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Heinrich und die Sintflut

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Und die Sintflut war vierzig Tage auf Erden, und die Wasser wuchsen und hoben die Arche auf und trugen sie empor über die Erde. Und die Wasser nahmen überhand und wuchsen sehr auf Erden ...

Heinrich lag auf seinem Bett, streckte die Arme und damit das Buch, das er in Händen hielt, von sich weg und tastete nach der vergilbten, zerknitterten Fotografie, auf der seine Mutter abgebildet war. Auf dem Kopfkissen wurden Heinrichs Finger fündig: Eine junge Frau, zwei schlaksige, flachsblonde Söhne neben sich. Er hatte es jahrelang im Portemonnaie mit sich getragen, das war dem Bild anzusehen. Jetzt diente es ihm als Lesezeichen. Er steckte das Bild in die Bibel, die er immer noch ausgestreckt in der anderen Hand hielt, und klappte sie geräuschvoll zu. Vorsichtig, fast zärtlich legte er das dicke Buch auf die Kommode.

Heinrich rieb sich die Augen, reckte seine Glieder und gähnte einen lauten langgezogenen Seufzer. Steif erhob er sich vom Bett und stakste, ungelenk und o-beinig, unentschlossen durch das kleine Zimmer. Vor dem Waschbecken blieb er stehen, griff nach der Keramikschüssel, hielt sich daran fest und machte eine Kniebeuge. Dabei ließ er es bewenden. Er schlurfte zur Schlafstatt zurück und warf sich wieder auf die Bettdecke. Im Liegen griff er zum Tabaksbeutel, der neben der Bibel auf der Kommode lag. Er kramte nach den Blättchen, zog eines aus der flachen Packung heraus, schichtete gleichmäßig Halbschwarzen hinein, feuchtete das Papier mit der Zungenspitze an und klebte es sorgfältig zu. Mit einem Streichholz entflammte er die Selbstgedrehte. Zweimal sog er den Rauch tief in seine Lungen und blies ihn jeweils in kleinen Ringen und Wölkchen in Richtung Zimmerdecke. Dann legte er die Zigarette in den Aschenbecher, fegte mit dem Handrücken in kurzen schnellen Bewegungen die Tabakkrümel von seiner Brust und griff wieder zur Bibel.

Heinrich wog das schwere Buch in seiner Hand und schmunzelte einen Augenblick über sich selbst, wobei er unbewusst den Kopf schüttelte. „Ich lese die Bibel!“, lachte er im Stillen. Er schlug sie auf. Das Lesezeichen-Foto steckte im ersten Buch Mose. Im siebten Kapitel, bei Vers siebzehn war er stehengeblieben.

Es war nicht ganz grundlos, dass Heinrich über sich selbst schmunzelte. Vor zwei Tagen erst hatte er begonnen, die Bibel zu lesen. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er dieses Buch in die Hand genommen. Mit siebenunddreißig Jahren. Es war überhaupt das erste „richtige“ Buch, das er las, seit er aus der Schule gekommen war. „Richtiges“, damit meinte Heinrich ein dickes, in Leinen gebundenes Buch. In den letzten Jahren hatte er sich damit begnügt, gelegentlich einen Groschenroman am Kiosk zu kaufen. Jerry Cotton war Heinrichs Favorit, auch Western mochte er. Doch selbst diese Heftchen las er selten, abends nach der schweren körperlichen Arbeit war er dazu meist zu müde. Und so blätterte er in der Mittagspause die BILD-Zeitung seines Arbeitskollegen durch, überflog die fettgedruckten Schlagzeilen. Das war‘s dann mit Lesen.

Entsprechend schwer fiel ihm die ungewohnte Lektüre, zumal die der alten, umständlichen Bibelsprache (er hatte eine Lutherbibel). Zugleich fesselte ihn, was er las. So war Heinrich immerhin schon bei der Geschichte von der Sintflut und Noahs Arche angelangt.

