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III. Transzendentalien – eine erste Annäherung

In diesem Kapitel wird in Anknüpfung an den mittelalterlichen Transzendentalienbegriff gesagt, was unter einer Transzendentalie zu verstehen ist. Transzendentalien werden einzeln vorgestellt und in Gruppen zusammengestellt.

1. Der Begriff der Transzendentalie

Kategorienübergreifende ontologische Begriffe einer bestimmten Art nenne ich, in Anspielung auf die ontologische Tradition (siehe dazu [3-1], S. 1360f., und vgl. auch [3-2]), Transzendentalien, weil sie alle Kategorien (hier stets: alle Kategorien des (gewählten) Kategoriensystems) übergreifen, sie alle transzendieren. Sie sind nicht speziell auf die eine oder andere Kategorie bezogen, sondern können auf Seiende (Entitäten) aller Kategorien angewendet werden. Transzendentalien bedingen gewöhnlich (aber nicht immer) eine Unterscheidung im Bereich des Seienden: Es gibt gewöhnlich Entitäten, auf die sie zutreffen, und andere Entitäten, auf die sie nicht zutreffen. Transzendentalien müssen also nicht auf alles überhaupt zutreffen. Aber in jedem Fall muss von einer Transzendentalie gelten, dass sie in jeder Kategorie, die nicht leer ist, auf eine Entität zutrifft.

Transzendentalien als allgemeinste Charakterisierungsbegriffe

Obwohl sie gewöhnlich Unterscheidungen im Bereich des Seienden wiedergeben, handelt es sich bei Transzendentalien nicht um Einteilungsbegriffe wie bei den Kategorien. Der Zweck der Transzendentalien ist nicht allgemeinste Einteilung, sondern vielmehr allgemeinste Charakterisierung. (Eine nichtontologische Analogie hierzu: Der Zweck des Begriffes Mensch ist Einteilung; er ist ein Einteilungsbegriff. Der Zweck des Begriffes Federlos ist hingegen nicht Einteilung – obwohl man ihn auch zur Einteilung verwenden kann –, sondern Charakterisierung.)

Eine der Transzendentalien haben wir im vorausgehenden Kapitel schon angesprochen: Entität (Seiendes, Etwas). Sachverhalte sind Entitäten, Individuen sind Entitäten, Eigenschaften sind Entitäten. Auf alles und jedes ist dieser Begriff wahrheitsgemäß anwendbar. Der Begriff der Entität ist somit sicherlich (sozusagen trivialerweise) transzendental: alle Kategorien übergreifend.

Die traditionellen Transzendentalien

Das ist im Sinn der mittelalterlichen Transzendentalienlehre, wonach auch der Begriff verum (veritas)Wahrheit – einer der transcendentia ist, ebenso wie unum (unitas)Einheit – und bonum (bonitas)Gutheit. Und zwar galten die Begriffe ens, verum, unum, bonum genau deshalb als Transzendentalien, weil man sie als auf alles überhaupt zutreffend ansah (darum waren sie alle mit ens (entitas) „vertauschbar“; beispielsweise lautet eine scholastische Sentenz: ens et bonum convertuntur). Die Universalität des Zutreffens ist für Einheit – wenn auch nicht eben für Wahrheit – ebenso unmittelbar ersichtlich wie für den Begriff der Entität: Alles hat Einheit, wie auch alles Sein hat; alles ist ein Eines (wenn auch nicht unbedingt ein teillos Eines), wie auch alles ein Seiendes ist. Ob nun die Universalität des Zutreffens auch von der Gutheit gilt oder nicht (im Fall der Gutheit kann das moderne Bewusstsein, das den mittelalterlichen Seinsoptimismus nicht mehr recht teilt, das Urteil des universellen Zutreffens bestenfalls mit Mühe nachvollziehen), so bleibt es doch dabei, dass es sich auch bei Gutheit um eine Transzendentalie im oben definierten Sinn handelt: Sie ist ein ontologischer (also allgemeinster) Charakterisierungsbegriff, der sämtliche Kategorien übergreifend anwendbar ist – entweder weil er ohnehin auf alles zutrifft, oder aber weil er, obwohl er nicht auf alles zutrifft, wenigstens in jeder nichtleeren Kategorie auf eine Entität zutrifft.

