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I. Einleitung

In diesem Kapitel wird beschrieben, was Gegenstand und Methode der Wissenschaft der Ontologie oder Allgemeinen Metaphysik ist. Zwei erkenntnistheoretisch mögliche Deutungen von Gegenstand und Methode der Ontologie werden aufgewiesen. Die Frage des Erkenntnisanspruchs, den Ontologie erheben kann, ihrer Wissenschaftlichkeit und ihres Nutzens wird diskutiert, wobei Ontologie mit anderen Wissenschaften innerhalb und außerhalb der Philosophie verglichen wird.

1. Was ist Ontologie?

Gegenstand der Allgemeinen Metaphysik oder Ontologie

Das Thema dieses Einführungsbuches ist die Allgemeine Metaphysik oder Ontologie. Daneben gibt es die Spezielle Metaphysik, die jedoch nicht Thema dieser Einführung ist. In der Allgemeinen Metaphysik geht es, grob gesagt, um die Grundstrukturen des Wirklichen und Nichtwirklichen auf einer ganz allgemeinen Ebene, d. h. um die allgemeinsten Strukturen und Unterscheidungen im Wirklichen und Nichtwirklichen.

Gegenstand der Speziellen Metaphysik

Die Allgemeine Metaphysik hat dabei rein beschreibenden Charakter: Die Grundstrukturen des Wirklichen und Nichtwirklichen werden beschrieben, aber sie werden nicht erklärt. Wenn man nach Erklärungen sucht, dann ist das vielmehr ein Thema für die Spezielle Metaphysik. In der Speziellen Metaphysik geht es um Welt und Mensch, und dabei rücken dann auch gewisse kontingente Gegebenheiten dieser wirklichen Welt in den Mittelpunkt. Es wird gefragt: Warum bestehen diese kontingenten Gegebenheiten, wo sie doch als kontingente Gegebenheiten nicht bestehen müssen? Aber die Spezielle Metaphysik ist, wie gesagt, nicht das Thema dieser Einführung.

Ihr Thema ist die Allgemeine Metaphysik, die Ontologie, deren Thema die Grundstrukturen des Wirklichen und Nichtwirklichen sind. Wenn man Wirkliches und Nichtwirkliches in einem Begriff zusammenfassen will, dann könnte man sagen: Es geht in der Ontologie um die Grundstrukturen des Seienden (daher der Name „Ontologie“, vom griechischen Wort „on“ – „seiend“). Wenn man so sprechen will, dann darf man freilich unter dem Seienden nicht eo ipso bloß das Wirkliche verstehen, sondern muss auch das rein Mögliche und das Unmögliche, wenn dergleichen vorhanden ist, als Seiendes gelten lassen. Etwas, das nicht wirklich ist, aber immerhin möglich – auch das muss als etwas Seiendes gelten können, und ebenso Unmögliches. Ansonsten würde man dem Anspruch der Ontologie nicht gerecht, eine allgemeinste Wissenschaft von allem überhaupt zu sein.

Es geht in der Ontologie nur um die Grundstrukturen, also die allgemeinsten Charakteristika des Wirklichen und Nichtwirklichen. Wenn man etwas Spezielleres ins Auge fasst, dann ist das schon nicht mehr ein Thema der Ontologie, sondern gegebenenfalls ein Thema der Speziellen Metaphysik, z. B. diese Welt und der Mensch in ihr: Was ist das Verhältnis von Welt und Mensch? Wie ist der Mensch in die Welt eingeordnet und auf sie bezogen? Warum gibt es eine Welt? Warum ist sie ausgerechnet diese da: diese Welt, mit der wir konfrontiert sind? Alle diese Fragen zeigen Themen der Speziellen Metaphysik an. Wie ersichtlich wird in der Speziellen Metaphysik nicht nur auf Spezielleres eingegangen, sondern es werden auch Warum-Fragen gestellt, die man in einem kausalen Sinn, aber auch in einem finalen verstehen kann. So gelangt man zu der Frage nach der ersten Ursache und dem letzten Zweck der Welt und des Menschen in ihr. All dies – und vieles mehr – ist Thema der Speziellen Metaphysik.

