Читать книгу (K)ein klarer Gedanke - Uwe Plesotzky - Страница 5
Die ersten Anzeichen
ОглавлениеIch habe mich immer gern und viel mit meinem Vater unterhalten, und seine Meinung war mir ein Leben lang immer sehr wichtig gewesen. Was es bedeutet ein ganz normales Leben zu führen, dass weiß man meistens erst dann zu schätzen, wenn es nicht mehr möglich ist. Bis zu jenem schicksalshaften Tag im April 2011 führten auch wir ein ganz normales Leben, und mein Vater war trotz seiner 68 Jahre sehr gut beieinander. Wie in jeder anderen Familie, so gab es auch bei uns Probleme und es ging mal gut und manchmal schlecht. Aber eigentlich hatten wir keinen Grund uns zu beschweren, denn wir mussten keinen Hunger leiden und hatten immer ein Dach über den Kopf.
Mein Vater ist in seinem ganzem Leben niemals zu einem Arzt gegangen, und trotzdem ging es ihm eigentlich immer recht gut. Er war gesund und hatte seinen Blinddarm noch genauso wie seine Mandeln. In seinem gesamten bisherigen Leben hat er niemals eine Spritze bekommen, musste sich keiner Operation unterziehen und hat auch niemals in einem Krankenhaus gelegen. Wie eben schon erwähnt, war er nur sehr selten krank, und wenn dann handelte es sich meistens um eine einfache Erkältung oder eine Magen-Darm-Grippe. Nichts was man nicht auch alleine auskurieren konnte. Niemand aus der Familie versuchte ihn dazu zu bewegen, einen Doktor aufzusuchen, denn wenn jemand dieses Thema ansprach, dann wurde er recht ungehalten. Da es ihm offensichtlich gut ging, und er auch keine Schmerzen hatte, jedenfalls bekamen wir es niemals mit, drängte ihn auch niemand ernsthaft zu einem Arztbesuch. Sicherlich mochte er die Ärzte nicht besonders, denn zu einem Doktor geht man nur, wenn es gar nicht mehr anders geht. In unserer Familie wurden manche Themen eben einfach nur ausgeschwiegen. Niemand sprach vom Tod oder von Krankheiten. Jedenfalls keine ernsthaften Erkrankungen oder dem Tod eines nahen Angehörigen. Erst als Erwachsener befasste ich mich nach und nach mit diesen Dingen. So kannte mein Vater es eben sein Leben lang nicht anders, als das ein Arzt etwas schlechtes ist, etwas was man besser meiden sollte. Aus diesem Grunde sprach er auch niemals über solche Themen. Da wir alle es wussten, redete natürlich auch niemand von uns darüber, denn warum sollten wir ihn böse machen, wenn es ihm doch auch gut ging.
Heute, im Nachhinein betrachtet, bin ich davon überzeugt dass man vieles von dem, was jetzt für uns die harte Realität ist, hätte vermeiden können, wenn wir ihn nur früher zu einem Arztbesuch hätten überreden können. Da er aber über diese Art von Gesprächen sehr schnell böse wurde, versuchten wir es mit der Zeit immer weniger und seltener. Alles schien zu funktionieren, so wie es eben nun mal war. Keiner von uns wollte ihn unnötig aufregen oder ärgern. Mein Vater war für mich immer ein besonderer Mensch, und ich hielt sehr große Stücke auf das, was er sagte. Wie oft habe ich ihn um seine Meinung gebeten. Sicherlich hat er sich niemals in meine Dinge eingemischt, aber alleine nur die Tatsache, dass er mir zuhörte und mich immer genau verstand, war für mich etwas sehr wichtiges. Er wusste genau was ich meine, wenn ich etwas sagte. So wie es eben nur zwischen Vater und Sohn sein kann. Genaugenommen war er nicht nur mein Vater, sondern auch ein sehr guter Freund. Ich wusste immer genau, egal was ich auch tun würde, er lässt mich niemals fallen.
Samstags traf sich die Familie immer zum Spielenachmittag und um Kaffee zu trinken. Alle freuten sich auf diesen Tag. Spätestens jeden zweiten Tag besuchten wir ihn, um ihm Einkäufe zu bringen, oder auch zu putzen, wenn er uns denn ließ. Meine Frau kochte meistens noch eine Portion für ihn mit, den er liebte ihr gutes Essen immer sehr. So war es für ihn genauso wie für uns sehr schön, wenn wir ihn in seiner Wohnung besuchten.