Hintanstellung normativer Ontologie

Oder sollte etwa Gutheit als ontologischer Begriff von vornherein ausgeklammert werden? Muss, mit anderen Worten, Ontologie wertfrei sein? Sie muss es sein, wenn es keine valuativen Grundstrukturen des Wirklichen und Nichtwirklichen gibt. Sie kann es sein, wenn man unter Ontologie eine rein deskriptive Disziplin verstehen will (hier nun deskriptiv nicht im Kontrast zu explanatorisch, sondern zu normativ), wie das tatsächlich seit Anbruch der Neuzeit immer mehr zum Standard geworden ist. Ich lasse die beiden aufgeworfenen Fragen auf sich beruhen; im Folgenden wird aber Ontologie in erster Linie insoweit thematisiert werden, als sie ohne die Verwendung von Wertbegriffen auskommt. Dabei müssen wir uns bewusst bleiben, dass dieses Vorgehen gegenüber der älteren Geschichte der Ontologie eine erhebliche Beschränkung bedeutet: In der Antike und im Mittelalter war Ontologie immer auch valuativ und daher implizit normativ. Beim – aus geistesgeschichtlicher Sicht – wichtigen Thema der ontologischen Bevorzugung (siehe Kap. XII) werden wir uns freilich mit der Berechtigung einer Art von impliziten ontologischen Werturteilen befassen müssen.

Welche Transzendentalien außer den schon genannten gibt es sonst noch? Noch einige mehr, und damit verlassen wir den engen Kreis der von mittelalterlichen Ontologen stets als – dem Begriff nach – universell geltend vorausgesetzten Transzendentalien.

Aktualität und Aktualismus

Die nächste zu betrachtende Transzendentalie ist Wirklichkeit oder Aktualität. Wir haben wirkliche (oder aktuale) Individuen (z. B. U. M.), wirkliche (oder aktuale) Sachverhalte (z.B., dass Regensburg im Jahre 2002 n.Chr. an der Donau liegt), wirkliche (oder aktuale) Eigenschaften (z.B. die Eigenschaft, ein Löwe zu sein), usw. In jeder nichtleeren Kategorie kommt Wirkliches vor, in keiner nichtleeren Kategorie kommt nur Nichtwirkliches vor. Manche Philosophen sind sogar der Meinung, dass alles wirklich ist. (Diese Auffassung bezeichnet man als Aktualismus, worüber zu sprechen sein wird.) In jedem Fall ist klar, dass es sich beim Begriff der Aktualität (der Wirklichkeit) um eine Transzendentalie handelt.

Existenz kein Prädikat?

Das Prädikat „x existiert“ wird häufig als ein Synonym für die Prädikate „x ist aktual“ und „x ist wirklich“ verwendet. (Berühmt ist Kants angebliche Behauptung, Sein, Existenz, Wirklichkeit – für Kant besagen die drei Wörter genau dasselbe – sei kein Prädikat. Sieht man genauer hin – siehe [3-3], S. 533f. –, so will Kant eigentlich nur sagen, dass Existenz kein Prädikat sei, das zur näheren Bestimmung des Begriffs eines Dinges etwas beitragen könnte – was freilich ebenfalls durchaus fraglich ist.) Um auszudrücken, dass etwas Wirklichkeit hat, sagt man oft auch, es habe Existenz. Trotz dieser weitverbreiteten Erscheinung ontologischen Sprachgebrauchs empfiehlt es sich, Existenz und Wirklichkeit nicht vorschnell zu identifizieren. Es erscheint nämlich durchaus nicht als begriffliche Selbstverständlichkeit, dass alles, was existiert, wirklich ist (während es in der Tat selbstverständlich ist, dass alles, was wirklich ist, existiert). Aber jedenfalls ist auch Existenz ein alle Kategorien übergreifender ontologischer Begriff, eine Transzendentalie.