Die Allgemeine Metaphysik, die Ontologie hat demgegenüber, wie erwähnt, rein beschreibenden Charakter. Es geht in ihr um eine Beschreibung der Grundstrukturen des Wirklichen und Nichtwirklichen.

Methode der Ontologie

So weit zur Charakterisierung des Themas dieser Wissenschaft – denn das soll die Ontologie ja sein: eine Wissenschaft. Bei einer Wissenschaft wird nun nicht nur nach dem Gegenstandsbereich gefragt, nach dem Gebiet, mit dem sie sich befasst, sondern auch nach ihrer Methode. Wie kommt die Ontologie zu ihren Erkenntnissen? Sie soll uns ja Erkenntnisse vermitteln. Wie gewinnen wir also Einsicht in die Grundstrukturen des Wirklichen und Nichtwirklichen?

Dies kann im Wesentlichen auf zweierlei Weise geschehen. Wir könnten, zum einen, unsere Erfahrung betrachten, Erfahrung von der Welt, und daraufhin untersuchen, was denn ihre Grundzüge, ihre Grundcharakteristika sind, insbesondere die Fundamentalcharakteristika der Objekte, die uns in der Erfahrung begegnen, in all ihrer Mannigfaltigkeit. Dies ist der direkte Zugang zu den Grundstrukturen des Wirklichen und Nichtwirklichen.

Ontologie und Sprache

Aber tatsächlich wird dieser direkte Zugang meistens nicht gewählt, sondern es wird ein Umweg über die Sprache gemacht (schon der erste Ontologe, Aristoteles, tat dies, wie seine Kategorienschrift zeigt). Die Grundstrukturen des Wirklichen und Nichwirklichen werden betrachtet, insoweit sie sich in der Sprache niedergeschlagen haben. Also, um an die Grundstrukturen des Wirklichen und Nichtwirklichen erkenntnismäßig heranzukommen, betrachten wir die Grundstrukturen der Sprache, mit der wir über das Wirkliche und Nichtwirkliche sprechen. Dieser indirekte Zugang hat gegenüber dem schon beschriebenen direkten Zugang den Vorteil, dass die Strukturen der Sprache viel greifbarer für uns sind als unmittelbar die Strukturen der Erfahrung. Die Erfahrung ist ja im Fluss, und was in ihr allgemein und allgemeinst ist, das ist, unmittelbar genommen, ziemlich schwer auszumachen. Doch glücklicherweise hat sich das, was im Fluss der Erfahrung allgemeinst-strukturell ist, immer schon in der Sprache niedergeschlagen, hat sich dort quasi versteinert und ist somit konstant vor unseren Augen: in den Strukturen der Sprache, wobei die Strukturen der Sprache nicht etwa schon mit ihrer reinen Syntax oder Grammatik gegeben sind, sondern ihre semantischen Strukturen mitumfassen. Die Sprache ist sozusagen das Instrument, das uns die Grundstrukturen des Wirklichen und Nichtwirklichen enthüllt. Nicht durch direktes Hinschauen nehmen wir, in der Regel, Kenntnis von ihnen, sondern indem wir über Wirkliches und Nichtwirkliches sprechen, es in der intersubjektiven Sprache repräsentieren, die sich in Jahrhunderten herausgebildet hat, haben wir die Grundstrukturen des Wirklichen und Nichtwirklichen in der Sprache abgebildet und können von diesen, in der Reflexion auf die Sprache, Kenntnis nehmen.

Bezüglich der Wissenschaft der Ontologie gibt es zwei grundlegend verschiedene erkenntnistheoretische Ansätze, die zu zwei verschiedenen Deutungen des sprachlichen Zugangs zu den Grundstrukturen des Wirklichen und Nichtwirklichen – oder des Seienden – führen. Der eine Ansatz ist der realistische (oder, wenn man auf historische Ursprünge anspielen will, der aristotelische); den anderen Ansatz könnte man als konstruktivistischen (oder kantianischen) bezeichnen.