Am ersten Abend hatte er in der Schöpfungsgeschichte davon gelesen, wie Gott in sieben Tagen die Erde gemacht hat. Gestern hatte er von Adam und Eva, vom Sündenfall, von Kain und Abel und dem Brudermord erfahren. Heute las Heinrich von Noah. Alles schien ihm aufregend lebendig, nicht wie ein Roman, sondern so, als ob es ihn unmittelbar selbst anginge.


Vorgestern Abend hatte Heinrich die Coffeebar besucht, eine Art christliche Talkshow, die einmal pro Woche nahe der Reeperbahn stattfand.

Er war eigentlich nur hingegangen, um sich von seinen quälenden Gedanken abzulenken. Dort, bei der Heilsarmee, wo sich bei Kaffee und Keksen und gemütlichem Kerzenschein die Gelegenheit bot, ein paar Leute zu treffen, die er kannte, nett fand und mit denen man sich unterhalten konnte, war das vielleicht möglich. Alleine vor dem Fernsehapparat in seiner kleinen Dachgeschosswohnung war es ihm jedenfalls nicht gelungen. Nicht einmal das Europapokalspiel hatte ihn fesseln können. So setzte er sich in die U-Bahn und fuhr nach St. Pauli.

Ganz zufällig war Heinrich vor einigen Jahren in die Coffeebar geraten. Er war nach der Arbeit über die Reeperbahn gebummelt und auf eine Gruppe Singender getroffen. Da er kein bestimmtes Ziel verfolgte, hatte er sich von einem der Heilssoldaten, die kleine bunte Handzettel verteilten, einladen lassen. Die Atmosphäre und die Leute in der Coffeebar hatten ihm gefallen. Seither kam Heinrich – unregelmäßig regelmäßig, je nach Laune, Lust und Stimmung.

Diesmal wollte Heinrich sich ablenken. Ablenken von dem zermürbenden Kreisen in seinem Kopf, das ihm seit Tagen nachts den Schlaf und tagsüber die Konzentration raubte, weil es endlos um ein und dasselbe Thema spulte: Die Miete. Wovon sollte Heinrich seine Miete bezahlen? Der Termin war überfällig, das Geld war weg.

Er hatte seinen Lohn an Automaten verspielt. Verspielt! Wieder verspielt. Wo er endlich eine Wohnung hatte und eine Arbeit. Und dann das. Den gesamten Lohn verspielt. Diese sch... Automaten!

Im Gespräch mit einer Bekannten löste sich der Gedankenkrampf tatsächlich. Erstaunlich schnell. Er hatte sie an jenem ersten Abend kennengelernt, und wie an jedem Donnerstag hatte sie auch heute schon auf Heinrich gewartet und ihn mit dieser Herzlichkeit begrüßt, die er noch nie verstanden, aber dafür um so mehr genossen hatte. Eine Herzlichkeit, die so überwältigend war, dass Heinrich den unangenehmen Seitenhieb schlicht überhörte – die Frage, wo er die letzten beiden Wochen gewesen sei.

Sie hatten nicht einmal über sein Problem geredet, sondern über alles mögliche, aber allein die Ablenkung hatte Heinrich so gut getan, dass er in einer Zigarettenpause vor der Tür den ersten klaren Gedanken seit Tagen fassen konnte.

Wie mit einem Schlag blickte er wieder durch den Schlamassel hindurch, der noch vor Minuten so bedrohlich undurchsichtig ausgesehen hatte: Er würde Aufschub bekommen. Er zahlte seine Miete regelmäßig und meistens pünktlich. Sein Vermieter würde ihm zwei Wochen Zahlungsfrist gewähren. Außerdem würde sein Chef ihm einen Vorschuss genehmigen, schließlich war er hochzufrieden mit ihm. So einfach war das.


Heinrich war ein guter Arbeiter, ein echter Malocher. Er arbeitete ihm Freihafen. Kaum jemand konnte beim Löschen der Schiffsladung zupacken wie er. Per Kran wurde die Ladung aus den Bäuchen der gewaltigen Frachtschiffe mit ihren fußballfeldgroßen Stauräumen gehoben, Eisenbahnwaggons verfrachteten sie in die noch größeren Lagerhallen der Speditionsfirmen.

