässt der Einzelne hinter sich, um seiner individuellen Berufung zu folgen. Zugleich wird diese individuelle Entscheidung durch die Eingliederung in den Glauben der Glaubensgemeinschaft eindeutig begrenzt. Wer sich taufen lässt, bindet sich an den geteilten Glauben der anderen Getauften. So ist christliche Religion sowohl Quelle von Individualisierung als auch deren Gegenteil, nämlich die Beschränkung von Individualität. Der Soziologe Ulrich Beck nennt dieses Stadium Individualisierung eins: „Individualisierung Eins meint Individualisierung in der Religion.“6

Martin Luthers reformatorisches Denken radikalisierte diese individuelle Freiheit des Einzelnen gegenüber der katholischen Amtskirche nachhaltig. „Die ‚Erfindung‘ des eigenen Gottes bildet vielleicht das Herzstück der Revolution Luthers. Er ist es, dem das ‚Undenkbare‘, das ‚Ungeheuerliche‘, die ‚Häresie‘ gelingt, durch die Konstruktion der Gottunmittelbarkeit des Individuums in der Verbindung von dem ‚einen‘ und dem ‚eigenen Gott‘ die subjektive Glaubensfreiheit gegen die kirchliche Orthodoxie zu begründen.7

Trotz der Loslösung des eigenen Gottes von der Amtskirche bleibt dieser jedoch an die christliche Überlieferung, sprich Bibel, gebunden: „Der eigene Gott Luthers ist also keineswegs der ‚Bastel-Gott‘ des 21. Jahrhunderts, sondern der wörtliche Bibelgott, der sich in der Schrift offenbarende, eigne und einzige Gott. So paradox es klingen mag, der ‚eigene Gott‘ Luthers fällt zusammen mit dem einen Gott der Bibel.8

Auch wenn der Soziologe Beck hier das Schriftverständnis Luthers reichlich stark verkürzt und nicht sieht, wie gerade bei Luther das Ankommen Gottes beim Menschen ein lebendiges Geschehen ist, das über den bloßen Buchstaben der Bibel weit hinausgeht,9 bleibt festzuhalten: Die christliche Freiheit im Verständnis Luthers bewegt sich innerhalb der christlichen Überlieferung, vor allem in ihrem Bezug auf die Heilige Schrift.

Wie sich im Verlauf der weiteren Geschichte zeigen sollte, war damit aber noch nicht der letzte Schritt der Inanspruchnahme von Freiheit getan. Es folgte ein zweiter Individualisierungsschub: „Individualisierung Zwei“. In diesem zweiten Schritt nehmen die Einzelnen nicht nur die Freiheit in Anspruch, innerhalb der christlichen Religion frei zu wählen, sondern auch wählen zu können, frei von Religion zu sein. Damit wird Religion eine Option, die man ergreifen kann, aber nicht muss. Zur einzigen Autorität wird damit die individuelle Autonomie, vor der bestehen muss, was Gültigkeit haben soll.

3.2 Kosmopolitische Konstellation

Religiosität wird im 21. Jahrhundert – anders als noch vor 100 Jahren – unausweichlich in einer „kosmopolitischen Konstellation“ gelebt: immer ist man von Gläubigen anderer Religionen, von Nicht-Glaubenden und Anders-Religiösen umgeben. Religiöser Pluralismus wird somit zur Alltagserfahrung, die bis in die innersten Poren des Einzelnen eindringt. Denn allein die Präsenz der Anders-Glaubenden führt vor Augen, dass es durchaus die Möglichkeit gibt, anders und anderes zu glauben und auf andere Weise religiös zu sein. Die selbstgewählte religiöse Option wird damit ein Stück fragiler, weil es offensichtlich auch Alternativen zur eigenen Religiosität gäbe. Wie wir später noch sehen werden, kann Kosmopolitisierung positiv durchaus als Bereicherung der eigenen Religiosität erlebt werden und eine Kultur der Anerkennung anderer mit sich bringen. Die kosmopolitische Konstellation wirft in jedem Fall die Frage auf, wie mit dem Fremden und der eigenen Unsicherheit im Umgang mit ihm umzugehen ist. Längst haben sich religiöse Kulturen aus ihren Ursprungsländern gelöst und sind vor der eigenen Haustür, ja mehr noch: im eigenen Herzen angekommen.