Der realistische Ansatz in der Ontologie

Der realistische Ansatz ist dieser: Die Grundstrukturen des Seienden sind, wie dieses insgesamt, an sich gegeben und spiegeln sich, durch die Erfahrung hindurch, in den Grundstrukturen der Sprache. Sie sind an sich da, werden abgebildet in der Sprache – wenn auch mit gewissen Verzerrungen –, und an der Sprache können wir sie mehr oder weniger wirklichkeitsgetreu ablesen. Das ist die eine Deutung unseres erkenntnismäßigen Zugangs zu den Grundstrukturen des Seienden mittels der Grundstrukturen der Sprache.

Der konstruktivistische Ansatz

Der konstruktivistische Ansatz ist ein anderer: Nach ihm sind die Grundstrukturen des Seienden, wie dieses insgesamt, nicht an sich gegeben, sondern jene Strukturen sind Projektionen der Grundstrukturen der Sprache in die Erfahrung. Beim konstruktivistischen Ansatz wird also das Projektionsverhältnis zwischen Sprache und Seiendem gewissermaßen umgekehrt zur realistischen Auffassung gesehen. Beim realistischen Ansatz prägen die Grundstrukturen des Seienden die Grundstrukturen der Sprache; beim konstruktivistischen Ansatz dagegen „prägen“ die Grundstrukturen der Sprache die Grundstrukturen des Seienden – „prägen“ zunächst in Anführungsstrichen, denn am Seienden, sofern es als an sich gegeben gilt, können die Grundstrukturen der Sprache natürlich nichts ändern. Auf das Seiende allerdings, sofern es als erfahrungsabhängig gilt, können sie sehr wohl einen Einfluss ausüben. Nach konstruktivistischer Auffassung sind die Grundstrukturen des – erfahrungsabhängig aufgefassten – Seienden nicht an sich gegeben, sondern was wir meinen, von Grundstrukturen des Seienden an sich gegeben einfach vorzufinden, das ist in Wahrheit eine Projektion unserer Sprache, eine Art Licht-und-Schatten-Muster, das die Sprache auf unsere Erfahrung wirft.

Wie auch immer man das Projektionsverhältnis zwischen Sprache und Seiendem deutet, ob realistisch oder konstruktivistisch, ob mit „Seiendes“ Seiendes an sich gemeint ist oder vielmehr erfahrungsabhängig Seiendes, es ist wichtig zu sehen, dass der Inhalt der Ontologie völlig gleich bleiben kann. Wir können – als realistische oder als konstruktivistische Ontologen – auf dieselben Grundstrukturen des Seienden, das wir kennen, geführt werden (und über Seiendes, das wir nicht kennen, können wir keine Aussagen machen); nur, als realistische Ontologen verstehen wir diese Grundstrukturen so, dass sie im an sich Seienden gegeben sind und sich in der Sprache spiegeln; und als konstruktivistische Ontologen verstehen wir sie so, dass sie im erfahrungsabhängig Seienden dadurch gegeben sind, dass sie auf unsere Erfahrung durch die Sprache projiziert werden. Denkbar ist auch, dass Konstruktivismus und Realismus in der Ontologie beide in Totalität genommen falsch, aber partiell richtig sind, wobei wiederum ganz verschiedene Aufteilungsverhältnisse zwischen beiden Positionen denkbar sind – ohne dass wir das Geringste davon feststellen könnten. Zentrales Erkenntnisinstrument der Ontologie ist jedenfalls die Sprache, sowohl bei realistischer als auch bei konstruktivistischer Auffassung des Seienden und seiner Grundstrukturen.

Linguistische Relativität der Ontologie?