„Hat sich das Boxtraining doch gelohnt“, dachte er manchmal bei der Arbeit, „auch ohne Titel und Prämien.“

„Und“, schob es sich meistens von selbst dazwischen, schmerzhaft, weil es die verdrängte, unliebsame Vergangenheit war, die sich ungefragt zu Wort meldete, „und ohne es eigentlich anzuwenden.“

Mit dreizehn hatte Heinrich zu boxen begonnen, doch bevor er wirklich gut war, starb sein Vater – und damit sein Ziel: Er hatte ihm all das heimzahlen wollen, was der betrunkene Vater den Söhnen und der Mutter angetan hatte.

Weil er Spaß am Boxen gefunden und einige kleine Erfolge erzielt hatte, blieb er dennoch einige Jahre im Training. Als Hilfsarbeiter, eine andere Arbeitsstelle gab es nicht für einen Sonderschüler ohne Schulabschluss, profitierte er nun vom harten Training und der erlangten Kraft und Zähigkeit.


Der gemütliche Plauderteil der Coffeebar war vorüber, es folgte eine kurze Predigt. Viele Besucher verabschiedeten sich. Auch Heinrich ging normalerweise zu diesem Zeitpunkt; mit dem Hinweis, dass er früh aufstehen und schwer arbeiten müsse. Einmal hatte er sich eine Predigt angehört, das war ihm genug gewesen. Er hatte sie nicht schlecht gefunden, ohne den lästigen Kanzelton, der ihn in seiner Konfirmandenzeit regelmäßig eingeschläfert hatte. Aber besonders angesprochen hatte sie ihn auch nicht. Heinrich war nicht religiös.

Irgendwie hatte er heute keine Lust, aufzubrechen. So saß er, als das Licht anging und die Halogenstrahler die Kanzel im Vordergrund des Saales beleuchteten, unter den vielleicht sechzig Zuhörern und lauschte den Worten des jungen Mannes. Es war keine Predigt im eigentlichen Sinn. Der Mann berichtete aus seinem Leben. Er erzählte von seiner Spielsucht.

Heinrich saugte jedes Wort auf. Das kannte er. Genau das, was der Prediger da vorne erzählte, erlebte Heinrich auch. So ging es ihm. Genau so. Tag für Tag. Immer wieder. Der gurgelnde Strudel der Spielleidenschaft ergriff ihn und zog ihn mit Urgewalt in seine schrecklichen Tiefen hinab. So oft er sich aus eigener Kraft am Schopf gepackt und wieder herausgezogen hatte, über kurz oder lang hatte es ihn wieder gepackt. Seit er nicht mehr trank, spielte er und wenn er eine Zeit nicht gespielt hatte, griff das Verlangen zu trinken nach ihm, so stark, dass er lieber spielen ging. Das war der Strudel, der Teufelskreis, der seit Jahren an ihm zerrte. Der Strudel, dessen Kreiseln immer schneller wirbelte und der Heinrichs Widerstandskraft von Woche zu Woche aufzehrte. Und der da vorne kannte das.

Der Prediger sprach weiter. Er erklärte, dass Jesus ihm geholfen habe. Durch ein Sündenbekenntnis und ein Gebet habe er die Kraft bekommen, mit dem Spielen aufzuhören. Die Worte trafen Heinrich wie Keulenschläge. An jedem anderen Tag hätte er, je nach Stimmungslage, entweder still in sich hinein gelacht über den Blödsinn, der ihm da untergejubelt werden sollte, oder er wäre aufgesprungen und hätte dem Kerl einen Vogel gezeigt, ihn einen Spinner genannt. Heute nicht. Heinrich wusste: Jetzt ist meine Chance. Die Chance, aufzuhören, loszukommen, freizuwerden. Er glaubte dem, was er hörte – ohne zu wissen, warum.