3.3 Kulturalisierung

Immer wieder versuchen Soziologen durch Schlagworte die die Gegenwart bestimmenden Muster und Logiken auf einen Nenner zu bringen: die Risikogesellschaft, die Erlebnisgesellschaft usw. In der derzeitigen soziologischen Diskussion ist es nun Andreas Reckwitz, der mit seinem Versuch, Singularität als das Merkmal der Gegenwart zu beschreiben, viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. In seiner Gesellschaft der Singularitäten untersucht er das Streben spätmoderner Subjekte nach Selbstverwirklichung, Authentizität und Besonderheit. „Sei etwas Besonderes“ ist nach Reckwitz der singularistische Imperativ der Spätmoderne Obwohl die Suche nach Selbstentfaltung ja bereits seit den 1960er Jahren zum Inventar moderner Subjekte gehört, hat sich der Vorgang der Kulturalisierung, wie Reckwitz ihn nennt, nochmals intensiviert und auf praktisch alle Lebensbereiche ausgedehnt. War die Moderne zunächst durch Rationalisierungen geprägt,10 die unter dem Gesichtspunkt der Effizienz das Problem der Knappheit behoben, so tritt in der Spätmoderne neben die Rationalisierung, die genormte Standardprodukte hervorbrachte, das Prinzip der Kulturalisierung. Kulturalisierung meint einen Bewertungsprozess (Valorisierung), in dem Objekte, Subjekte, Räume, Zeiten und Kollektive auf bestimmte Weise in ein soziales Raster eingeordnet werden; mit anderen Worten geht es darum, wie Dinge, Menschen, Zeiten und Orte mit einem kulturellen Wert versehen werden. Von Kultur können wir dort sprechen, wo etwas oder jemandem gesellschaftlicher Wert zu- oder abgeschrieben wird. Die einzelnen Subjekte sind dabei ständig auf der Suche nach etwas Besonderem, das sie emotional berührt. Was emotional berührt, gilt als wertvoll und authentisch und unterscheidet sich so von allem Standardmäßigem. „Ein Nahrungsmittel oder eine Mahlzeit beispielsweise kann zum Gegenstand der Kulturalisierung werden, indem es über seinen Nutzen hinaus als Träger von Wert valorisiert wird (‚gesund‘, ‚originell‘, ‚heilig‘ etc.) und affizierend wirkt (‚erhebend‘, ‚geschmackvoll‘, ‚außergewöhnlich‘) … Die Mahlzeit wird aus dem allgemeinen Katalog der Ernährungsweisen herausgehoben, sie entwickelt eine Eigenkomplexität und innere Dichte …“11

Nahrung dient so nicht nur dem Stillen eines Grundbedürfnisses, sondern wird geradezu sakral aufgeladen.12 In fünf verschiedenen Hinsichten lassen sich Objekte, Subjekte, Orte, Zeiten und Kollektive als wertvoll qualifizieren. Sie können eine ästhetische, narrativ-hermeneutische, ethische, gestalterische oder ludische (spielerische) Qualität erhalten, wobei sie entweder einer Sinndimension oder einer sinnlichen Dimension zugeordnet werden können. Damit nun das einzelne Subjekt selbst zu etwas Besonderem werden kann, muss es sich möglichst viele dieser als dicht und eigenkomplex zu verstehenden Objekte durch Erfahrung aneignen. Verbunden ist damit die Hoffnung, dass durch den Umgang mit diesen einzigartigen Objekten deren Einzigartigkeit auf das Selbst abfärbt. „Etwas gilt (nur dann) in der Welt, wenn es interessant und wertvoll ist, und das heißt: wenn es singulär ist, wenn es affektiv anspricht und authentisch scheint. Konsequenterweise erwartet das spätmoderne Subjekt diese Einzigartigkeit auch von den anderen Subjekten – und von sich selbst.“13

Nun sucht der Einzelne, der selbst einzigartig sein will, ja nicht allein nach dem Besonderen, das er sich aneignen könnte, vielmehr vollziehen sich diese Prozesse, angefeuert durch den Selbstverwirklichungsimperativ, auf einem ganzen Markt, auf dem um Sichtbarkeit und Anerkennung vor einem Publikum gekämpft wird: Singularität ist kompetitiv, geht es doch darum, von einem launischen und zerstreuten Publikum als einzigartig und authentisch bewertet und „gelikt“ zu werden. Die digitalen Medien und Portale zwingen so zur Selbstinszenierung und Performance.

