Читать книгу Operation Werwolf - Fememord - Uwe Klausner - Страница 15
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ОглавлениеBerlin-Lichtenberg, Betriebsbahnhof Rummelsburg
14:30 Uhr
Entweder er griff zur Waffe, oder die Sache würde komplett aus dem Ruder laufen.
Jakubeit hatte die Wahl.
Das Wichtigste war, die Ruhe zu behalten. Auch wenn es ihm noch so sehr gegen den Strich ging. Und sich die Wut, die seine Galle zum Brodeln brachte, nicht anmerken zu lassen. Wer aus der Haut fuhr, schadete sich selbst am meisten.
Und spielte seinen Gegnern in die Hände.
Genau darin bestand das Problem. Wenn die Emotionen in ihm hochkochten, war seine Selbstbeherrschung dahin. Irgendwie verständlich, wenn man sich die Situation auch nur einen Moment vor Augen hielt. Denn was sich sein Komplize da geleistet hatte, das ging über seinen Horizont.
Und gegen den Strich ging es ihm auch.
Einfach so hier aufzutauchen, aus einer Laune heraus, ohne Kontaktaufnahme.
Und dann noch am helllichten Tag.
Das sieht diesem Tollpatsch ähnlich.
Jakubeit bebte vor Zorn. Er hatte geredet und geredet und geredet. Er hatte davor gewarnt, die Zügel schleifen zu lassen. Hatte mit Engelszungen plädiert, die Kripo nicht zu unterschätzen.
Umsonst.
Die Katastrophe war perfekt, so gut wie jedenfalls. Entgegen sämtlichen Warnungen, nur ja kein Risiko einzugehen, hatte Wischulke sie samt und sonders ignoriert, wider jegliche Vernunft, aus einer Sektlaune heraus.
Einfach so, ohne ersichtlichen Grund.
Von daher gab es für ihn zwei Möglichkeiten. Entweder er ging an seinen Spind, schnappte sich seine Walther PPK und erledigte das Problem, bevor er Gefahr lief, der Polizei vor die schussbereite Flinte zu laufen. Bisher war es ihm zwar gelungen, sie nach Belieben an der Nase herumzuführen, doch war er klug genug, sein Blatt tunlichst nicht zu überreizen. Auf einen Toten mehr oder weniger kam es im Endeffekt nicht an, ob er nun Müller, Mayer oder Wischulke hieß. Dennoch war etwas in ihm, das zur Vorsicht riet, allen sonstigen Gewohnheiten zum Trotz.
Man konnte es als innere Stimme, Instinkt oder was auch immer bezeichnen, die Botschaft lautete, Ruhe zu bewahren. Ausgerechnet jetzt hoch zu pokern und dabei das Risiko einzugehen, dass er seine Pläne gänzlich über den Haufen werfen musste, im Moment kam das nicht infrage. Zuerst kamen er und die geplanten Maßnahmen, und danach kam überhaupt nichts mehr. Waren sie geglückt, würde er 100.000 RM kassieren, Berlin auf Nimmerwiedersehen Lebewohl sagen und sich einen Spaß daraus machen, die SS bis auf die Knochen zu blamieren. Die Dokumente, in deren Besitz er sich befand, sie reichten aus, um die Welt in helle Aufregung zu versetzen. Zwei, drei Artikel, falls möglich, auf der Vorderseite der »New York Times« oder der »Washington Post«, und ein Aufschrei der Empörung würde um den Globus gehen. Die Amerikaner würden Gift und Galle spucken, allen voran ihr profilsüchtiger Präsident. Und das zu Recht, so schwer er sich damit tat, dies zuzugeben. Einfach mal so über 60.000 Polen im Akkordtempo umzubringen, da gehörte schon was dazu. Etwas Vergleichbares hatte es noch nicht gegeben, innerhalb weniger Tage schon gar nicht.
Aber macht nichts, anscheinend waren die Nazis ganz wild darauf, sich in Rekordzeit ihr eigenes Grab zu schaufeln. Denn was Himmler sich von der Aktion erhofft hatte, nämlich dass die Weltöffentlichkeit so gut wie nichts davon mitbekäme, das würde sich nicht bewerkstelligen lassen. Selbst wenn es ihm nicht gelänge, sich mithilfe der Geheimdossiers aus dem Staub zu machen, das »Unternehmen Tannenberg« – so der damalige Deckname – würde publik werden. Den Russen war es mit Katyn genauso gegangen, und wenn alles so lief, wie er sich das vorstellte, hatten Himmler und Konsorten ein Problem. Die Amerikaner, das wusste beinahe jedes Kind, warteten nur darauf, in den Krieg einzutreten, und wie die Dinge lagen, bekamen sie ihn frei Haus.