Es wird manchmal behauptet, verschiedene Sprachen implizierten verschiedene Ontologien (das ist die so genannte linguistische Relativitätsthese; siehe dazu [1-1], Kap.4) – was, falls wahr, ein Beleg dafür wäre, dass der Konstruktivismus wenigstens partiell richtig ist. Doch kann diese These nicht als hinreichend gut begründet gelten. Zum Beispiel sind die angeführten angeblichen ontologischen Unterschiede zwischen Sprachen zu speziell, um als ontologische Unterschiede gelten zu können. (Man könnte somit eher von einer Sprachrelativität der Speziellen Metaphysik sprechen.)

Der konstruktivistische Ansatz in der Ontologie ist ein idealistischer. Die Sprache hängt vom Menschen ab, ist Menschenwerk; deshalb wird, wenn der konstruktivistische Ansatz richtig ist, die Grundstruktur des ohnehin schon als erfahrungsabhängig geltenden Seienden ebenfalls zu Menschenwerk: als eine Projektion der Sprache. Gäbe es uns nicht und keine Sprache, dann gäbe es auch keine Grundstrukturen des erfahrungsabhängig Seienden, wie es ja auch dieses selbst nicht gäbe. Es ist zwar logisch möglich, dass es dennoch irgendwelche Grundstrukturen des an sich Seienden gäbe; aber gemäß dem konstruktivistischen Ansatz gilt jedenfalls, dass wir keinerlei Vorstellung davon haben können, welche diese Grundstrukturen wären. Nach realistischem Ansatz hingegen gilt: Wenn es keine Sprache und uns nicht gäbe, so wären die Grundstrukturen des Seienden dennoch genau die, die wir kennen und von denen wir uns doch recht genaue Vorstellungen machen können; denn diese Grundstrukturen sind unabhängig von uns und unserer Sprache (wenngleich sie sich in ihr spiegeln).

So viel sei zum realistischen und zum konstruktivistischen Ansatz in der Ontologie gesagt. Für den Inhalt der Ontologie ist es, wie gesagt, unerheblich, welcher der beiden Ansätze der richtige ist. Nicht unerheblich ist diese Frage hingegen für den Erkenntnisanspruch, der mit dem Betreiben von Ontologie verbunden wird. Der Erkenntnisanspruch der Ontologie wird uns allerdings in den folgenden Kapiteln nicht weiter interessieren, sondern vielmehr der Inhalt der Ontologie, der es in jedem Fall wert ist, zur Kenntnis genommen zu werden, gleichgültig welcher erkenntnistheoretische Anspruch damit verbunden wird.

Frage des Erkenntnisanspruchs der Ontologie

Ich will aber an dieser Stelle der epistemologischen Frage des Erkenntnisanspruchs der Ontologie noch ein wenig nachgehen. Ein Erkenntnisanspruch kann sich auf zweierlei beziehen: auf die Objektivität der Erkenntnisse und auf ihre Begründungssicherheit. Bezüglich der Objektivität der ontologischen Erkenntnisse erheben gänzlich realistisch ausgerichtete Ontologen hohe Ansprüche. Diese Ansprüche werden tiefer gehängt, je weiter man sich vom realistischen Paradigma der Ontologie in Richtung des konstruktivistischen entfernt. Ein gänzlich konstruktivistisch ausgerichteter Ontologe kann keinerlei Anspruch auf Objektivität erheben, sondern nur auf Intersubjektivität (die er aber „Objektivität“ nennen mag, so wie er schlechthin vom „Seienden“ spricht, wo er nur erfahrungsabhängig Seiendes meint).