Entität, Aktualität und Existenz verhalten sich wie zueinander?

Vielleicht ist der Begriff der Existenz derselbe Begriff wie der der Entität, zu existieren dasselbe wie eine Entität zu sein. Vielleicht ist aber auch der Begriff der Existenz derselbe Begriff wie der der Aktualität, zu existieren dasselbe wie wirklich zu sein. Klar scheint das Folgende: Die drei Transzendentalien Entität, Aktualität und Existenz treffen entweder alle drei begrifflich notwendigerweise genau auf dasselbe zu (nämlich auf alles), oder es besteht die begriffliche Möglichkeit, dass sich Aktualität und Entität insofern unterscheiden, dass zwar alles eine Entität ist, aber nicht alles aktual. In diesem letzteren Fall besteht jedoch wiederum kein Raum für ein eigenes Zutreffensverhalten von Existenz: entweder der Begriff Existenz koinzidiert dann seinem Zutreffen nach begrifflich notwendigerweise mit dem Begriff Entität (Seiendes), oder aber mit dem Begriff Aktualität.

Die verbleibenden, den Begriff der Existenz betreffenden Unklarheiten treten in der Unklarheit der Wendung „es gibt“ zu Tage, die das umgangssprachliche Synonym zu „(es) existiert“ bzw. „(es) existieren“ ist: „Es gibt Eldorado“ [„Eldorado existiert“] – das kann heißen (1‘) „Eldorado ist eine Entität“ und (2‘) „Eldorado ist eine wirkliche Entität“; „Es gibt Schönes“ [„Schönes existiert“, „Es existiert Schönes“] – das kann heißen (1‘) „Manche Entität ist schön“ und (2‘) „Manche aktuale Entität ist schön“; „Es gibt fliegende Fische“ [„Fliegende Fische existieren“, „Es existieren fliegende Fische“] – das kann heißen: (1“) „Manche Entitäten sind fliegende Fische“, und (2“) „Manche aktualen Entitäten sind fliegende Fische“. Es steht einstweilen dahin, ob (1) und (2), (1‘) und (2‘) sowie (1“) und (2“) notwendigerweise äquivalent sind oder nicht, und wenn sie es nicht sind, für welche Bedeutung von „es gibt“, verbunden mit Wörtern im Singular bzw. Plural, man sich dann entscheiden sollte.

Möglichkeit ist eine modale Transzendentalie

Eine weitere Transzendentalie ist die modale Transzendentalie Möglichkeit. Mögliche Individuen, mögliche Eigenschaften, mögliche Sachverhalte, usf.: In jeder nichtleeren Kategorie kommt Mögliches vor. Ist gar überhaupt alles möglich, wenn man nur „möglich“ im weitestmöglichen Sinn versteht (wie es ja ein Ontologe tun wird)? Lassen wir diese Frage einstweilen auf sich beruhen.

Da Möglichkeit eine Transzendentalie ist, ist es eine nahe liegende Frage, ob auch Notwendigkeit eine solche ist. Doch ist die Antwort auf diese Frage keineswegs eindeutig positiv. Denn erstens scheint nicht alles notwendig zu sein, und zweitens ist keineswegs klar, dass in jeder nichtleeren Kategorie Notwendiges vorkommt (wenn wir etwa an die Kategorie Individuum denken).

Ontologischer Begriff, aber weder Transzendentalie noch Kategorie

Sollte Notwendigkeit keine Transzendentalie sein, so stellt dieser Begriff ein Beispiel für einen ontologischen Begriff dar, der weder eine Transzendentalie noch eine Kategorie ist. Von solchen ontologischen Begriffen gibt es viele, wie wir sehen werden. Eine interessante theoretische Frage ist es, ob sich alle ontologischen Begriffe, die weder Transzendentalien noch Kategorien sind, doch jedenfalls durch Transzendentalien und Kategorien definieren lassen. Oder muss man vielmehr ontologische Grundbegriffe annehmen, die weder Transzendentalien noch Kategorien sind? Ich werde auf diese Frage weiter unten in diesem Kapitel zurückkommen.