Obwohl nicht alle sozialen Schichten von diesem Phänomen betroffen sind – die sozial Schwachen kämpfen mit anderen Problemen wie unbezahlten Rechnungen und Lebensmittelbeschaffung –, erzeugen die hier beschriebenen Prozesse einen enormen Druck auf den Einzelnen, von dem auch sein Verhältnis zum Religiösen nicht unberührt bleiben kann. Wir werden darauf zurückkommen.

3.4 Entdogmatisierung

Darf man den regelmäßig durchgeführten Umfragen trauen, in denen nach der Zustimmung zu inhaltlichen Aussagen des christlichen Glaubens gefragt wird, nimmt der Abstand der Europäer zu den Lehren der Kirchen immer mehr zu. Einmal mehr zeigt sich, dass institutionalisierte Religion und individueller Glaube immer weiter auseinandertreten. „Die individualisierten Gläubigen laufen wortwörtlich den alten Kirchenvätern und ihren Dogmen davon …“14

In gewisser Weise wird damit die Spannung deutlich, die von Anfang an im Christentum bestand, denn der christliche Glaube zielte von Anfang an auf die individuelle Glaubensentscheidung des Einzelnen, obwohl sich der Einzelne mit diesem Schritt einem vorgegebenen Glaubenssystem unterordnete. In der Gegenwart wird diese Spannung nun zunehmend dahingehend aufgelöst, dass immer weniger dem vorgegebenen dogmatischen Inhalt zugestimmt wird. Vielmehr liegt der Fokus heute auf dem emotionalen und erfahrungsmäßigen Zugang: Ich glaube nur das, was ich selbst erlebt und erfahren habe. Die Konstruktion des „eigenen Gottes“ ist vorläufig der Höhepunkt dieser Entwicklung, die darin besteht, dass „sich der glaubende Mensch den ‚eigenen Gott‘ schafft, dessen Selbstoffenbarung dem ‚eigenen‘ Leben subjektive Gewissheit und Erlösung verspricht.15

Das Stichwort der Entdogmatisierung beschreibt damit ein doppeltes Phänomen: Nicht nur entfernen sich die Glaubenden zum einen von den vorgegebenen Dogmen der Tradition und schaffen sich eigene Glaubenserzählungen. Darüber hinaus wird zum Zweiten der rationale Zugang zu den Inhalten der Tradition durch emotionale Erfahrung ersetzt. „Grundlage der Individualisierung des Glaubens wird damit ein neuer Grundsatz, der sich so formulieren lässt: Es gibt in religiösen Fragen keine Wahrheit außer der persönlichen, die man sich selbst erarbeitet hat.“16

Die Wahrheit der Religion bindet sich somit an die eigene authentische Erfahrung, in deren Kessel die lediglich behauptete kirchliche Lehre verdampft. „Die Vermittlung des christlichen Glaubens in den Formeln der Tradition hat ihre Haltbarkeitsgrenze überschritten.“17

3.5 Enttraditionalisierung

Die bisher in den Blick genommenen Phänomene ließen sich ebenso gut unter dem Stichwort der Enttraditionalisierung zusammenfassen: Das individualisierte Subjekt kehrt vorgegebenen Traditionen und Mustern den Rücken zu, um sich einen eigenen Weg zu suchen. Nicht das Ererbte, nicht die kulturellen und religiösen Kontexte, in die man hineingeboren wurde, tragen durchs Leben, sondern die durch eigene Erfahrung gedeckte und erarbeitete religiöse Identität. Dabei besteht immer auch die Möglichkeit, nur Teilbereiche für sich in Anspruch zu nehmen oder auch gar keine Form zu wählen. „‚Enttraditionalisierung‘ meint: kollektive Religion zerfällt. Wie, in was? In all das, was in der Kirche zusammengebunden war: Riten, Lebensführung, Kollektividentität, Moral, subjektiver Glaube. Diese Komponenten verselbständigen sich und werden teilweise unabhängig voneinander organisiert, nachgefragt und individuell neu kombiniert.18