Und zwar mit seiner Hilfe – und mit dem allergrößten Vergnügen.
Doch zuvor würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als sich seinen unbotmäßigen Adlatus vorzuknöpfen. Als ihm eine Lektion zu erteilen, die er so schnell nicht vergessen würde. Noch so ein idiotischer Einfall, und seine Pläne würden sich endgültig in Luft auflösen.
Das galt es zu verhindern, mit aller Macht und um jeden Preis.
»Na warte, mein Freund, dir werde ich was erzählen«, murmelte Jakubeit erbost, trat ans Fenster des langgestreckten Schaltraums, der sich im Obergeschoss des Stellwerks Vnk befand, und nahm sein Fernglas zur Hand, um bessere Sicht zu haben. »Das ist gegen die Abmachungen, tu bitte nicht so, als ob du es nicht wüsstest. Wie kann man nur so dämlich sein wie du, ich fasse es nicht!«
Der Mann hatte wirklich Nerven. Überquerte die Gleise der Fernbahn, als sei dies die normalste Sache der Welt.
Sah weder nach rechts noch nach links.
Blickte sich um, als sei der Teufel hinter ihm her. Ein Alarmzeichen erster Güte, die Ruhe vor dem Sturm.
Wie konnte man nur so verdammt unprofessionell sein.
Da half nur eins, Ruhe bewahren. Die Handkante an der Stirn, auf der sich quecksilberfarbene Schweißperlen bildeten, nickte er mechanisch mit dem Kopf. Das also kam dabei heraus, wenn man sein Vertrauen auf ehemalige SS-Kameraden setzte. Entweder die Kanaillen ließen einen im Stich, so geschehen vor knapp zwei Jahren, oder sie bauten Mist, dass man die Hände über dem Kopf zusammenschlug.
Oder, schlimmer noch, sie lieferten einen ans Messer.
Such es dir aus, Max.
Und tu endlich was, sonst geht es dir an den Kragen.
Irgendwas war hier nicht in Ordnung, das konnte er mit bloßem Auge sehen. Am Ende des Laufgangs angekommen, von wo aus es nur noch wenige Schritte bis zum Stellwerk waren, rang der tumbe Koloss nach Luft, noch aufgeschwemmter als vor zwei Jahren, als Jakubeit die Ehre besaß, als sein Stubenkamerad zu fungieren. Auf Komfort hatte er zwar noch nie übermäßigen Wert gelegt, aber was ihn nervte, war, dass Wischulke die Gewohnheit entwickelte, ihm auf Schritt und Tritt zu folgen, im Guten wie im Schlechten. War es doch dieser Versager gewesen, dem er es verdankte, dass er Hals über Kopf ins Verderben gelaufen war. Hätte er ihn nicht abgelenkt, die Begegnung mit dem Flittchen wäre anders verlaufen.
Und seine Karriere, die in ein Desaster ohnegleichen mündete, vermutlich auch.
Von Beruf Hilfsweichensteller, mit einem Verdienst von 161 RM im Monat. Welch ein Unterschied zu früher, als die Quelle, aus der er schöpfte, noch am Sprudeln gewesen war. Als dem Verräter, der sich Kamerad schimpfte, nichts anderes übrigblieb, als nach der Pfeife von Maximilian Jakubeit zu tanzen. Einen Skandal zu vertuschen war nämlich eine Sache – und eine höchst knifflige obendrein. Etwas gänzlich anderes, wiewohl Komplizierteres, stellte der Wert der jeweiligen Geheiminformationen dar. Anders ausgedrückt, wer aus den Dossiers, die er in einem unbeobachteten Moment an sich gebracht hatte, kein Kapital schlug, der war zu gut für diese Welt.
Oder so dumm wie altes Brot, je nach Standpunkt des Betrachters.