Die ontologische Analogie bei Transzendentalien

Man kann Transzendentalien auf vorfindliche Entitäten in allen Kategorien anwenden. Sofern eine beliebige Kategorie nichtleer ist, wird eine gegebene Transzendentalie jedenfalls auf mindestens ein Exemplar der Kategorie zutreffen. Doch wenn man eine Transzendentalie in den verschiedenen Kategorien anwendet, so ist man in der Regel mit dem Phänomen konfrontiert, dass sie offenbar nicht immer denselben begrifflichen Gehalt hat. Individuen sind doch wohl in einer anderen Weise möglich, als es Sachverhalte sind, und Eigenschaften wiederum in einer anderen Weise als Individuen und Sachverhalte. Wenn man sagt, eine Eigenschaft sei möglich, dann verbindet man mit „möglich“ nicht genau dasselbe, wie wenn man sagt, ein Sachverhalt sei möglich. Bei Aktualität verhält es sich ebenso. Wenn man sagt, ein Individuum sei aktual (wirklich), dann füllt man das Wort „aktual“ nicht in genau derselben Weise, wie wenn man sagt, ein Sachverhalt sei aktual. Offenbar verhält es sich so, dass Transzendentalien zwar sämtliche Kategorien übergreifende Begriffe sind, aber in der Regel in ihrer Anwendung in verschiedenen Kategorien nicht immer denselben Gehalt haben. (Die Transzendentalie Entität scheint eine Ausnahme zur Regel zu sein, es sei denn, man deutete die Kategorien selbst als die Gehalte, die diese Transzendentalie in ihrer Anwendung in den verschiedenen Kategorien annimmt – ein durchaus aristotelischer Gedanke; siehe [3-4], 1003 b4-b10.) Jedoch stehen die verschiedenen Gehalte, die die Transzendentalien von Kategorie zu Kategorie annehmen, in einem systematischen Zusammenhang: einer Verwandtschaft, die man als ontologische Analogie bezeichnet. (Der Gedanke der ontologischen Analogie geht auf Aristoteles zurück; siehe [3-4], IV, 2.) Es wird sich Gelegenheit ergeben, die ontologische Analogie am Beispiel des Begriffs der Aktualität aufzuweisen.

Die Transzendentalien, die bisher zur Sprache kamen, könnte man als eigenschaftliche Transzendentalien bezeichnen. Mit deren Zuschreibung schreibt man den Entitäten auch gewisse ontologische Eigenschaften zu (aber wesentlich andere als durch Zuschreibung von Kategorien zugeschrieben werden, da Transzendentalien im Unterschied zu Kategorien keine Einteilungsbegriffe sind): die Eigenschaft, eine Entität zu sein, bzw. wirklich zu sein, bzw. möglich zu sein. Es gibt aber auch nichteigenschaftliche, relationale Transzendentalien.

Teil-Ganzes ist eine relationale Transzendentalie

Ein Beispiel für eine relationale Transzendentalie ist der Teil-Ganzes-Be- griff (ausgedrückt durch das Prädikat „x ist Teil von y“). Der Teil-Ganzes- Begriff ist eine Transzendentalie, denn er ist in jeder nichtleeren Kategorie anwendbar: In jeder nichtleeren Kategorie finden sich Entitäten x und y, so dass gilt: x ist Teil von y. Man kann davon sprechen, dass ein Individuum Teil eines anderen Individuums ist (mein Arm, beispielsweise, ist Teil von mir), dass ein Ereignis ein anderes als Teil hat (Beispiel?). Man kann aber auch davon sprechen, dass eine Eigenschaft Teil einer anderen Eigenschaft ist (die Eigenschaft, rund zu sein, ist Teil der Eigenschaft, ein Ball zu sein), dass ein Sachverhalt Teil eines anderen Sachverhaltes ist (was ist nach dem eben zu Eigenschaften Gesagten das nahe liegende Beispiel?), usw. Der Teil-Ganzes-Begriff ist also eindeutig eine Transzendentalie, aber keine eigenschaftliche, sondern eine relationale; denn es wird ja immer eine Beziehung ausgesagt, wenn man eine Teil-Ganzes- Aussage macht.