Sowohl realistisch wie konstruktivistisch ausgerichtete Ontologen sind sich aber heutzutage darüber im Klaren, dass bezüglich der Begründungssicherheit ontologischer Erkenntnisse keine hohen Ansprüche erhoben werden können. Der erkennende Blick auf die Grundstrukturen des Seienden, ob sie konstruktivistisch oder realistisch gedeutet werden, ist ein wesenhaft unsicherer. Die Geschichte und die Gegenwart der ontologischen Wissenschaft bestätigen diese wesenhafte Unsicherheit ontologischer Erkenntnis, die ihren natürlichen Ursprung schlicht in der Globalität und Allgemeinheit der ontologischen Aussagen haben dürfte. Angesichts der vielen andauernden ontologischen Kontroversen kann man nur konstatieren: Ein großes Ausmaß an intersubjektiv verbindlicher Begründungssicherheit dürfte in der Ontologie nicht zu gewinnen sein. Die meisten ontologischen Phänomene, so wie sie sich in den Strukturen der Sprache zeigen, kann man offenbar fast immer so-aber-auch-anders sehen, also darüber ganz unterschiedliche und unvereinbare Theorien entwickeln. Die Strukturen der Sprache sind also keineswegs derart, dass sich die Grundstrukturen des Seienden einfach an ihnen ablesen ließen. Die Sprache ist für den Ontologen kein offenes, in eindeutiger Weise entzifferbares Buch. Insbesondere würde ein naiver semantischer Realismus, der jede sprachliche Erscheinung ontologisiert, ebenso wie ein naiver erkenntnistheoretischer Realismus, der alle Erscheinungen der Erfahrung so nimmt, wie sie sich eben darbieten, zu Widersprüchlichkeiten führen. (Widersprüche treten bereits auf, wenn hinter jedem Prädikat eine Universalie gesehen würde; siehe dazu Kap. VI.5.a.)

Die Erscheinung der theoretischen Mehrdeutigkeit der Phänomene kennt man freilich auch aus dem Bereich der Naturwissenschaften; aber dort ist sie keine Erscheinung, bei der stehen geblieben wird. Hingegen, wenn die Auffassungen von kompetenten Philosophen, die über ontologische Themen gearbeitet haben, sich diametral gegenüberstehen, dann bleibt es gewöhnlich dabei. Wir werden die großen ontologischen Kontroversen näher kennen lernen, die allesamt von solcher Art sind, dass ihre Entscheidung oder Auflösung alles andere als in Sicht ist.

Es ist also festzustellen, dass sich in der Ontologie keine Erkenntnisse gewinnen lassen, die von einer vergleichbaren intersubjektiven Sicherheit wären wie die Erkenntnisse der Logik oder Mathematik, aber auch keine Erkenntnisse, die von einer vergleichbaren Sicherheit wären wie geschichts- oder naturwissenschaftliche. Der Grund hierfür dürfte, wie gesagt, die Allgemeinheit und Globalität ontologischer Aussagen sein.

Holismus der Ontologie

Hinzu kommt, dass Ontologie in hohem Maße holistisch ist. Dies bedeutet, man kann eine einzelne ontologische These gar nicht recht guten Gewissens für sich genommen entscheiden und sagen „Das ist richtig“ oder „Das ist falsch“, sondern man müsste eigentlich in erster Linie ganze Systeme von ontologischen Aussagen vergleichen und im Anschluss daran etwa so urteilen: „Dieses System steht – insgesamt gesehen, was seine Reichweite angeht und seine Übereinstimmung mit den Grundstrukturen des Seienden, so wie sich in der Sprache zeigen – am besten da.“ Für eine einzelne ontologische These kann man daran anschließend möglicherweise die folgende Schlussfolgerung ziehen: „Diese These ist richtig, weil sie, und nicht ihr Gegenteil, sich in dieses größere System einordnen lässt, das insgesamt am besten dasteht.“ Das Problem ist nur: Gut ausgearbeitete ontologische Systeme liegen kaum vor. Somit bleibt es denn doch in der ontologischen Praxis bei lokalen Entscheidungen über einzelne ontologische Thesen (mit all der Kurzsichtigkeit, die in solchen Entscheidungen liegen kann) – obwohl es in der Ontologie eigentlich keine lokale Entscheidbarkeit gibt. (Es ist aber klar, dass man beim Systemaufbau jedenfalls provisorisch lokale Entscheidungen fällen muss.)