Das große Leintuch der Religion, auf dem geboren und unter dem gestorben, an dem gegessen und geteilt, gemeinsam gesungen und gebetet, Fülle erlebt und Leere ertragen wurde, dieses große Leintuch hat die Spätmoderne in viele Einzelflicken zerschnitten, die nun denen zum Verkauf angeboten werden, die dafür Verwendung haben.

4. Die Kirchen auf der Suche nach einer neuen Rolle

Durch die beschriebenen Wandlungsprozesse hat sich auch die gesellschaftliche Verortung der Kirchen radikal verändert. Bereits durch die Reformation hatte nicht nur die katholische Kirche ihren exklusiven Heilsvermittlungsanspruch verloren. Im reformatorischen Verständnis war sie zwar als Rahmen individueller Frömmigkeit nach wie vor wichtig, denn in ihr wurde getauft, Abendmahl gefeiert und in der Predigt die Heilige Schrift ausgelegt. Doch ihre heilsnotwendige Funktion hatte sie verloren. Seitdem, so könnte man es etwas überspitzt formulieren, sucht sie nach ihrer Rolle. Ist sie Insider-Club für die Hochmotivierten? Servicestation für Trauungen und Beerdigungen? Anlaufstelle für alle, die beim Psychologen keinen Termin mehr bekommen haben? Wie immer sie sich versteht, sie tut sich schwer damit, ihre Führungsrolle, die sie einmal innehatte, abzugeben. Nicht selten fühlen sich auch ihre Repräsentanten und Angestellten als Opfer gesellschaftlicher Veränderungsprozesse und kämpfen innerlich mit ihrer neuen Verliererrolle.

Gibt es Alternativen zur jammernden Opferrolle? Wie könnte es den Kirchen gelingen, wieder zu fröhlichen Akteuren zu werden, die sich mit einem neuen Selbstverständnis als religiöse Akteure auf einem konkurrenzorientierten und wachsenden Religionsmarkt einbringen?

Möglicherweise beginnt eine Neuorientierung damit, dass die kirchlich Verantwortlichen sehen lernen, dass die oben beschriebenen Prozesse die Menschen heute dazu zwingen, eigenständige religiöse Wege einzuschlagen.

5. Sehnsucht und Notwendigkeit – „der eigene Gott“

Der Soziologe Ulrich Beck hat auf ein wichtiges Missverständnis hingewiesen, das im Zusammenhang mit dem Begriff der „Individualisierung“ immer wieder auftaucht. Unstrittig ist auf jeden Fall, dass die gesellschaftlichen Umwälzungen zu dem geführt haben, was gemeinhin mit „Individualisierung“ bezeichnet wird: Der Einzelne sucht sich seinen eigenen Weg durch das labyrinthische Wirrwarr der Möglichkeiten, Waren, Lebensentwürfe und Religionen. Was zunächst als positive Lust des Auswählens erscheint, entwickelt sich allerdings zunehmend als Last des Auswählen-Müssens. Individualisierung, so Beck, beschreibt eben nicht nur das freiwillige Wählen, sondern auch den Zwang zur Wahl. Wenn Lebensentwürfe und Rollen nicht mehr traditionell vorgegeben sind, muss man sich für eine Möglichkeit entscheiden und die entsprechenden Konsequenzen einer missglückten Wahl tragen. Der falsche Ehepartner und der falsche Beruf lassen sich nicht so einfach „verdauen“ wie ein falsch gewähltes Abendmenu. Und auch wer nichts wählt, trifft eine Entscheidung, die Konsequenzen nach sich zieht. Kurz: Lust und Frust, Traum und Alptraum, Höhenflug und Absturz können sehr nah beieinanderliegen und sind zum Zeitpunkt der Wahl noch nicht voneinander zu unterscheiden.

