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Zwei Monate zuvor

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Es war im September. Ein schwüler Sommertag, und die Klimaanlage war wegen ihres hohen CO2 -Fußabdrucks längst außer Betrieb gesetzt worden. Zwar standen alle Fenster offen, aber nur wenig abgestandene Luft von Innenstadt-Qualität wehte herein. Wie jedes Jahr stand der Audit von TriffMichNochHeuteSüßer auf dem Programm. Reine Routine.

Totale Langeweile. Als Silberstreif am Horizont der Feierabend.

Phil rief die Checkliste ab, die er zuletzt im vergangenen Spätsommer abgearbeitet hatte, um die Software von TriffMichNochHeuteSüßer auf Sicherheitslücken hin abzusuchen.

Mit einem gerooteten Smartphone kopierte er die App und all ihre Daten auf seinen Arbeits-Laptop. Er startete ein Tool, das versuchte, durch Reverse Engineering den Code der App zu rekonstruieren. Das brachte erwartungsgemäß wenig, weil die Entwickler den Code verschleiert hatten, wie es gute Sitte war, um möglichen Angreifern den Tag zu verderben.

Mit einem manipulierten WLAN-Router hörte Phil den Datenverkehr zwischen der App und den Servern von TriffMichNochHeuteSüßer ab, während er mit ein paar Frauen chattete, die ihn sehnsüchtig umwarben, aber natürlich nichts anderes waren als Bots. Alle übertragenen Daten waren mit 4096 Bit verschlüsselt, hier gab es also nichts zu holen.

Später ging Phil mit seinem Laptop rüber zu Hectors Schreibtisch. Er zeigte ihm seine Checkliste. »Schau bitte mal, ob ich was übersehen habe.«

»Gleich«, sagte Hector und wischte sich mit dem Ärmel Schweiß von der Stirn. »Ich habe hier gerade einen lustigen Fall.« Er nahm sich eine Tafel Schokolade von dem hohen Stapel, der sich neben seinem Mauspad türmte. »Ohne Input kein Output«, sagte er immer, wenn ihn jemand auf seinen Süßkram-Konsum ansprach. Irgendwann hatten es die meisten aufgegeben. Denn gegen Hectors Output war im Grunde nichts einzuwenden.

»Lustig für uns oder für irgendwelche Hacker?«

Hector zeigte mit der halb ausgepackten Schokolade auf den Bildschirm. »Ein Angriff auf die Strumpffabrik Kabrikus & Lang

»Ich dachte, Unterwäsche wird ausschließlich aus Fernost importiert?«

Hector schüttelte den Kopf. »Hauptsächlich«, sagte er, »aber diese Firma hier befindet sich tatsächlich in Deutschland. Ein typisches mittelständisches Unternehmen, in Familienbesitz seit ungefähr tausend Jahren und ungefähr so fortschrittlich wie bei der Gründung.«

»Und was ist das Problem der Firma?«

Nachdem Hector akribisch ein Kästchen von der Schokolade abgebrochen hatte, entgegnete er: »Kein Geld für ordentliche IT.«

Phil grinste. »Also wie im Mittelalter. Und was für Hacker haben sie sich eingeladen?«

»Oh, die Strumpfleute hatten Glück. Die Besucher waren wirklich nette Leute. Sie haben den völlig ungeschützten Dateiserver sicher bei einem Spaziergang entdeckt.« Hector aß das nächste Kästchen Schokolade. Ohne würde er keinen Tag überleben, sagte er immer.

»Mal wieder das SMB-Protokoll?« Phil wusste, dass diese Sünde aus der Frühzeit der Windows-Geschichte immer noch eines der beliebtesten Einfallstore für Hacker war.

»Ach was, das Ding war bloß falsch konfiguriert. Die Spaziergänger mussten nichts weiter tun, als sich mit dem offenen WLAN zu verbinden, die freigegebenen Ordner aufzurufen und dann …«

»Spaß haben.« Phils Finger vollführten eine vielsagende Geste.

»Hier«, sagte Hector und brachte einen Brief mit Firmenlogo auf den Bildschirm, »ein Kündigungsschreiben eines Mitarbeiters.«

»Ja, und?« Phil konnte daran nichts Ungewöhnliches entdecken. Allerdings war er etwas neidisch auf Hectors Projekt, das ganz offensichtlich deutlich lustiger war als sein eigenes. Zumindest heute.