Nach der Predigt hielt es Heinrich nicht auf seinem Stuhl. Er sprach den jungen Mann an. Sie setzten sich in eine abgelegene Ecke, wo sie unter vier Augen sprechen konnten, und Heinrich schilderte dem Mann seine Not. Alles platzte aus ihm heraus. Das Spielen, das Trinken, das Bereuen und das erneute Spielen. Sogar die Erlebnisse im Elternhaus, die er noch nie jemandem anvertraut hatte, berichtete er ihm. Der Mann hörte ihm lange zu, stellte ihm zwischendurch einige Fragen und gab hier und da ein paar kurze Kommentare. Als Heinrich geschlossen hatte, knieten sie nieder und beteten miteinander.

Heinrich sprach ein Gebet nach, und in diesem Moment war ihm, als wenn die Gewichte mit einem Mal von seinen Füßen abfielen, die ihn so oft in den Strudel des Spielenmüssens herabgezogen hatten und die täglich Pfund um Pfund zugelegt hatten.

Als sie aufstanden, war Heinrich unsicher und konnte noch nicht recht glauben, dass er da eben zum ersten Mal in seinem Leben gebetet hatte. Alles war so unwirklich. Doch zugleich war ihm seltsam wohl und leicht zumute.

„Hast du eine Bibel? Es ist eine große Hilfe, wenn du darin jetzt liest. So kannst du Jesus besser kennenlernen. Das wird dir helfen, wenn die Lust zu spielen sich zurückmeldet.“

Nein, Heinrich hatte keine Bibel. Der junge Mann bat ihn, einen Augenblick zu warten, verschwand in einem Nebenzimmer und kehrte mit einem Buch in der Hand zurück. Er schenkte es ihm. Heinrich sträubte sich einen Moment. Er fühlte sich durch das Gebet schon so sehr beschenkt, da wollte er nicht auch noch die Bibel umsonst nehmen – und er war sich nicht sicher, ob er überhaupt darin lesen würde. Heinrich war kein großer Leser. Doch der junge Mann drängte ihn und er war so erfüllt von der Predigt und dem Gebet, dass er sie ihm kein zweites Mal abschlagen mochte.

Daheim legte Heinrich die Bibel auf sein Nachtschränkchen, neben den kleinen schwarzen Plastik-Reisewecker und hinter den überquellenden Aschenbecher. Sich selbst setzte er aufs Bett, drehte sich eine Zigarette und dachte über diesen ungewöhnlichen Abend nach. Sollte das wirklich, wie der Prediger gesagt hatte, ein neuer Anfang gewesen sein?

Er drückte die Kippe in den Ascher und nahm die Bibel hervor. Beim Lukas-Evangelium sollte er anfangen, war ihm erklärt worden. Wo ist das? Heinrich blätterte in dem unbekannten Buch. Er fand das Inhaltsverzeichnis: „Inhalt des Alten Testamentes“, stand da, ein Lukas-Evangelium war nicht zu finden. Er blätterte eine Seite weiter: „Inhalt des Neuen Testamentes“, jetzt wurde er fündig. „Das Evangelium nach Lukas.“ Er suchte die betreffende Seitenzahl. Er schlug die Seite auf, doch das war nicht das Lukas-Evangelium. Er war verwirrt. Eine Weile blätterte er suchend in der Bibel herum. Plötzlich entdeckte er, dass hinten noch einmal neu gezählt wurde. Dort begann das gesuchte Evangelium auf der angegebenen Seite.

Heinrich war überrascht. Es war mitten im Buch! Der junge Mann musste sich geirrt haben. Heinrich hatte zwar lange kein „richtiges“ Buch mehr angerührt, aber dass man Bücher am Anfang und nicht in der Mitte und schon gar nicht so weit hinten beginnt, das wusste er – schließlich ging es hier nicht um den Sportteil einer Zeitung oder das gehütete Geheimnis eines spannenden Thrillers, das er aus Neugierde gelegentlich vorweg las.

„Also, wenn ich schon lese, dann richtig. Von vorne nach hinten“, sagte er entschlossen zu sich selbst.

So begann er beim ersten Buch Mose.

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde ...

Heinrich war fasziniert. Er empfand das gleiche Gefühl, das er während der Predigt gehabt hatte. Hier wurden seine Fragen beantwortet.