Neuzeitliche Frömmigkeit, also das, was wir heute Spiritualität nennen, bekommt in dieser existentiellen Risikosituation ihre wichtigste Funktion: Sie soll Halt geben, den eingeschlagenen Weg bestätigen, die auseinanderdriftenden und nicht selten widersprüchlichen Lebensbereiche auf einen grundsätzlichen Lebenssinn zentrieren und nicht zuletzt Krisen abfedern. Damit Spiritualität diesen anspruchsvollen Anforderungen genügen kann, muss sie passgenau sein. Meine Spiritualität muss eben zu meinem Leben passen. Individualisierte Spiritualität ist nicht nur meine Spiritualität in dem Sinn, dass ich sie gewählt, arrangiert und zusammengebaut habe. Meine Spiritualität kann nur dann auch wirklich meine sein, wenn sie zu meiner Persönlichkeit, meinen Lebensbereichen und meiner Sinnsuche passt. Das Erntedankfest vereinigte im 19. Jahrhundert die agrarisch geprägte Dorfgemeinschaft. Weil jeder mindestens ein Schwein im Stall, ein Feld zu bestellen und eine Reihe von Obstbäumen hatte, entsprach der Dank für die eingebrachte Ernte den Lebensumständen der in den Kirchenbänken Sitzenden. Die meisten Hände, die sich zum Dankgebet an diesem Tag falteten, hatten die gleichen Schwielen und Risse vom Ausmisten, Graben und Melken.

Worauf ich hinauswill: Mit der Vervielfachung der Lebensentwürfe und den zunehmend in sich abgeschlossenen Lebensbereichen erreicht die traditionelle Religionsausübung nicht mehr alle. Am Abend hat jeder 500 Fernsehprogramme zur Auswahl. Und am Sonntagmorgen sollen alle den gleichen Gottesdienst feiern?

In einer ausdifferenzierten Gesellschaft müssen religiöse Menschen notwendigerweise ihre eigene Spiritualität formen, soll diese für sie tragfähig sein. So entspricht der Sehnsucht nach Religion, deren Bedeutung in einer säkularen Gesellschaft eben nicht abnimmt, sondern zunimmt, weil das Bedürfnis nach Risikoabfederung steigt, der Notwendigkeit, eine eigene Spiritualität zu formen. Last und Lust der Individualisierung spiegeln sich so in der Sehnsucht und der Notwendigkeit eigener Spiritualität.

Ich empfinde es zunehmend als unbarmherzig, wenn von kirchlicher Seite die – zugegebenermaßen oft erstaunlichen – Spiritualitäten unserer Zeitgenossen verunglimpft werden. Wer die Not sieht, die sich hinter diesen Formen verbirgt, wird mit Sicherheit sehr viel behutsamer darüber urteilen und sprechen. Einen Ertrinkenden wird man wohl kaum auf seinen ungenügenden Schwimmstil hinweisen.

Wie eine solche zeitgenössische Spiritualität konkret aussehen könnte, darauf werfen wir anhand eines konkreten Beispiels im nächsten Abschnitt einen genaueren Blick – auch um zu sehen, ob dieses tatsächlich zu einer sinnvollen und tragfähigen Spiritualität führt.

6. „Urban mystix“

Die Kieler Theologieprofessorin Sabine Bobert hat eine postmoderne Spiritualität für „Stadteremiten“ entworfen. Unter dem Label „urban mystix“ versucht sie einen zeitgemäßen Frömmigkeitsstil zu beschreiben. Mit Hilfe eines „mentalen Wendepunkts“ (MTP – Mental Turning Point), der sich in drei Übungen vollzieht, möchte sie „Klosterübungen im Westentaschenformat“ anbieten, für die es kein abgeschiedenes Kloster braucht. Vielmehr wird der Alltag zum Übungsfeld. Die drei praktischen Übungen vollziehen sich auf den drei Ebenen, die menschliches Leben ausmachen: auf der Gefühls-, Willens- und Denkebene. Damit der Einzelne spürt, dass er autonom und selbstbestimmt handeln kann, schlägt Sabine Bobert vor, eine zweckfreie Handlung mehrmals täglich auszuführen. So kann ich erfahren, dass ich nicht ganz im z. T. fremdbestimmten Alltagsgefüge untergehe, sondern für einen kurzen Moment aussteige und tue, was ich will. Auf der Gefühlsebene geht es darum, durch bildliche Vorstellungen positive Gefühle wie Liebe oder Frieden hervorzurufen. Eine bildliche Szenerie verbindet sich mit einem Gefühl, das durch eine Imagination jeder Zeit aufgerufen werden kann. Die eigenen Gedanken werden durch ein einfaches und wiederkehrendes Mantra gezügelt und auf Wesentliches gelenkt. Durch diese drei Übungen kann der Einzelne, so Bobert, in Stufen zur Selbsterkenntnis gelangen.