Konstituente, Identität, Verschiedenheit sind relationale Transzendentalien

Vom Teil-Ganzes-Begriff ist der Konstituentenbegriff zu unterscheiden, der durch das Prädikat „x ist Konstituente von y“ ausgedrückt wird. Während beim Teil-Ganzes-Begriff die Entitäten, die unter diesen Begriff fallen, stets derselben Kategorie angehören, kommt es beim Konstituentenbegriff vor, dass sie kategorial verschieden sind (z. B. kommt es häufig vor, dass ein Individuum Konstituente eines – es betreffenden – Sachverhalts ist). Es ist zweckmäßig, den Konstituentenbegriff als eine Verallgemeinerung des Teil-Ganzes-Begriffs aufzufassen (so dass also immer, wenn x Teil von y ist, x auch automatisch Konstituente von y ist); dies hat zur Folge, dass auch der Konstituentenbegriff zur Transzendentalie wird, weil ja der Teil-Ganzes-Begriff eine Transzendentalie ist.

Die prominenteste relationale Transzendentalie ist nun zweifellos der Begriff der Identität. Die Negation von Identität ist Verschiedenheit, und auch der Begriff der Verschiedenheit ist eine relationale Transzendentalie. (Es folgt hieraus, dass jede nichtleere Kategorie mindestens zwei Elemente hat; da jede Kategorie als eine Großklasse ausschneidend intendiert ist – siehe Kap. II.1 –, kommt hierin eine plausible Restriktion für den Kategorienbegriff zum Ausdruck. Angesichts der ontologischen Kontroversen ist es aber nicht ratsam, von Kategorien zu fordern, dass sie alle nichtleer sein sollen.) Individuen sind voneinander verschieden und miteinander identisch (nämlich jedes mit sich selbst), Eigenschaften sind es auch, ebenso Sachverhalte, usw. In jeder nichtleeren Kategorie ist miteinander Identisches und voneinander Verschiedenes. Doch wie der Teil-Ganzes-Begriff und andere Transzendentalien beinhalten Identität und Verschiedenheit in ihrer Anwendung auf Entitäten in der Kategorie X offenbar anderes als in ihrer Anwendung auf Entitäten in der von X verschiedenen Kategorie Y (jedenfalls für manche Kategorien X und Y): Individuen sind offenbar in einer spezifisch anderen Weise voneinander verschieden und miteinander identisch, als es Eigenschaften sind. Und Sachverhalte sind wieder in einer spezifisch anderen Weise voneinander verschieden und miteinander identisch.

Identität für verschiedene Kategorien wie zu bestimmen?

Hiermit ist ein Thema der Ontologie angesprochen, das große Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, nämlich die Frage nach den Identitätsbedingungen für die Entitäten der verschiedenen Kategorien. Bei dieser Frage handelt es sich bezüglich jeder Kategorie X um die Frage, wann genau Exemplare A und B von X miteinander identisch bzw. voneinander verschieden sein müssen; unter Erfüllung welcher begrifflich zwingenden hinreichenden und notwendigen Bedingung sind sie das eine, oder aber das andere?

Zweifelsohne ist dies eine wichtige Frage. Manche Ontologen gehen sogar so weit, dass sie erst dann anerkennen, man wüsste hinreichend, was mit einem bestimmten Kategorialausdruck gemeint ist, wenn man die Identitätsbedingung für die Exemplare der mit dem Kategorialausdruck angeblich gemeinten Kategorie angeben kann. Kann man dies nicht, dann gilt ihnen der vorgeschlagene Kategorialausdruck als unverständlich und darum als ein Kandidat für Eliminierung; denn auch in der Ontologie sollten keine unverständlichen Ausdrücke verwendet werden.