Er hatte oft aus seinem kleinen Hinterhof-Fenster geschaut, die Spatzen auf der Regenrinne beobachtet und sich gefragt, wer sie wohl gemacht hat. Auch bei anderen Tieren und bei kleinen Kindern war es ihm so gegangen. Oder wenn er am Elbufer stand, die Schiffe beobachtete und sich überlegte, woher all diese Ozeanriesen kamen und wie es in den fernen Ländern ihrer Heimat aussehen mochte. Wer hatte all das gemacht? Woher stammten die Menschen und die Welt? Er hatte auf diese Fragen keine Antwort gefunden. Nun las er die Antwort in der Bibel: Gott hat sie gemacht.

Heinrich las das nicht wie einen Krimi vor dem Zubettgehen oder wie die BILD-Zeitung in der Frühstückspause. Sondern er las es und wusste: Es stimmt. Es stimmt anders und tiefer, als die Nachrichten in der Tagesschau stimmen. Er hätte wieder nicht sagen können, warum, aber er las und er wusste:

„Was ich hier lese, ist die Wahrheit. Die Wahrheit, nach der ich schon immer gesucht habe.“

Lange dachte er über jeden gelesenen Abschnitt nach. Bis er müde wurde und über seiner Lektüre einschlief.

Am nächsten Tag konnte er kaum erwarten, dass die Arbeit zu Ende ging. Er eilte nach Hause und steckte seine Nase sofort wieder in das begeisternde Bibelbuch. Sogar das Abendessen vergaß er. Am übernächsten Tag das Gleiche. Heinrich war Feuer und Flamme für das, was dort geschrieben stand und in sein Leben hinein sprach.


Und die Sintflut war vierzig Tage auf Erden, und die Wasser wuchsen.

Plötzlich fühlte Heinrich Wasser um sich her. Überall. Von allen Seiten. Unentrinnbar war er von Wassermassen umgeben. Sie tröpfelten zuerst langsam durch das Dach und fluteten bald darauf durchs Giebelfenster in sein Zimmer hinein. Das Wasser stieg. Zentimeter um Zentimeter. Kroch an den Wänden und an Heinrich empor, schwappte über die Möbel, leckte an seinem Körper und füllte den Raum bald bis kurz unter die Decke. Panik ergriff ihn. Wie wild ruderte er mit den Armen. Doch die hilflosen Versuche waren umsonst. Er war dem Wasser ausgeliefert. Wehrlos.

Heinrich konnte nicht schwimmen. Sein Atem versagte. Benommen tastete Heinrich nach seinem Bett. Es war trocken. Er griff an seine Jeans. Trocken. Das Sweatshirt – ebenfalls trocken. Kein Wasser weit und breit. Heinrich atmete auf. Es war also wieder dieser panikartige Angstanfall gewesen.

Die Angst vor dem Ertrinken kannte Heinrich seit seiner Kindheit. Seit diesem Erlebnis im Sportunterricht. Diesem blödsinnig banalen Erlebnis – das ihn jedoch seither verfolgte. Ihn, den nichts sonst schreckte!

Im Sommerhalbjahr hatte Schwimmen auf dem Stundenplan gestanden. Heinrich hatte Angst vor Wasser. Er war sowieso ein ängstliches Kind gewesen, Wasser schreckte ihn besonders. Seine Schwimmlehrerin hatte ihn, den kleinen furchtsamen Drittklässler, der sich zierte und nicht hineingehen mochte, ins Wasser des Freibades gestoßen. Zur Freude aller seiner Klassenkameraden, die den zappelnden und prustenden und, als er endlich den Rand des Bassins erreicht hatte, wasserspeienden Heinrich lauthals ausgelacht hatten. Es hatte keine Gefahr bestanden. Das Wasser war nur etwa brusthoch gewesen, die Lehrerin hatte bereit gestanden. Eine Banalität also – doch sie verfolgte ihn. Er schämte sich für seine Furcht, doch sie ließ ihn nicht los. Ein Psychologe in der Alkoholtherapie hatte ihm die Anfälle erklären wollen. Sie hätten mit dem Elternhaus zu tun, mit traumatischen Erfahrungen, eine Art Neurose, bla, bla, bla ... Heinrich hatte kein Wort verstanden. Geholfen hatte es auch nicht. Die Anfälle waren geblieben.