Wie ist diese Spiritualität einzuordnen? Was leistet sie und was fehlt? Mir scheint, dass die von Sabine Bobert verwendete Sprache ihre Intentionen am besten spiegelt. Ich zitiere einige Stellen und kommentiere diese kurz.

„Sie können die Leistungsfähigkeit Ihres Gehirns durch MTP-Techniken nachhaltiger steigern als durch chemische Unterstützung und die Dauer-Abhängigkeit von Medikamenten“19 (25).

Offenbar geht es bei dieser Form der Spiritualität um Leistungssteigerung. Lieber meditieren als Medikamente nehmen. Ist das die Alternative? Es verwundert deshalb auch nicht, dass die Autorin von Erfolg spricht: „Erst wenn Sie die Willens-Übung längere Zeit mit der Haltung einer liebevollen Selbstwahrnehmung geübt haben, können Sie damit beginnen, erfolgsorientiert zu üben.“ Wohin führt dieser Erfolg? Begrüßt den Erfolgreichen am Ende der Stufenleiter Gott selbst?

„Die Gefühls-Übung befähigt Menschen zur selbständigen Krisenbewältigung“ (53).

Das moderne Subjekt ist krisenanfällig. Diese Spiritualität verspricht Krisenbewältigung. Damit passt sie genau in die Bedarfsliste des spätmodernen Menschen. Offenbar findet der Übende dann alles in sich selbst.

„Die Autonomie über die eigenen Gefühle ist eine befreiende Machterfahrung“ (67).

Wie viel Religion steckt noch in einer solchen Spiritualität, wenn wir Religion im weitesten Sinne als Bezug auf etwas, das außerhalb unserer selbst zu finden ist, verstehen?

„Jeder spirituelle Weg kann zum Ego-Trip werden“ (80).

Richtig. Was genau unterscheidet diese Spiritualität von einem Ego-Trip? Weist sie den Weg in die Gemeinschaft, zu anderen, zu Verantwortung und Engagement oder kreist sie vor allem um sich selbst? So überrascht es nicht, dass es am Ende heißt:

„Das große Ziel ist: eine ununterbrochene klare Selbstbewusstheit für unser eigenes Bewusstsein in seinen Hauptkräften: Wollen, Fühlen, Denken. Erst der in dieser Form selbstbewusste Mensch lebt wirklich autonom“ (165).

Ist das eine angemessene „Zielvorgabe“ für eine Spiritualität? Ist es das, was gelebte Religion ausmacht?

Meine kritischen Anmerkungen dürften hinreichend deutlich gemacht haben, dass ich mit der von Sabine Bobert skizzierten Spiritualität meine Mühe habe. Nicht, dass etliche ihrer Einsichten nicht sinnvoll und tragfähig wären, aber das Gesamtbild, das sie entwirft, könnte einer „Ego-Spiritualität“ näherstehen als dem, was Spiritualität im substanziellen Sinne sein könnte – oder sein sollte. Urban mystix ist das, was man als säkulare Spiritualität bezeichnen könnte, weil es in ihr keinen Bezug mehr gibt zu etwas, was außerhalb der Eigenkräfte des Menschen liegt. Spiritualität wird in dieser säkularen Variante zu nichts anderem als zu einem Mittel, die eigenen Ressourcen zu stärken.