Da er selbst in seinem Leben niemals gern geputzt hatte, war er wohl auch der Meinung, dass wir es sicher nur ungern taten, wenngleich wir ihm auch immer wieder versicherten, dass wir gern bei ihm Saubermachen würden. Es half nicht viel, wir konnten meistens nur sehr wenig bei ihm putzen oder reinigen. Aber viel wahrscheinlicher war wohl die Tatsache, dass wir bei einer gründlichen Reinigung sehr schnell festgestellt hätten, dass er mittlerweile ein sehr starkes Alkoholproblem hatte.
Er gehörte zu den Spiegeltrinkern. Diese Leute betrinken sich nicht und schlafen dann irgendwann ein, sondern sie trinken immer über den gesamten Tag verteilt Alkohol, damit die Promille-grenze immer möglichst eingehalten wird. Das Schlimme daran ist, dass man es diesen Leuten nicht so ansieht. Spiegeltrinker haben überall und in jedem Raum irgendwo Alkohol stehen, und ihre größte Sorge ist, dass der Alkohol mal fehlen könnte. Wir kauften ihm ja auch seine Kiste Bier im Getränkemarkt und brachten sie ihm nach Hause. Es ist ja auch nicht weiter schlimm, wenn jemand, der sein Leben lang gern mal eine Flasche Bier trinkt, als Rentner jeden Tag zwei Flaschen trinkt. Aber dies war nur die Menge, die wir mitbekamen. Er hatte einen eigenen Händler, der ihm jede Woche zwei weitere Kisten lieferte. Somit stieg der Konsum deutlich an, ohne dass es jemand bemerkte. Und ein Spiegeltrinker taumelt und lallt auch nicht. Lediglich an seinem Alkoholatem kann man es riechen. Aber wenn wir nachmittags zu ihm fuhren, dann war es meistens so, dass er ein Glas Bier auf dem Tisch stehen hatte. Wie gesagt, wir kauften ihm ja sein Bier im Getränkemarkt und wussten nichts von den weiteren Kisten.
Nach einer ganzen Zeit entdeckten wir, dass er wohl augenscheinlich fast nur noch Bier trank. Weder Wasser noch Kaffee, oder gar etwas anderes, und wir merkten, dass es eine schlechte Entwicklung der Dinge war. Es konnte ja auch nicht wirklich gesund sein, wenn man täglich außer zwei Flaschen Bier höchstens mal einen Kaffee trinkt. Aber was konnten wir tun? Er ließ sich von keinem, und in keiner Angelegenheit hineinreden. Jetzt werden sicherlich einige aufschreien und uns vorwerfen, wir hätten etwas tun müssen, etwas damit es nicht noch schlimmer wird. Aber was kann man gegen den freien Willen eines Menschen tun, noch dazu, wenn es sich um den eigenen Vater handelt. Immer, wenn das Thema auch nur im entferntesten in diese Richtung gelenkt wurde, merkte man sehr schnell, dass man darüber nicht reden sollte. Es war uns allen klar, dass es in einem mehr als ernstem Streit enden würde, wenn einer von uns weiter darauf eingehen würde.
Und es handelte sich ja auch nicht um einen Fremden, um eines meiner Kinder oder einem Bekannten. Nein, in diesem Fall ging es um meinen eigenen Vater, der Mensch, zu dem ich immer aufgeblickt habe, der immer alles für mich getan hatte und dem ich mich nicht nur loyal verpflichtet fühle, sondern der auch meinen ganzen Respekt hat. Denn diese furchtbaren Zeiten, die er schon durchgestanden hat, haben sein Leben entscheidend geprägt.
Er ließ sich nicht belehren, und wie konnten wir die Dinge ändern? Wie oft haben wir gemeinsam überlegt, was wir machen könnten, um ihn dazu zu bringen weniger zu trinken, oder gar einmal einen Arzt aufzusuchen. Aber er weigerte sich nicht nur überhaupt darüber zu sprechen, er wurde dann auch sehr schnell sehr böse. Schon als kleiner Junge, er wurde mitten im Krieg geboren, lernte er kennen, was Not bedeutet. Was sich heute niemand mehr vorstellen kann, wie es ist, wenn ein Kind mit fünf Jahren das erste Mal in seinem Leben ein Stück Schokolade bekommt, er wusste es nur zu genau. Es war diese merkwürdige Erziehung, in der man keinerlei Gefühle zeigte, die ihn zu einem Menschen machte, der so viel Liebe in sich birgt, aber niemand etwas davon zeigen oder ausdrücken kann. Ein Mensch eben, der seine Gefühle nicht zum Ausdruck bringt, weil er es niemals gelernt hatte.