In genau diese Richtung zielt die zu ontologischem Gemeingut gewordene berühmte methodologische Maxime von Willard Van Orman Quine: „No entity without identity“. (Zu finden in [3-5], S. 102.) Keine Entität ohne Identität. Mit anderen Worten: Wenn man irgendeine Art von Entität annimmt (also z. B. eine Kategorie als nichtleer behauptet), dann muss man auch immer sagen können, genau wann Exemplare dieser Art miteinander identisch sein müssen. Zum Beispiel wenn man behauptet: „Manche Entitäten sind Eigenschaften“, dann muss man gemäß der Maxime „Keine Entität ohne Identität“ sagen können, genau wann beliebige Eigenschaften identisch sein müssen. Kann man dies nicht, dann gilt der vorgeschlagene Kategorialausdruck „Eigenschaft“ als unverständlich. Unversehens wird dann auch noch oft die weitere, aber logisch ungerechtfertigte Schlussfolgerung gezogen, dass eben keine Entität eine Eigenschaft ist (mit anderen Worten, dass der Kategorialausdruck „Eigenschaft“ auf nichts zutrifft; aber über einen Ausdruck, den man – angeblich – nicht versteht, kann man auch nicht das Urteil fällen, dass er auf nichts zutrifft).

So wichtig die Frage nach der Identitätsbedingung für eine Kategorie ist, man sollte nicht allzu weit gehende Schlussfolgerungen aus ihrer Nichtbeantwortung ziehen. Schließlich ist jede Entität in jeder Kategorie mit sich selbst identisch, und mit nichts sonst. Es kann nicht anders sein. So gesehen erscheint es als nicht sonderlich erheblich, was denn die begrifflich zwingende hinreichende und notwendige Bedingung für die Identität der Entitäten in einer Kategorie sein mag.

Viel Aufmerksamkeit ist, wie gesagt, der Frage nach den Identitätsbedingungen für die Entitäten der verschiedenen Kategorien gewidmet worden. (Bei der Diskussion einzelner Kategorien werde ich auf die Frage nach ihrer jeweiligen Identitätsbedingung näherhin zu sprechen kommen.) Doch hat das Thema der kategorienbezogenen Identitätsbedingungen eher zufällig eine gewisse Berühmtheit erlangt. Auch für andere Transzendentalien als der Identität stellt sich nämlich die – sicherlich nicht weniger wichtige – Frage nach ihren genauen Anwendungsbedingungen bezüglich einer beliebigen Kategorie X. Beispielsweise: Was ist begrifflich zwingend hinreichend und notwendig dafür, dass ein beliebiges Exemplar von X möglich bzw. wirklich ist? Was ist begrifflich zwingend hinreichend und notwendig dafür, dass von beliebigen Exemplaren y und z von X gilt: y ist Teil von z?

Ähnlichkeit und Unähnlichkeit sind graduelle relationale Transzendentalien

Eng verwandt mit den Transzendentalien Identität und Verschiedenheit sind die graduellen relationalen Transzendentalien Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, weil Identität als maximale Ähnlichkeit aufgefasst werden kann und Verschiedenheit als wenigstens minimale Unähnlichkeit. Diese leibnizianische Identitätsauffassung ist allerdings dem Einwand ausgesetzt, dass selbst maximale Ähnlichkeit für Identität nicht begrifflich hinreichend zu sein scheint, sondern dass es offenbar so etwas geben könnte wie „nackte Verschiedenheit“, also eine Verschiedenheit ohne eine auch nur minimale Unähnlichkeit zwischen den Verschiedenen (das klassische Gedankenexperiment dazu steht in [3-6]). Jedoch scheint der Einwand auf der Nichtberücksichtigung dessen zu beruhen, dass der Grad der Ähnlichkeit zwischen Ähnlichen nicht nur auf Aspekten beruht, die ihnen intrinsisch sind (Leibniz allerdings nahm tatsächlich an, dass er nur auf intrinsischen Aspekten beruht; vgl. [3-7]), sondern auch auf extrinsischen relationalen Aspekten. Beispielsweise ist es für die Bestimmung des Grades der Ähnlichkeit zwischen materiellen Individuen A und B – und nicht nur des Grades der intrinsischen Ähnlichkeit – nicht allein erheblich, ob sie dieselbe Form usw. haben, sondern auch, ob sie von diesem oder jenem materiellen Individuum C gleich weit entfernt sind.