Doch eins nach dem andern, zuerst kam dieser dämliche Fettsack dran. Er hatte seine Gründe gehabt, ihn ins Vertrauen zu ziehen, so banal sie auch immer gewesen sein mochten. Für Jakubeit, der so gut wie keine Ahnung von Chirurgie besaß, war Wischulke ein Geschenk des Himmels gewesen. Oder des Leibhaftigen, auch das eine Frage der Perspektive. Bei Ausbruch des Krieges vor zwei Jahren war Wischulke zwar lediglich Sanitätsgefreiter gewesen, hatte jedoch rasch dazugelernt – respektive dazulernen müssen. Die ideale Voraussetzung, Medizin zu studieren, wäre er sich selbst nicht im Weg gestanden.
Viel zu jung, viel zu fett, viel zu träge. So hatte es der Regimentsarzt, ehedem Stationsleiter in der Charité, umschrieben.
Eine Einschätzung, die der Wahrheit ziemlich nahe kam.
Auch und gerade dann, wenn man über ihn Bescheid wusste. Menschliche Schwächen, über die man hierzulande kein Wort verlor, mit inbegriffen. Hätten die Nazis nichts dagegen gehabt, dass die Volksgenossen so lebten, wie sie wollten, es wäre schwierig gewesen, Wischulke für seine Zwecke einzuspannen. Und so gut wie unmöglich, ihn zu einem willfährigen – weil erpressbaren – Werkzeug zu machen.
Der Fettklops hatte nach seiner Pfeife zu tanzen, ob es ihm in den Kram passte oder nicht.
Und damit Feierabend.
»Ich muss dich sprechen – hast du mal eben kurz Zeit für mich?«, fiepte Wischulke in der Manier eines Kastraten, das Gesicht gerötet von der Mühe, die es ihn kostete, über die Wendeltreppe ins Obergeschoss des Stellwerks zu gelangen. »Es ist dringend, sonst würde ich dich nicht stören.«
»›Stören‹ ist vielleicht das falsche Wort«, stieß Jakubeit mit zusammengebissenen Zähnen hervor, das Fernglas, mit dem er die Umgegend des Stellwerks mit zusammengekniffenen Augen musterte, in der durchscheinenden linken Hand. »›Ins Handwerk pfuschen‹ wäre richtiger!«
Wischulke hechelte nach Luft, das Gesicht ein einziges Fragezeichen, in dem sich Unmut und aufkeimende Panik spiegelten. »Falls es dich beruhigt, Max – mir ist niemand gefolgt. Ich weiß ja schließlich, was auf dem Spiel steht.«
»Genau das, mein lieber Heinz, habe ich mich gerade eben gefragt!«, hielt Jakubeit mit drohendem Unterton dagegen, vermischt mit einem Hauch von Spott, um den aufkeimenden Jähzorn zu kaschieren. »Sag mal, bist du eigentlich noch ganz bei Trost? Wenn uns jemand zusammen sieht – was dann?«
»Wie gesagt: Es ist dringend.«
»Jetzt hör mir mal gut zu, mein Freund. Entweder du hältst dich an meine Direktiven, oder du lernst mich kennen. Damit eins klar ist, du Experte: Zu bestimmen hat in diesem Raum nur einer, und das bin ich. War das klar genug, oder hat der Herr Sanitätsgefreite noch Fragen?«
Wischulke, vier Jahre jünger, teiggesichtig, schafsäugig und fast doppelt so schwer wie sein Herr und Meister, dachte offenbar nicht daran, sich einschüchtern zu lassen. Knetete die platte Nase und überlegte hin und her, wie er seine Hiobsbotschaft schonend an den Mann bringen sollte. »Momentan nicht, danke der Nachfrage.«
Jakubeits Gesicht, zuvor noch düster, angespannt und drohend, hellte sich wie nach einem reinigenden Gewitter auf. »Na, dann wären wir uns ja einig, oder?«
»Du hörst mir einfach nicht zu, Max. Das war schon immer dein Problem.«
»Auch noch frech werden, wie?« Die Lippen geschürzt, schnappte der Werwolf nach Luft. »Also raus mit der Sprache, was spukt in deinem Schwammkopf herum?«
»Nichts weiter«, hielt der unförmige Koloss dagegen, die Lider gesenkt, um dem Blick des Werwolfs zu entgehen. »Es ist nur so, dass …«
»Dass was?«, stieß Jakubeit mit lauerndem Blick hervor und ließ den Blick wie zufällig durch den Schaltraum schweifen, auf der Suche nach der Weichenstellstange, die ihm bereits mehrfach wertvolle Dienste geleistet hatte. »Mach endlich den Mund auf, ich bin kein Hellseher!«
Wischulke, dem die Furcht ins aufgedunsene Profil geschrieben stand, ließ den Blick wie im Takt nach rechts und von dort aus wieder nach links wandern. Dann fasste er sich ein Herz und wimmerte: »Die Bullen haben meine Datsche durchsucht.«
»Sagt wer?«
»Ein Nachbar.«
»Name?«
»Adolf Peschke.«
»Verlässlich?«
Wischulke zuckte mit den Achseln. »Und wenn nicht, was würde das ändern? Ich bin am Arsch, Max, machen wir uns nichts vor!«
Armer Heinz. Kein bisschen Mumm in den Knochen. Und zu allem Unglück kein bisschen Grips im Hirn.