Er las: Sehr verehrter Vorstand, hiermit kündige ich meine Stelle mit sofortiger Wirkung, weil Sie offenbar nicht dazu in der Lage sind, meine Personaldaten ordentlich zu schützen, sondern es vorziehen, sie einfach ins Internet zu stellen. Mit freundlichen Grüßen …

»Die Spaziergänger haben auf dem Fileserver eine Mitarbeiterliste gefunden und für jeden Namen darauf ein Kündigungsschreiben verfasst«, sagte Hector und kicherte. »Danke, Serienbrieffunktion!«

»Oha«, machte Phil. »Und die Unterschriften …?«

Hector schob sich Schokolade in den Mund. »Irgendein Krickelkrakel. Weißt du, was lustig ist?«

»Das PS: Ferner wende ich mich an den Datenschutzbeauftragten des Unternehmens. Oder hat der zufälligerweise auch gekündigt?«

»Die Firma hat erst nach drei Tagen gemerkt, dass was nicht stimmte. Bis dahin haben sie alle eingegangenen Kündigungen fein säuberlich mit einem Bestätigungsschreiben beantwortet. Per Post. Als die dann bei den Mitarbeitern ankam, war die Verwirrung natürlich groß.«

Phil griff sich mit der flachen Hand an die Stirn. Facepalm. Bis zu 95 % der Besucher von Webseiten waren Crawler auf der Suche nach Sicherheitslücken. Angreifer verwendeten selten brutale Gewalt. Sie durchbrachen Mauern nicht dank Zombiehorden, Rammbock und Bliden, sondern durch eine angelehnte Seitentür, deren Existenz der Burgherr vergessen hatte. Angesichts eines Terminplans voller Audienzen, Hinrichtungen und Orgien von morgens bis abends konnte man aber auch wirklich nicht an alles denken.

Phils Mobilgerät summte in der Hosentasche und beanspruchte seine Aufmerksamkeit. Er las die eingegangene Nachricht: Heute Abend bei dir? Drei Herzchen-Emojis von Annie. Phil antwortete geschwind mit Daumen hoch und lüsternes Grinsen.

»Ist was nicht in Ordnung?«, fragte Hector.

»Was? Nein, im Gegenteil, alles geil. Ich hab dir zugehört.«

»Was hab ich denn zuletzt gesagt?«

Phil legte den Kopf schief. »Nun ja, zum Glück hat die Strumpffirma sich jetzt ja an uns gewendet. Könntest du jetzt vielleicht meine Checkliste durchsehen?«

Das tat Hector anstandslos. Er steckte seine Verletzlichkeit morgens beim Betreten der Firma in den Schirmständer und nahm sie von dort abends wieder mit. Die leere Verpackung einiger Tafeln Schokolade verblieb dafür im Büro. So ähnlich verfuhren alle Mitarbeiter von SaveData, einige verbrauchten bloß statt Schokolade Kaffee, Energydrinks oder Zigaretten.

Hector hatte polnische Vorfahren, aber er betonte stets, dass niemanden das etwas angehe. Privatleben und Arbeit waren wie Öl und Wasser im Einmachglas des Lebens. Egal wie sehr man schüttelte, es kam höchstens eine etwas eklige Schaummasse dabei heraus, die sich nach kurzer Zeit wieder trennte.

So ähnlich erging es Phil am Abend, als er versuchte, mit Annie harmlose Konversation zu treiben, obwohl er genau wusste, dass sie mit ihm ins Bett wollte. Das war die geheime Bedeutung der drei Herzen.

Emojis! Man konnte alles mit ihnen sagen, und sie wurden weltweit verstanden. Es hätte so einfach sein können, hätte man auch welche verwendet, wenn man auf dem Sofa nebeneinandersaß. Aber nein, da musste man ja sprechen. Eine soziale Konvention, auf die Phil im Großen und Ganzen in dem Moment hätte verzichten können.

Annie trug Rock und Strumpfhose in Anthrazit sowie ein schwarzes, ziemlich enges Shirt. Sie sah umwerfend aus. Aber der Ablaufplan der immer gleichen gemeinsamen Abende sah zunächst ein schnelles Dinner vor.

Nach der rechteckigen Pizza aus kompakten, ebenfalls rechteckigen essbaren Kartons saßen Annie und Phil nebeneinander auf dem Sofa und streamten eine Doku über ausgewilderte Schweine in Sibirien. Die Tiere hatte ein Zuchtbetrieb gespendet. Aus einer Not heraus, wie die Off-Stimme verriet: Der zuständige Schlachthof war pleitegegangen. Irgendeine Seuche. Drei hintereinander, genau genommen. In der Tundra konnten die Viecher dann artgerecht sterben und sich selbst aus der CO2-Bilanz entfernen. Die zugehörige wissenschaftliche Erklärung kapierte Phil nicht, weil drei Viertel seines Hirns überlegten, was er zu Annie sagen konnte, ohne dass es nach schweinischer Brunft klang. Äußerste Zurückhaltung war geboten, denn der Bruch der unausgesprochenen Regel, laut der Phil so etwas wie ein Dildo mit daran befestigtem, eher nebensächlichem Körper war, konnte leicht zum Ende seines Verwendungszwecks führen.

