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DIE SCHLAUBE

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Aus der Vogelperspektive zeigt sich Brandenburgs schönstes Bachtal als eine Seenkette. Vom östlichen Bildrand greift der Hammersee nach der Bildmitte, dorthin, wo stolz auf dem bewaldeten Bergsporn das Forsthaus Siehdichum die Tradition bewahrt. Am nördlichen Ufer des Hammersees stehen, in höflichem Abstand zueinander, das Fischerhaus und die Waldarbeiterhäuser, die nach dem Ersten Weltkrieg für die deutschen Flüchtlinge aus Westpreußen und der Provinz Posen gebaut wurden. Wenn man den Hammersee von Siehdichum aus umrundet – eine empfehlenswerte Wanderung, die in einer Stunde zu bewältigen ist, – sieht man sie schon von weitem. Eines von ihnen dient als Ferienhaus, zwei sind privat. Abgeschiedener lässt es sich in Brandenburg kaum leben.

Auf dem Luftbild von Bernd Geller schließt sich an den Hammersee und Siehdichum im Norden der Schinkensee an, der sich, wie in Berlin der Schlachtensee krümmt und schlängelt wie ein Wurm, und den Staffelstab schließlich an den Langen See übergibt. Dieser wiederum verbindet sich mit dem Schulzenwasser, dessen Ende den Kupferhammer erreicht, wo das Wasser der Schlaube keine Seenkette mehr bildet, sondern einen munter sprudelnden Bachfall. Der Kupferhammer, an dem einst 300 Menschen lebten und arbeiteten, ist auf dem doppelseitigen Luftbild nicht mehr zu sehen. Wohl aber das östlich der Schlaube bis zum Horizont reichende Waldgebiet. Weil die Aufnahme im Herbst gemacht wurde, lassen sich auch gut die Standorte der Laubwälder und Kiefernforsten voneinander unterscheiden. Auch ich war erstaunt, wie weit die Buchen- und Eichenbestände vom Schlaubeufer ausschwärmen. Der Indian Summer auf dieser einzigartigen Fotografie umfasst die Wälder auf den Anhöhen rechts und links der Schlaube ebenso wie am Bachlauf selbst, etwa unterhalb des Sporns von Siehdichum.

Eine »Perle« nannte Theodor Marcinkowski, der 1946 Oberförster von Siehdichum wurde, das Schlaubetal, »denn im ganzen Lande Brandenburg gibt es nicht viel solcher Orte, die sich landschaftlich mit diesem Gebiet messen können.« Geradezu überschwänglich schwärmte der gebürtige Warschauer, der den Grundstein dafür legte, dass das Schlaubetal 1961 Naturschutzgebiet wurde: »In Miniatur ist hier der Kontinent vertreten.«

Naturlandschaften wie das Schlaubetal zu beschreiben, ist so herausfordernd wie das Fotografieren einer Flussbiegung. Das menschliche Auge sieht die Bildmitte, aber auch den Vordergrund und den Hintergrund, es fügt alles zusammen zu einem Panorama, das den Reiz des Motivs erst hervorbringt. Die Fotografie dagegen bildet nur einen Ausschnitt ab, der den Lauf einer Flussbiegung nicht annähernd einfangen kann. Umso erhellender sind Fotografien aus der Vogelperspektive – oder aber Traumbilder.

Eines dieser Traumbilder hatte sich mir eingeprägt, lange bevor ich den 25 Kilometer langen Schlaubewanderweg erstmals gegangen bin. Es war ein wenig wie bei Alice im Wunderland. Ich wusste, dass die Schlaube ein von Süden nach Norden reichendes und oft tief eingeschnittenes Bachtal bildet, dem der Oberförster Marcinkowski »Ähnlichkeit mit den herrlichsten Gebirgsgegenden« attestierte und das im Norden in Müllrose endet, dem Tor zum Schlaubetal. Also stellte ich mir vor, wie ich von Müllrose aus in dieses wilde und gebirgige Bachtal eintauche, in südlicher Richtung immer weiter hineinwandere, in immer menschenleerere Natur, und plötzlich ist die Welt da draußen, die einen im Alltag umgibt, verschwunden. Es gibt auch keinen Ausgang mehr, nicht im Süden, aber auch nicht im Westen oder Osten, weil das Bachtal von dunklen, nicht zugänglichen Wäldern umgeben ist.