Sind Abstraktheit und Konkretheit eigenschaftliche Transzendentalien?

Zum Abschluss des Reigens der Transzendentalien seien noch zwei etwas unsichere Kandidaten für eigenschaftliche Transzendentalien erwähnt: Abstraktheit und Konkretheit, wobei Konkretheit natürlich die Negation von Abstraktheit ist. Es sieht auf den ersten Blick so aus, als wären die beiden ontologischen Begriffe ganz unproblematische Transzendentalien. Haben wir nicht konkrete Individuen und abstrakte Individuen, konkrete Eigenschaften und abstrakte Eigenschaften, konkrete Sachverhalte und abstrakte Sachverhalte, konkrete Ereignisse und abstrakte Ereignisse, usw.? Doch nehmen manche Ontologen die Ereignisse von der Abstraktheit aus, mit anderen Worten: sie nehmen an, dass jedes Ereignis konkret und deshalb nicht abstrakt ist. Wenn das richtig ist (aber ist nicht das pure Verlaufen der Zeit zwischen 12:00 und 18:00 Uhr am 15. 10. 02 ein hinreichend abstraktes Ereignis?) und der Begriff Ereignis eine Kategorie ist, so bedeutet dies, dass die Abstraktheit keine Transzendentalie ist, weil sie dann nämlich in einer gewissen nichtleeren Kategorie – der der Ereignisse – auf nichts zutrifft. Allerdings habe ich im vorausgehenden Kapitel schon angedeutet, dass der Ereignisbegriff als Kategorie im strengen Sinn – als Kategorie im Kategoriensystem – letztlich nicht in Frage kommt (die Begründung hierfür muss freilich bis zum Kapitel X warten). So weit kann also Abstraktheit noch als Transzendentalie gelten.

Jede Eigenschaft abstrakt?

Andere Ontologen wiederum nehmen die Eigenschaften von der Konkretheit aus, mit anderen Worten: sie nehmen an, dass jede Eigenschaft abstrakt und deshalb nicht konkret ist. Wenn das richtig ist und der Begriff Eigenschaft eine Kategorie ist, so hat das die Konsequenz, dass Konkretheit keine Transzendentalie ist: weil sie in einer gewissen nichtleeren Kategorie – der der Eigenschaften – auf nichts zutrifft. Aber zum einen erscheint eine Eigenschaft wie die Eigenschaft, aus Eisen zu sein, als hinreichend konkret, und zum anderen kann der Begriff Eigenschaft zwar als Kategorie des Kategoriensystems fungieren – er muss dies aber nicht und wird dies auch nicht (wie ich im vorausgehenden Kapitel ebenfalls schon angedeutet habe). So weit kann also auch Konkretheit noch als Transzendentalie gelten.

Wie man sich aber in der Frage, ob Abstraktheit und Konkretheit Transzendentalien sind, letztlich zu stellen hat, ist unklar. Solange man nicht weiß, von welchen Kategorien (im strengen Sinn) insgesamt auszugehen ist, ist nicht definitiv auszuschließen, dass es rein abstrakte und rein konkrete Kategorien gibt. Es könnte sich ein Kategoriensystem nahe legen, das über eine rein abstrakte und/oder eine rein konkrete Kategorie verfügt.