Heinrich war noch atemlos von diesem letzten kurzen Anfall, das ganze Geschehen stand wieder quicklebendig vor ihm.

„Diese Furie!“ Wut schäumte in Heinrich auf. „Diese verd...“

Er unterbrach sich selbst, erschrocken über seinen Fluch.

Leise sprach er vor sich hin:

„Vergib mir meine Schuld, wie auch ich vergebe.“

Das war sein Gebet gewesen, am Donnerstagabend in der Coffeebar. Er hörte den Prediger die Bedeutung dieser Worte erklären, sah sich nicken und hörte sich Wort für Wort nachsprechen.

„Wie auch ich vergebe.“

Während er den Satz wiederholte, merkte Heinrich plötzlich, dass die Panik und die Wut ihm das friedliche, ausgeglichene Gefühl geraubt hatten, das seit zwei Tagen sein neuer innerer Begleiter – ein willkommener Freund – geworden war und ihn von der Spielhalle ferngehalten hatte. Statt dessen brodelte es jetzt unruhig in ihm. Er kannte dieses Brodeln nur zu gut. Zum ersten Mal seit vorgestern meldete es sich. Etwas musste geschehen. Sonst würde die Spielsucht ihn ...

Er sah auf die Bibel in seiner Hand. Die Sintflutgeschichte hatte den Anfall ausgelöst. Bisher hatte die Bibel ihm Frieden geschenkt und die Suchtanfälle genommen. Wie konnte es sein, dass sie ihm jetzt den Frieden raubte? Er dachte eine Weile darüber nach. Plötzlich verstand Heinrich.

Er warf die Bibel aufs Bett und sprang auf. Hastig lief er ein paar Schritte durch die Wohnung, griff nach einer Plastiktüte, die auf dem Hocker neben der Küchenzeile lag. Im Badezimmer stopfte er eilig einige Sachen hinein, im Schlafzimmer kamen ein paar andere dazu. Er suchte eine Weile im Schrank. T-Shirts und Hosen flogen im Bogen auf die Erde. Da lag das Gesuchte! Flugs verschwand es im Beutel. Mit der vollen Tüte in der Hand eilte er aus dem Haus.

Eine halbe Stunde später stand Heinrich in seiner altmodischen halblangen Badehose – wie lange war es her, dass er sie getragen hatte? – am Rand des Schwimmbeckens. Das Wasser der kalten Dusche tropfte von seinen bleichen Beinen und Armen auf die geriffelten weißen Kacheln des Hallenbodens. Es perlte in großen Tropfen von Heinrichs langen blonden Haaren, rann in breiten Bächen über seine Schultern und den Rücken hinab. Gänsehaut überzog seinen Körper. Ihn fröstelte.

Vor ihm spannte sich die blau-grün schimmernde Oberfläche des Wassers und spiegelte die symmetrischen Lampenreihen der Hallendecke, gelegentlich durchbrochen von den kleinen Wellen, die die Schwimmer aufwirbelten. Eine ältere Dame mit einer blümchenverzierten Badekappe drehte nah am Beckenrand ihre Runden. Als sie umkehrte, schlug sie Wellen und das Wasser schwappte über seine Füße. Erschreckt fuhr Heinrich zusammen. Etliche Hektoliter füllten das Becken, eine bedrohliche Masse, die sich schwerfällig bewegte und nochmals über seine Zehen schwappte. Chlorgeruch stieg ihm in die Nase, drang bis in die Stirnhöhlen.

Heinrich schloss seine Augen, kämpfte mit seiner Angst und betete ein stilles Gebet.

„Vergib mir, wie auch ich vergebe.“

Dann kniff er mit Daumen und Zeigefinger seine Nase zu, schloss die Augen und sprang ins Wasser.


Brunos Dankeschön

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