Doch selbst wenn man das Systemganze zur Verfügung und unentwegt im Blick hätte (was man nicht hat), so ist gar nicht ausgeschlossen, dass man auf das folgende Phänomen stieße: dass es ontologische Gesamtsysteme gibt, die sich widersprechen, aber die insgesamt gesehen im Hinblick auf die Daten gleich gut dastehen. Die Begründung des einen Systems ist so gut wie die Begründung des anderen Systems, und dennoch widersprechen die beiden sich. Da hätten wir dann also zwei echt alternative ontologische Theorien, zwei Beschreibungen der Grundstrukturen des Wirklichen und Nichtwirklichen, ohne dass wir in begründeter Weise entscheiden könnten, welche die bessere, d.h. wahrheitsgemäßere ist.

Somit: Einzelne ontologische Thesen lassen sich lokal ohnehin nicht gut entscheiden; man muss den Blick auf das Ganze werfen, auf die Gesamtsysteme, in die sie einordenbar sind (oder auch nicht). Aber abgesehen davon, dass ontologische Gesamtsysteme kaum vorliegen (jedenfalls kaum in solchen Formen vorliegen, die modernen logischen Ansprüchen genügen), kann es sein, dass, lägen sie denn optimal ausgearbeitet vor, sich kein ontologisches Gesamtsystem als das beste, bestbegründete, auszeichnen ließe.

Begründungsmäßige Unterbestimmtheit von Theorien

Die Erscheinung der begründungsmäßigen Unterbestimmtheit von Theorien ist nun freilich nichts, was der Ontologie allein eigentümlich wäre; sie kommt auch in anderen Wissenschaften, auch in den Naturwissenschaften vor. Aber es besteht doch dem Grad nach ein erheblicher Unterschied zwischen Naturwissenschaften und Ontologie hinsichtlich begründungsmäßiger Unterbestimmtheit. Zudem ist es bei den Wissenschaften außerhalb der Philosophie stets so, dass sich trotz prinzipiell vorhandener begründungsmäßiger Unterbestimmtheit in einer Situation der Konkurrenz von Theorien stets in relativ kurzer Zeit eine Theorie als die allgemein akzeptierte durchsetzt. Das ist nun zwar einfach eine Tatsache der Soziologie der Wissenschaften, deren erkenntnistheoretische Bedeutung man nicht überbewerten darf. Doch ist andererseits nicht zu bezweifeln, dass das Sprechen mit einer Stimme der Autorität einer Wissenschaft sehr förderlich ist, ein Durcheinander von Meinungen hingegen abträglich.

Das Sprechen mit einer Stimme hat es nun nicht nur in der Ontologie, sondern auch in der Philosophie insgesamt niemals gegeben. Eine disharmonische Polyphonie ist der Philosophie offenbar wesentlich. Dies ist oftmals beklagt worden, hinsichtlich der Metaphysik, ob der Allgemeinen oder der Speziellen, insbesondere von Kant (siehe [1-2], Vorrede zur zweiten Auflage, S.24, und [1-3], S. 113). Und viele (inklusive Kant; siehe wiederum [1-2] und [1-3]) haben den Missstand, den dies nach ihrer Meinung darstellt, zu beseitigen versucht – ohne Erfolg (natürlich).

Warum aber sollte man sich mit einer Wissenschaft abgeben, die weder hinreichend begründungssicher ist, noch es zustande bringt, eindeutige Ergebnisse vorzulegen, so dass man sagen könnte: „Die Ontologie lehrt uns ...“ (so wie man sagen kann: „Die Physik lehrt uns ...“)? Kann man dergleichen überhaupt als Wissenschaft ansehen?