»Sollen wir etwas anderes machen?«, fragte Phil endlich, als er es nicht mehr aushielt. Sofort merkte er, dass er sich versprochen hatte: »… etwas anderes angucken?«, war die Frage gewesen, die er sich in den letzten zehn Minuten ausgedacht hatte. Aber jetzt war es zu spät.

»Gerne«, sagte Annie, »kannst du mir die Checkliste deines Projekts von heute Nachmittag zeigen?«

Phil war einigermaßen überrascht.

»Ich weiß, ich weiß«, half Annie, »Arbeit und Freizeit sind wie Feuer und Wasser …«

»Öl und Wasser«, verbesserte Phil automatisch.

»Ich brauche morgen vermutlich so etwas Ähnliches«, erklärte Annie. »Und danach können wir ja dann … Du weißt schon.«

»Ja«, beeilte Phil sich zu versichern. »Oh ja!« Er sprang auf, holte seinen Laptop und klappte ihn auf. Während Annie seine Checkliste durchsah, warf er die eine oder andere Ergänzung ein. Als Annies Füße anfingen, mit seinen zu spielen, schluckte er, hielt die Klappe und erklärte nach kurzem Zögern, dass er noch eben schnell aufs Örtchen gehen würde.

Auf dem Rückweg stellte Phil sicher, dass ein Kondom in seiner Hosentasche steckte.

Annie hielt sich inzwischen am Küchentresen auf und trank ein Glas Wasser. Strumpfhose und Höschen lagen auf dem Boden. Ohne viel Federlesen fand die Verwendung des an Phil befestigten Dildos diesmal auf dem Kühlschrank statt.

»Jetzt bin ich ganz entspannt«, sagte Annie anschließend. »Ich schaue mal, dass ich den nächsten Bus noch kriege.«

»Sicher«, brachte Phil hervor. »Wir können ja ein andermal, ähm …«

»Du bist süß«, sagte Annie und küsste seine Nasenspitze. »Und immer für mich da, wenn ich dich brauche.«

Eine Minute brauchte Annie, um sich anzuziehen. Sie sah sich nicht einmal um, als sie durch die Wohnungstür verschwand. Phil hörte noch, wie ihre Schuhe die Treppe bearbeiteten, dann war er allein.

Er klappte sein Sofa aus und warf das Bettzeug darauf. Dann sich selbst, nackt, wie er war. Über ein Schlafzimmer verfügte seine kleine Wohnung nicht. Sie war ursprünglich größer gewesen, aber vor einigen Jahren aufgrund des akuten Wohnraummangels in zwei kleinere aufgeteilt worden. Letztlich war ein Schlafzimmer Platzverschwendung: Man benötigte es nur nachts, also genau dann, wenn man das Wohnzimmer nicht verwendete. Viel Platz benötigte ein Single-Nerd ohnehin nicht. Selbst zu kochen war kein Thema und übrigens Energieverschwendung im Vergleich zum abgeholten Essen aus der Pizzeria um die Ecke, deren Ofen die halbe Nachbarschaft mit gesunder, wohlschmeckender Nahrung aus dem Drucker versorgte.

Phil fühlte sich nicht nur entspannt, sondern äußerst lebendig und voller Tatendrang nach diesem erfolgreichen Tag. Er holte sich einen Energydrink aus dem Kühlschrank und startete Cosmic Hero. Er landete auf einem Planeten namens Baltasaar und erfuhr von Lea-Anna-Bella, der örtlichen Dorfvorsteherin, dass die ameisenähnlichen Blärgs einen hinterhältigen Angriff planten.

Phil platzierte mit Unterstützung einiger Dorfbewohner Laser-Sprengfallen-Karten in der Nähe des Dorfes, installierte Mikro-Nuklear-Plasmawerfer an strategisch optimierten Stellen und flirtete zwischendurch mit Lea-Anna-Bella, was deren Stimmung deutlich zu heben schien.

Als die Blärgs angriffen, lösten sie die Fallen aus, chitinhaltige Gliedmaßen spritzten durch die Gegend, aber es waren einfach zu viele.

Phil musste siebenmal das Level neu starten, andere Karten ausprobieren und mit Lea-Anna-Bella flirten, bis er begriff, dass er zu müde war, um es erfolgreich abzuschließen. Also machte er lieber was anderes – bis ihm die Augen endlich zufielen.

Das war gegen neun Uhr morgens.

Phil holte sich einen weiteren Energydrink aus dem Kühlschrank und brach auf in Richtung Arbeit. Er kam natürlich viel zu spät und fing sich ein paar vielsagende Blicke ein.

Aber das war es wert gewesen.

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