Eine andere Welt würde ich betreten, ich stellte mir vor, dass ich in Müllrose durch einen unsichtbaren Vorhang gehen und in eine von Wäldern und Wasser umgebene Blase eintauchen würde. Das war das Vor-Bild, das ich von der Schlaube hatte, und das Wundersame daran war, dass es sich bei meiner ersten Begegnung in realiter nicht aufgelöst hat. Eher hat diese lange Wanderung an einem kalten Februartag von der Schlaubemühle bis zum Hotel Kaisermühle, wo wir untergekommen waren, das Bild noch bestärkt. Constanze Mikeska, die hilfsbereite Hotelbesitzerin, hat uns mit ihrem Auto von Norden nach Süden gebracht, von dort sind wir zurückgewandert. Schließlich gab es im Süden, Osten und Westen kein weiteres Tor.

Und nun, da ich selbst wie Alice im Wunderland lebe, versuche ich, mir dieses Bild zu bewahren, beide Welten, die Traumwelt und die Wachwelt, nebeneinander bestehen zu lassen, auch wenn das nicht leichtfällt, etwa, wenn es darum geht, die nüchternen Fakten dieses tatsächlich reizvollsten Baches in Brandenburg vorzustellen.


Urkundlich wurde die Schlaube als Slube erstmals im Jahre 1275 erwähnt, das war sieben Jahre nach der Gründung des Klosters Neuzelle durch den Meißener Markgrafen Heinrich. Schlaube heißt sie in den Erwähnungen erstmals 1516, zwei Jahre bevor sie die Grenze zwischen dem Stiftsgebiet Neuzelle und dem 1518 gegründeten Johanniter-Ordensamt Friedland bilden sollte. Besiedelt war das Tal der Schlaube bereits in frühgeschichtlicher Zeit. Die im siebten Jahrhundert einwandernden Slawen übernahmen dabei wohl den aus dem Indogermanischen stammenden Wortstamm sleub, was so viel heißt wie gleiten oder schlüpfen.

Tatsächlich schlüpft die Schlaube durch eine eiszeitliche Rinne, die wie die benachbarten Rinnen der Oelse oder der Dorche in Süd-Nord-Richtung verlaufen, sich also nicht an die vom Urstromtal vorgegebene Westrichtung hielten. Von »bemerkenswerten Durchbruchsschluchten« spricht das 1986 von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Klaus-Dieter Gansleweit herausgegebene Buch Eisenhüttenstadt und seine Umgebung. Tatsächlich ist das Relief des Schlaubetals beeindruckend. Bis zu 30 Meter tief hat sich der Bach teilweise eingegraben, so dass die Wanderung etwa von der Schlaubemühle bis zur Kieselwitzer Mühle zu Recht der in einer Mittelgebirgsgegend ähnelt.

Aber spätestens in Müllrose bekommt das Traumbild Risse. Wie bin ich damals darauf gekommen, dass der Lauf der Schlaube in Müllrose endet? War es eine Landkarte, der ich das entnommen hatte? Habe ich es bei Wikipedia flüchtig aufgeschnappt. Stand es in irgendeinem Reiseführer?


Als ich eines Tages den Stiftsatlas Neuzelle aus dem Jahre 1758 in die Hand bekam, sah ich auf dem Kartenblatt von Tzschernsdorf (heute Schernsdorf) gleich zweimal die Schlaube. Die eine entsprach meinem Traumbild und bildete bis zur Mündung in den Müllroser See die Grenze zwischen dem Stiftsgebiet und der »HEYDE, UNTER DAS ORD:AMT FRIEDLAND GEHÖRIG«. Aber auch im Norden, hinter der Grenze zwischen der Niederlausitz und dem »KÖNIGL. PREUSS. AMT BIEGENSCHE GRÆNZE« verlief die Schlaube – wild mäandernd neben dem Neuen Graben, also dem 1668 fertiggestellten Friedrich-Wilhelm-Kanal.

Der entscheidende Kartenausschnitt aber fehlte auf diesem Messtischblatt des Klosters Neuzelle. Er betrifft Müllrose selbst, das nicht zum Kloster, sondern zur Mark Brandenburg gehörte und deshalb auch nicht abgebildet war. Des Rätsels Lösung sah ich erst auf der Karte von Joachim Ernst Blesendorff aus dem Jahr 1670. Sie wurde gestochen, nachdem der Neue Graben zwei Jahre zuvor fertiggestellt worden war, und zeigt, wie die Schlaube aus dem Großen in den Kleinen Müllroser See fließt und nach ihrem Austritt dort kurzzeitig im Kanal verschwindet. Bald darauf tritt sie aber wieder nördlich davon aus, kreuzt den Kanal nach Süden hin, fließt in einen weiteren, nicht namentlich genannten See am Katharinengraben und nimmt dort ihren Weg nach Osten. Durch Kaisermühl fließt die Schlaube, durch Schlaubehammer, Weißenspring, Groß Lindow, Klixmühle und Weißenberg bis Brieskow, wo sie in den Brieskower See mündet und dann in die Oder.