Wissenschaftlichlichkeit der Ontologie

Für Wissenschaftlichkeit ist es jedoch hinreichend, dass hinreichend klare Begriffe im Hinblick auf die systematische wahrheitsgemäße Beschreibung eines Gegenstandsbereichs in intersubjektiv verständlicher Weise argumentativ eingesetzt werden. Die intersubjektive Eindeutigkeit und Sicherheit der erlangten Ergebnisse sind demgegenüber für Wissenschaftlichkeit nicht notwendig. So gesehen, kann die Ontologie eine Wissenschaft sein.

Zudem: Obwohl wir wohl nicht mit intersubjektiver Gewissheit zu dem richtigen ontologischen System vordringen können, bleibt es doch dabei, dass wir uns durch die Beschäftigung mit Ontologie auf jeden Fall Klarheit über die ontologischen Alternativen verschaffen können. Was sind überhaupt die Optionen in der Beschreibung der Grundstrukturen des Wirklichen und Nichtwirklichen? Darüber kann Ontologie in jedem Fall verlässliche Auskunft erteilen.

Der alternativische Charakter der Ontologie wird mich freilich nicht hindern, neben dem Beschreiben von Optionen und Alternativen im Folgenden auch eindeutige, begründete ontologische Behauptungen aufzustellen. Leser und Leserin können aber getrost davon ausgehen, dass wie in der Philosophie insgesamt, so auch in der Ontologie im Besonderen keine Meinung unwidersprochen bleibt.

Wissenschaftlicher Fortschritt in der Ontologie

Ein eindeutig ausgezeichnetes ontologisches System, von dem wir definitiv wissen, dass es richtig ist, wird sich schwerlich finden lassen. Aber Klarheit über die ontologischen Alternativen – das können wir sehr wohl gewinnen. Der wissenschaftliche Fortschritt in der Ontologie, der Allgemeinen Metaphysik, muss sich auf die immer klarere, immer systematischere und immer umfassendere Herausarbeitung der Alternativen in der Beschreibung der Grundstrukturen des Wirklichen und Nichtwirklichen beziehen. In dieser Hinsicht bleibt noch vieles zu erringen.

Es ist auch nicht ganz ausgeschlossen, dass, wenn man umfassende ontologische Systeme wirklich einmal ausgearbeitet vor sich hätte, vollständig ausgearbeitet, dass sich dann doch eines von ihnen als das erkenntnismäßig beste erwiese. Aber umfassende ontologische Systeme liegen eben noch nicht ausgearbeitet vor – in Formen, die modernen logischen Ansprüchen genügen –, wenn auch zweifellos mehr oder minder weit reichende Ansätze zu solchen vorhanden sind (siehe etwa [1-4]).

Nutzen der Ontologie

Noch einige Worte mehr zum Nutzen der Ontologie, der angesichts der Begründungsunsicherheit der Ontologie dahingestellt erscheinen mag, sind sicherlich angebracht:

Wie jede Wissenschaft hat die Ontologie den Nutzen, dass sie Erkenntnisse über ihren Gegenstandsbereich – im Falle der Ontologie: über die Grundstrukturen des Seienden – erarbeitet und systematisch darstellt (mag dies bei der Ontologie auch nur in Alternativen aufweisender und klärender Weise geschehen). Diese Erkenntnisse sind ihrerseits nützlich für die Philosophie, die in ihren Reflexionen unausgesetzt auf ontologische Begriffe angewiesen ist. In der Philosophie des Geistes, beispielsweise, ist ständig von mentalen Eigenschaften, Ereignissen, Sachverhalten, Zuständen usw. die Rede (siehe hierzu etwa [1-5]). Häufig geht es darum, wann Entitäten gleicher Art, z.B. Eigenschaften, miteinander identisch sind und wann nicht, und die Antworten, die gegeben werden, sind oft mehr oder weniger über den Daumen gepeilt, ohne eingehende systematische Überlegungen ad hoc an den Haaren herbeigezogen. Zur richtigen Einschätzung des theoretischen Wertes von dergleichen kann es von Nutzen sein, über Kenntnisse in der zuständigen Wissenschaft zu verfügen, oder besser noch: selbst aktiv in ihr gearbeitet zu haben.