Welche Dimensionen fehlen hier? Oder grundsätzlicher gefragt: Welche Dimensionen braucht Spiritualität, damit sie tragfähig und substanziell ist? Wie und woher lassen sich solche Dimensionen gewinnen? Offenbar gibt es ja verschiedenste Formen von Spiritualität, die nicht alle gleichermaßen vieldimensional sind, sondern nur bestimmte Teilaspekte verwirklichen. Welche Dimensionen braucht eine Spiritualität, damit sie mehr ist als nur das Selbstgespräch des Menschen mit sich selbst und ein Programm zur Selbstoptimierung?

7. Von den Versuchungen der Spiritualität

Ein Blick in die Versuchungsgeschichte Jesu kann den Blick für unsere Suche schärfen. Anders, als es sonst üblich ist, möchte ich diese Geschichte nicht als eine Begebenheit im Leben Jesu lesen, sondern als exemplarische Geschichte über die Gefährdungen spirituellen Lebens. Nach der Taufe, so heißt es bei Markus, Lukas und Matthäus, führt der Geist Jesus in die Wüste. Das christliche Leben muss sich nach der Taufe bewähren. Der Geist Gottes muss in den Auseinandersetzungen des Alltags erkennbar bleiben – als Kraft des Widerstandes gegen das Abrutschen des Spirituellen. Welche Gefährdungen lassen sich für den gelebten Glauben erkennen?

Jesus wird vom Versucher für 40 Tage und 40 Nächte in die Wüste geführt – eine symbolische Zahl und Zeit, die andeuten: Es ist ein langer Zeitraum, den Jesus fastend und betend in der Wüste verbringt. Über bestimmte Zeiträume hinweg schaffen wir es gut, zu widerstehen und gefasste Entscheidungen durchzuhalten, vielleicht sogar auf gute Weise spirituell zu sein. Die Versuchungsgeschichte weiß aber um die gefährlichen Momente, die nicht sofort, sondern erst nach einer Weile auftreten. Wenn wir etwas Neues beginnen, sind wir ja besonders am Anfang aufmerksam und achtsam; nach dieser ersten Phase stellt sich Gewöhnung ein. Die Sache läuft, denken wir, und je länger, desto mehr lässt unsere Aufmerksamkeit nach. Wir fühlen uns sicher. In genau diesem Moment tritt der Versucher auf, fangen die einflüsternden, versuchenden Stimmen zu sprechen an. Sie flüstern und wispern, sie schreien und dröhnen, sind aus dem Kopf nicht wegzubekommen. Wie Ohrwürmer dringen sie in Jesus ein und fordern ihn heraus. Immer wieder der gleiche Satz: „Bist du Gottes Sohn, dann handle …“ Die Stimmen stellen in Frage, lassen zweifeln und bieten verführerische Alternativen an.

In der ersten Gefährdung fordert der Versucher Jesus auf, Steine in Brot zu verwandeln. Natürlich geht es nicht nur ums Brot. Es geht um das Angewiesen-Bleiben auf etwas, das nicht in meiner Macht steht. Magie ist der Versuch, das Unverfügbare in die eigene Machtsphäre zu bringen. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern aus jedem Wort, das Gott spricht, antwortet Jesus. Nicht ich selbst spreche mir die lösenden, befreienden und nährenden Worte zu, sondern ich lasse mir diese Worte sagen. Weil diese Worte eben nicht meine eigenen sind, sind sie für denjenigen, der selbst alles sein will, ärgerlich. Spiritualität aber, gelebter Glaube, braucht die anderen, die das Gotteswort an mich weitergeben, und braucht Gott, der dieses Wort spricht. Nicht ich schaffe mir meine eigene Tradition, sondern ich tauche in die Worte anderer ein und lasse sie mir gesagt sein. Deshalb besteht die Antwort Jesu jeweils aus einem Zitat aus dem Alten Testament. Ich gestehe mir ein, nicht mein eigener Grund zu sein. Ich bleibe auf andere angewiesen, bin eingewoben in Gemeinschaft und in Gott, der mich anspricht und freispricht vom Wahn, selbstmächtig zu sein. Weil ich nicht selbstmächtig bin, brauche ich Gott und die anderen.