Falls Konkretheit und/oder Abstraktheit keine Transzendentalien sein sollten (Konkretheit wird sich tatsächlich definitiv als Nichttranszendentalie relativ zum gewählten Kategoriensystem erweisen: die Kategorie der Propositionen, beispielsweise, ist rein abstrakt), so handelt es sich aber doch bei ihnen zweifelsohne um ontologische Begriffe (allerdings auch um durchaus unklare) – um solche, die zudem sicherlich keine Kategorien sind (nicht einmal im weiten Sinn). Es sieht nicht danach aus, dass sich Abstraktheit oder Konkretheit durch irgendwelche anderen ontologischen Begriffe definieren ließen. Sollte also mindestens einer von beiden Begriffen keine Transzendentalie sein, so hätten wir mithin einen ontologischen Begriff vorliegen, der weder Transzendentalie noch Kategorie ist und der auch nicht durch Transzendentalien und Kategorien definiert werden kann.

In diesem Kapitel haben wir einen Überblick über die verschiedenen Transzendentalien gewonnen. Vieles musste dabei offen bleiben. Voll entwickeln lässt sich die Ontologie der Transzendentalien erst im Zusammenspiel mit der Kategorienlehre. Wenn wir z. B. klären wollen, was es heißt, dass ein Sachverhalt aktual ist, dann müssen wir uns zunächst einen Begriff davon machen, was denn Sachverhalte sind. Danach können wir zusehen, was es heißt, dass ein Sachverhalt aktual ist; danach können wir klären, was die Anwendung der Transzendentalie Aktualität, oder Wirklichkeit, auf Sachverhalte genau beinhaltet. Die nächste Aufgabe, die sich stellt, ist also die Betrachtung der Kategorien im Einzelnen.

2. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen

Zusammenfassung

In diesen Kapitel wurden diejenigen ontologischen Begriffe beschrieben, die Transzendentalien sind, d.h. die Begriffe, die der allgemeinsten Charakterisierung von Seiendem dienen und in jeder nichtleeren Kategorie (des Kategoriensystems) auf etwas zutreffen. Universelle (auf alles zutreffende) Transzendentalien sind Entität und Einheit. Andere eigenschaftliche Transzendentalien sind Wirklichkeit (Aktualität) und Möglichkeit, wobei einstweilen dahinsteht, ob es sich bei diesen beiden Transzendentalien ebenfalls um universelle handelt. Relationale Transzendentalien sind Teil (und allgemeiner: Konstituente), Identität und Verschiedenheit, ferner Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, die zu Identität und Verschiedenheit in enger Beziehung stehen. Die Entwicklung der Transzendentalienlehre ist an die Entwicklung der Kategorienlehre gebunden, und somit auch der Aufweis der ontologischen Analogie: der Verwandtschaft zwischen den Gehalten, die eine Transzendentalie in Anwendung auf die verschiedenen Kategorien annimmt.

Lektürehinweise

Zu einzelnen Transzendentalien gibt es ganze Monographien: Zur Existenz siehe [3-8], zur Abstraktheit siehe [3-9], zum Teilbegriff siehe [3-10]. Zur Identität liegt die umfangreiche Aufsatzsammlung [3-11] vor, zum Aktualitäts- und Möglichkeitsbegriff [3-12]. Empfehlenswert zur Erstorientierung ist aber eher das Nachlesen der entsprechenden Artikel in den Lexika, die in den Lektürehinweisen zu Kap. I schon benannt wurden.

Fragen und Übungen

Muss mit einer Transzendentalie stets auch ihre Negation eine Transzendentalie sein?

Versuchen Sie, ein plausibles Beispiel dafür zu finden, dass Existenz im Sinne von Aktualität wahrheitsgemäß von etwas ausgesagt wird, sowie auch ein plausibles Beispiel dafür, dass Existenz nicht im Sinne von Aktualität wahrheitsgemäß von etwas ausgesagt wird.

Versuchen Sie, die Vieldeutigkeit von „ist Teil von“ darzulegen.

Einführung in die Ontologie

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