Ontologie kann auch für die Einzelwissenschaften hilfreich sein, denn Grundstrukturen des Seienden werden in ihnen beständig implizit mitthematisiert. Nicht immer kann es bei dieser Anonymität des Ontologischen bleiben, da gelegentlich zentrale Entscheidungen, die die Interpretation von Theorien angehen, von Antworten auf ontologische Fragen abhängen. Was z.B. ist der ontologische Charakter quantenphysikalischer Entitäten? Sind das noch Individuen? Gibt es denn eine Alternative dazu, sie als Individuen aufzufassen?

In Wissenschaft und Leben sind die Annahmen, die auf der ontologischen Ebene gemacht werden, wegen ihrer Allgemeinheit zum einen unauffällig, zum anderen aber eben wegen ihrer Allgemeinheit in sehr weitreichender Weise für Denken und Handeln bestimmend. Es ist daher vernünftig, sich selbst über jene Annahmen Rechenschaft abzulegen, mit anderen Worten: Ontologie zu betreiben.

Nachdem wir über den Erkenntnisweg der Ontologie gesprochen haben, also darüber, wie man an die Grundstrukturen des Wirklichen und Nichtwirklichen erkenntnismäßig herankommt, und über zwei Deutungen dieses Erkenntnisweges, die realistische Deutung und die konstruktivistische, sowie über die (bescheidenen) Erkenntnisansprüche, die man als Ontologe erheben kann, und den Nutzen, den Ontologie dennoch hat, seien im nächsten Kapitel erstmals die Grundstrukturen des Seienden selbst thematisiert, die den Gegenstand, das Thema der Ontologie ausmachen. Was gehört zu diesen?

2. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen

Zusammenfassung

In diesem Kapitel wurde die Allgemeine Metaphysik oder Ontologie bestimmt als die rein beschreibende Wissenschaft von den Grundstrukturen des Seienden. Diese lassen sich an den Strukturen der Sprache ablesen, wobei offen bleiben kann, ob sie an sich gegeben sind und sich in der Sprache spiegeln (realistischer Ansatz) oder von der Sprache auf das erfahrungsabhängig Seiende projiziert sind (konstruktivistischer Ansatz). Wegen der Globalität und Allgemeinheit ontologischer Aussagen bei gleichzeitiger Unterbestimmtheit durch die Daten ist die Begründungssicherheit ontologischer Behauptungen eine geringe – insbesondere dann, wenn sie nicht im Rahmen eines umfassenden ontologischen Systems aufgestellt werden. In der Abwesenheit definitiver ontologischer Erkenntnis besteht die wissenschaftliche Aufgabe der Ontologie in der umfassenden Herausarbeitung ontologischer Alternativen.

Lektürehinweise

Zur historischen und systematischen Orientierung sei verwiesen auf die mit Einleitungen versehenen Textsammlungen [1-6] und [1-7] zur Ontologie und zur Speziellen Metaphysik. Auskunft darüber, was Ontologie ist und soll, gibt in übersichtsmäßiger Form [1-8]. Sehr hilfreich für viele Themen, die im Folgenden zur Sprache kommen, und zur Orientierung bezüglich Metaphysik und Ontologie überhaupt sind die Lexika [1-9] und [1-10]. Empfehlenswert ist diesbezüglich, und insbesondere im Hinblick auf die in diesem Buch zur Sprache kommenden Themen, auch die englischsprachige Textsammlung [1-11]. [1-12] schließlich ist ein neueres deutschsprachiges Einführungswerk zur Ontologie.

Fragen und Übungen

Versuchen Sie, aufgrund der Vorgaben dieses Kapitels einige Beispiele für ontologische Aussagen zu finden, am besten sowohl offensichtlich wahre als auch offensichtlich falsche, als auch kontroverse ontologische Aussagen.

Einführung in die Ontologie

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