Die zweite Versuchung: Die dämonischen Stimmen werden immer bedrohlicher und schärfer und führen Jesus auf einen hohen Berg: Wenn du Gottes Sohn bist, spring! Gott wird dich tragen. Jesus soll Gott herausfordern, ein sichtbares und unzweifelhaftes Zeugnis seiner Macht abzulegen und ihn im Flug aufzufangen – entweder selbst oder auch durch ein ganzes Engelsheer. Was für eine kindliche Vorstellung. Und doch: Wir sind in der Gefahr, Gott zwingen zu wollen, in unsere Logik zwingen zu wollen. Wir stehen nicht nur in der Gefahr, selbstmächtig sein zu wollen, sondern uns auch Gottes zu bemächtigen. Gott in der Hand zu haben, das wäre das höchste aller Gefühle. Ich springe und zwinge Gott zum Eingreifen. Spiritualität lebt nicht selten von der Sehnsucht, sich Gottes bemächtigen zu können und so die Unverfügbarkeit Gottes unter Kontrolle zu haben. Ich bestimme, wann und wie Gott handelt.

In der dritten Versuchung wird die Stimme des Versuchers immer leiser, immer verführerischer. Immer höher geht es hinauf, jetzt, am höchsten Punkt, lässt sich alles übersehen: Schau, sagt der Versucher zu Jesus: alles deins. Du kannst über allem stehen, kannst vollkommen unabhängig und allmächtig sein. Die dritte Versuchung fasst die beiden anderen Versuchungen zusammen und setzt ihr zugleich die Krone auf. Der Versucher sagt: Alles gehört dir, wenn du bereit bist, mir zu dienen. Vielleicht könnte man sogar sagen: Die eigene innere Stimme sagt: alles deins, wenn du bereit bist, nur dir selbst zu dienen. Die eigene Spiritualität im Dienst des Ego, der eigenen Interessen, der eigenen Selbstüberhebung und der eigenen Allmachtsphantasien.

Spiritualität ist gefährlich und gefährdet. Wie kommen wir nur darauf, zu meinen, menschliche Religiosität sei irrtumsfrei und vorm Abrutschen ins Unsinnige gefeit. Der Theologe Matthias Kroeger hat – bei aller Hochschätzung menschlicher Suche nach Gott – auf diese Gefahr immer wieder eindringlich hingewiesen: Spiritualität ist nicht von sich aus unfehlbar.20 Die häufigsten Gefährdungen von Spiritualität lassen sich im Anschluss an die Versuchungsgeschichte vielleicht auf folgende drei Kurzformeln bringen:

Spiritualität ja, Religion nein – eine religionsfreie Spiritualität Religion steht hier für den Bezug auf ein Zeichensystem, das ich als Einzelner nicht geschaffen habe, sondern in das ich mich hineinstelle. Religion ist ein unverfügbares Kommunikationsgeschehen, das sich in Liturgien und Glaubenstraditionen vollzieht, die ich nicht bestimmen und beeinflussen kann. Wer Religion in diesem Sinne ablehnt, meint, dass nichts gilt, das ich nicht selbst erschaffen habe.

Spiritualität ja, Gemeinschaft nein –

eine ich-zentrierte Spiritualität

Gemeinschaft meint in diesem Zusammenhang das Bezogensein auf andere. „In seiner religiösen Welterfahrung ist der Mensch niemals allein.“21 Religiöses Erleben bleibt trotz seiner individuellen Färbung dennoch gebunden an die Erfahrungen anderer. Sonst wären solche Erfahrungen ja auch gar nicht mitteilbar. Wo religiöse Erfahrungen sich nicht mehr mit anderen teilen lassen, bekommen sie dämonische Züge.

Spiritualität ja, Gott nein – eine transzendenzfreie Spiritualität

Die dritte Formel bezieht sich darauf, dass nicht wenige Spiritualitäten ohne „Gott“ auskommen, also ohne einen Bezug auf etwas, das das Individuum transzendiert. Johann Baptist Metz nennt eine solche Spiritualität sehr treffend eine „religionsfreundliche Gottlosigkeit“. Eine solche kreist nur um den Einzelnen und hat keine universale Dimension mehr.

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