Und naiv wie ein sechsjähriges Kind.
»So beunruhigend sich das für dich anhört, Heinz: Damit mussten wir rechnen.«
»Na, du machst mir vielleicht Spaß! Wenn die Bullen rauskriegen, wem die Hütte gehört, werden sie mir auf die Bude rücken, und was dann passiert, möchte ich nicht wissen. Du bist doch vom Fach, oder etwa nicht? Nehmen wir doch mal an, die Gestapo mischt bei der Fahndung mit, was, denkst du, werden die mit mir machen?« Außer Atem vor Furcht, welche die Fettringe an seinem Hals zum Vibrieren brachte, riss Wischulke hilfesuchend die Arme empor. »Die werden mir das Fell gerben, darauf gehe ich jede Wette ein!«
Ist ja auch dick genug, dachte der Werwolf amüsiert, ein Lächeln auf den Lippen, das in Sekundenschnelle erstarb. »Komm endlich zum Punkt, Heinz. Worauf willst du hinaus?«
»Die Sache wird mir zu heiß, Max. Ich möchte aussteigen – und zwar sofort!«
»Du möchtest was?«, stieß der Werwolf mit drohendem Unterton hervor, der Blick so entgeistert, als habe er sich verhört. Nur um unmittelbar danach sein wahres Gesicht zu zeigen: »Sag mal, Wischulke – bist du eigentlich noch ganz bei Trost? Weißt du überhaupt, was du da sagst, oder hast du einen über den Durst getrunken?«
»Ich meine es ernst, Max. Auf mich kannst du nicht mehr zählen.«
»Was du nicht sagst, Wischulke.«
Armer Heinz.
Der typische Befehlsempfänger, geboren, um vor anderen den Kotau zu machen. Ohne Mumm, ohne Esprit und ohne eigene Meinung. Und naiv bis zum Gehtnichtmehr.
»Keine krummen Dinger mehr. Das habe ich mir geschworen.«
»Was du nicht sagst!«
»Gib dir keine Mühe, Max. Mein Entschluss steht fest.«
Die Stellstange im Visier, die sich auf dem Sims an der Schmalseite des Schaltraums befand, pfiff der Werwolf maliziös durch die Zähne. Die Roststellen am Griff waren zwar nicht zu übersehen, aber was den erhofften Effekt betraf, würde die Stange ihren Zweck erfüllen. »Dein letztes Wort, Wischulke?«
Der Sanitätsgefreite nickte.
Wimpern wie die einer Frau, die Brauen gezupft und mit dunkelblauem Schminkstift nachgezogen.
Wie sehr ihn dieser Fleischklumpen doch anwiderte.
Die Stellstange in der linken Hand, deren Spitze auf der Unterseite seiner Prothese ruhte, schlenderte Jakubeit durch den mit Abfällen übersäten Raum, trat auf den einstigen Kameraden zu und flüsterte: »Ich finde, du solltest dir das Ganze noch mal überlegen. Du erwartest doch nicht, dass ich tatenlos zusehe, wie du mich in die Scheiße reitest, oder? Denn über eins, du aufgeblasene Schwuchtel, musst du dir im Klaren sein: Solltest du es wagen, aus der Reihe zu tanzen, bekommst du es mit mir zu tun. Damit wir uns richtig verstehen: Entweder du nimmst Vernunft an, oder ich sehe mich gezwungen, die Gestapo zu informieren. Du weißt ja, auf Leute wie dich sind sie in der Prinz-Albrecht-Straße nicht gut zu sprechen, schon gar nicht, wenn du mich zwingst, aus dem Nähkästchen zu plaudern.« Jakubeit blinzelte amüsiert, in Gedanken beim geplanten Finale, von dem ihn nur noch wenige Stunden trennten. »Also, was ist, du Memme – bist du dabei oder nicht?«