Das gleiche Bild zeigt auch die Schmettausche Karte von 1787. Auch dort verlässt die Schlaube den Kanal und mündet in den See am Katharinengraben, der nun als Möllensee bezeichnet wird. Von dort mäandert sie fröhlich Richtung Osten, passiert die Kaisermühle, und vereinigt sich schließlich in Schlaubehammer wieder mit dem Friedrich-Wilhelm-Kanal. Ist die Schlaube in Müllrose also gar nicht zu Ende?

Eines zumindest bezeugen diese beiden Karten: Ein natürlicher Flusslauf war die untere Schlaube nach Fertigstellung des Friedrich-Wilhelm-Kanals nicht mehr. Immer wieder war beim Bau der Verbindung zwischen Spree und Oder der Schlaubelauf genutzt worden, wo sie dagegen zu wild ausuferte, wurde kurzerhand abgekürzt. Aber es war Schlaubewasser, das im Kanal stand, so dass von einem Ende des Laufs der Schlaube in Müllrose weder auf der Karte von 1670 noch auf der von 1787 die Rede sein konnte.

Dieses Ende muss später gekommen sein. Auf dem Müllroser Stadtplan von heute ist die Verbindung zwischen Kanal und der unteren Schlaube, die nun Alte Schlaube heißt, tatsächlich unterbrochen. Irgendwann muss es also einmal diesen Cut gegeben haben, vermutlich in der Zeit, in der der Möllensee kurz vor der Einmündung des Katharinengrabens in den Friedrich-Wilhelm-Kanal trockengefallen war. Auf dem Stadtplan von heute entspringt die Alte Schlaube wie aus dem Nichts auf einer Wiese östlich des Katharinengrabens und südlich des Kanals. Das Bächlein, das entlang der Gartenterrasse des Hotels Kaisermühle von Constanze Mikeska vorbeiplätschert, ist also erst ein paar Hundert Meter jung.


Eines Tages wollte ich es wissen. Wollte mich nicht auf den Stadtplan verlassen, sondern es mit eigenen Augen sehen. Wollte herausfinden, ob die »Sehschule Siehdichum« Licht ins Dunkel bringt. Vielleicht gab es die Verbindung ja immer noch? Oder schon wieder? An einem nicht allzu heißen Tag im Mai bog ich also am Ostufer des Katharinengrabens in einen Waldweg, der bald schmaler und schmaler wurde, bis ich mich durch die Äste der Eichen und Erlen kämpfen musste. Nicht nur Wald und Unterholz wurden immer dichter, sondern auch die Mückenschwärme. Umso mehr freute ich mich, als ich plötzlich zu finden glaubte, was ich suchte. Kurz bevor der Katharinengraben in den Friedrich-Wilhelm-Kanal mündet, gibt es einen Abzweig nach Osten. Ein paar Meter konnte ich ihm folgen, dann verlor ich ihn aus den Augen. Stattdessen entdeckte ich ein ärmliches, verlassenes Haus, das längst zusammengebrochen war. Vor dem Haus stand ein verwitterter Kahn. Doch hinter Haus und Kahn war kein Weiterkommen, die Sümpfe waren undurchdringlich. Führte der Abfluss also weiter durch das Feuchtgebiet oder verlor er sich ihn das, was einmal der Möllensee gewesen sein musste? Auch von der anderen Seite, am Schlaubeweg, war kein Zugang in dieses Gebiet möglich.

Vielleicht können nur Hydrologen das Rätsel lösen. Vielleicht gibt es ja noch Sickerwasser, das beide Schlauben miteinander verbindet. Mir würde es gefallen, denn ich hätte dann ein neues Bild von der Schlaube. Nicht nur das Luftbild von Siehdichum und mein Alice im Wunderland, sondern auch einen Lückenschluss. Denn warum sollen wir uns an Trennungen gewöhnen, wenn man die Dinge wieder zusammendenken kann? Man muss sich nur umsehen.

Siehdichum

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