Er fühlte sich in seiner kleinen Dreizimmerwohnung sehr wohl, und wenn wir es auch gern ordentlicher gehabt hätten, so waren wir trotzdem glücklich, dass er sich seiner Gesundheit freute, und dass er seine Pension genießen konnte. Meine Frau kochte oft für ihn mit und er genoss das gute Essen, und auch die Tatsache, dass er eine Schwiegertochter hat, der er immer am Herzen lag, tat ihm genauso gut. So verlief unser, und auch sein Leben, in geregelten Bahnen und im Großen und Ganzen waren wir alle glücklich. Sein kleines Auto benutzte er seit geraumer Zeit eigentlich nicht mehr selbst, aber es war für ihn wohl auch mehr die Gewissheit, dass eines vor der Tür steht, als damit unterwegs zu sein. Ich erinnere mich noch an seine Worte, als er diesen Wagen kaufte. Er erklärte uns mit ruhiger Stimme, das dies wohl sein letztes Auto wäre. Vielleicht hatte er alles schon geahnt, was in der folgenden Zeit passieren sollte.
Einmal die Woche fuhren wir mit ihm zusammen fort, um seinen Lottoschein abzugeben und seine Fernsehzeitung zu kaufen. Wir dachten nicht daran, dass sich dies alles ganz schnell ändern könnte. Wir waren zufrieden damit, dass es ihm gut ging, und hofften auf noch ganz viele glückliche Jahre. Denn wenn er auch kein geregeltes Leben an sich führte, so war er doch recht glücklich. Er machte sich sein Essen, wenn er Hunger bekam, und die Uhrzeit war dabei vollkommen egal. Er hatte sich seine kleine Welt so eingerichtet, wie es ihm gefiel und wir waren froh, dass wir immer da sein konnten, um ihn mit allem zu versorgen. Für ihn die Einkäufe zu erledigen und ihm auch das zu geben, was er in seinem Leben viel zu wenig bekommen hatte. Das Gefühl von Familie und der Liebe, die diese untereinander zeigen sollte. Er führte sein Leben und wir freuten uns immer, wenn wir ihn besuchten. So wie er sich auch ganz besonders freute, wenn die Kinder dabei waren. Immerhin hatte er sich dieses Leben alleine niemals freiwillig ausgesucht, vielmehr war es ihm von seinen Eltern und seiner Tochter aufgezwungen worden. Aber wo waren sie jetzt, da er wirklich Hilfe brauchte!
Es änderte sich alles leider viel zu schnell, genaugenommen von einem Tag auf den anderen. Über Nacht verlor er einfach seine klaren Gedanken. Wie sehr wünsche ich mir heute diese Zeiten zurück, einfach nur die Gelegenheit mich mit meinem Vater wieder so zu unterhalten, wie ich es früher so oft und gern getan hatte. Heute ist dies nicht mehr möglich, und was es bedeutet, wenn ein Mensch, der einem so nahe steht, wie der eigene Vater, nicht mehr bei klarem Verstand ist, das kann nur derjenige verstehen, der dies ebenso erlebt hat.
Wahrscheinlich haben die meisten Menschen mehr Zeit, sich an den Umstand zu gewöhnen, dass ein naher Familienangehöriger langsam seinen Verstand verliert, daran das die Erinnerungen langsam verschwinden. Stück für Stück geht etwas von seiner Persönlichkeit verloren. Wir hatten zu dieser langsamen Gewöhnung keine Gelegenheit, das Leben nahm ihm von einer Sekunde auf die andere einfach seine klaren Gedanken weg.
Am Abend des 20. April 2011 telefonierte ich wie jeden Tag mit meinem Vater. Es gab nicht viel zu erzählen, und so dauerte das Gespräch auch nur etwa fünf Minuten. Eigentlich ging es mir bei diesen Anrufen auch in erster Linie immer darum, mich noch einmal zu versichern, dass es ihm gut geht und er nichts braucht. Hätte ich auch nur ansatzweise geahnt, dass dies wahrscheinlich unser allerletztes normales Gespräch werden würde, dann hätte ich es sicher sehr lange ausgedehnt. So aber wusste ich noch nicht, was in dieser schrecklichen Nacht passieren sollte. Diese Nacht, die unser aller Leben so sehr verändern würde.
Das Leben kann sehr hart und grausam sein, und so sollte unser letztes klares Gespräch nur so kurz und unbedeutend sein. Aber dennoch werde ich es niemals vergessen!