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SIEHDICHUM

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Erst nach und nach treffen die Jäger und Treiber ein. Es ist kalt auf dem Hof des Forsthauses Siehdichum, das Lagerfeuer wärmt nur, wenn man dicht davorsteht. Im Wirtschaftsgebäude hat Andrea Maßmann ein kleines Buffet aufgebaut, es gibt Suppe, Kuchen, Kaffee und Bier. Während sich die Jagdgesellschaft aufwärmt, wird auf dem Hof die Strecke gelegt. Viel ist es nicht, was an diesem Januartag auf zwei aufeinanderfolgenden Drückjagden im Neuzeller Stiftswald erlegt wurde. Vier Rehe, ein Wildschwein, das war’s.

Die Laune lassen sich die Beteiligten nicht verderben. Gestärkt von Suppe und Bier versammeln sie sich bei Anbruch der Dämmerung auf dem Hof. Die Strecke ist mit brennenden Fackeln markiert. Die Regeln sind akribisch festgelegt: Zuerst kommt das Hochwild, dann das Niederwild. Männliches Wild kommt vor weiblichem. Starkes Wild vor schwachem, Haarwild vor Federwild. Darüber hinaus soll jedes zehnte Stück der Art eine halbe Körperlänge vorgezogen werden. Bei vier Rehen und einem Stück Schwarzwild eine eher unnötige Regel.

Ist die Strecke ordnungsgemäß gelegt, sind die Jagdhornbläser an der Reihe. Für jede Wildart stimmen sie ein eigenes Signal an, das so genannte Totsignal. Auf dem Hof des Forsthauses Siehdichum ertönt zunächst »Reh tot«, dann »Sau tot«. Anschließend wird der Name der erfolgreichen Jäger genannt und der Bruch verteilt.


Das Strecke legen ist ein Ritual, das die Jagd seit Jahrhunderten begleitet. In Siehdichum begann die Tradition im 18. Jahrhundert. Das geht aus dem Stiftsatlas von 1758 hervor, dessen Original in der Kartenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrt wird. Inmitten eines ausgedehnten Waldgebietes ist auf einem Bergsporn, der sich in den Hammersee schiebt und steil zur Schlaube abfällt, ein »Jäger-Hauß« eingezeichnet. Auch heute noch sind das Forsthaus Siehdichum, das Verwaltungsgebäude des Naturparks Schlaubetal und drei Häuser am Hammersee die einzigen Gebäude in diesem Waldgebiet, das von der Schlaube und ihren Seen durchflossen wird. Wo sonst, wenn nicht hier, kann man es fühlen, was Romantiker wie Tieck oder Eichendorf mit diesem Wort gemeint haben mögen: Waldeinsamkeit.

Begonnen hat die Geschichte von Siehdichum mit der Wahl eines neuen Abtes im Kloster Neuzelle. 1742 trat Gabriel Dubau sein Abbatiat im Zisterzienserkloster an, dessen Ländereien seit der Gründung 1268 von der Oder im Osten bis zur Schlaube im Westen reichten. Vier Jahre später ließ Dubau von seinen Mönchen an der schönsten Stelle des Schlaubetals jenes »Jäger-Hauß« errichten, das im Stiftsatlas von Neuzelle vermerkt ist. Es war ein einfaches, einstöckiges Fachwerkhaus, in dem es auch einen Betraum für die Mönche gab. Um das Gebäude herum wurden Sichtachsen in den Wald geschlagen. Der Name »Siehdichum« ist erstmals für das Jahr 1754 belegt. Im Kirchenbuch von Neuzelle hat der Historiker Winfried Töpler anlässlich der Hochzeit eines Jägers im Jagdhaus den Eintrag gefunden »Sieh dich um«. Heute steht der Name auf einem Schild vor der Einfahrt zur gleichnamigen Gaststätte: Hier sieh dich um.

Wie aber ist der Name zu deuten? War er eine Warnung an die Mönche und Jäger, auf Schritt und Tritt auf den Weg zu achten, da die Schlaube hier von zahlreichen Sümpfen und Mooren umgeben war? Oder pries er dieses Fleckchen Erde, denn von der Anhöhe hat man tatsächlich einen herrlichen Ausblick auf den Hammersee, den Schinkensee und die umliegenden Laubwälder des Schlaubetals? Stand der Name in Zusammenhang mit den im Mittelalter beliebten »Satzortsnamen« wie Schauinsland bei Freiburg oder solchen, die man Vorwerken und Jagdhäusern gab, um Schaden von ihnen abzuwenden? Ein Beispiel dafür ist »Siehdichfür« in Sachsen – als Warnung an Reisende, sich vorzusehen, wie der Namensforscher Jürgen Udolph mutmaßt. Vielleicht war er aber auch nur ein Tipp von Mönch zu Mönch: Schau mal, wie schön es hier ist.

Oder hatten die Mönche von Neuzelle gar keinen Blick für die Landschaft? Mitte des 18. Jahrhunderts bestimmte die Aufklärung das Bild des Menschen von seiner Umwelt. Vielerorts ging das einher mit einem forstwirtschaftlichen Blick auf den Wald und der Überzeugung, dass die Natur, verstanden als ungeordnete Wildnis, gezähmt und geordnet werden muss. Haben die Mönche mit der Inszenierung von Siehdichum in einer Art antiaufklärerischer Attitüde also die Gegenbewegung, die Landschaftsidee der Romantik, vorweggenommen?

Wohl eher nicht. Denn dort, wo es um die Wirtschaft des Klosters geht, handelten auch die Äbte rational. So wurden die Oderauen gerodet, um die guten Böden für die Landwirtschaft zu nutzen. Auch zwischen Oder und Schlaube waren zwischen 1650 und 1750 viele Wälder gerodet worden. Auf dem Weg nach Siehdichum ritten die Neuzeller Mönche meist über kahle Felder. Schönheit spielte für sie keine Rolle. Aus einer ungeordneten Landschaft wurde auch im antiaufklärerischen Milieu der Zisterzienser eine geordnete Landschaft. Ein Beispiel dafür ist der Barockgarten des Klosters, den Abt Gabriel Dubau streng geometrisch anlegen ließ.

Anders war es da, wo gejagt wurde. Bei der Jagd verhielten sich die Mönche nicht anders als der Adel der Zeit. »Vornehmlich der Wald, aber auch alle anderen Landschaftselemente des adligen Grundbesitzes, die zur Jagd genutzt wurden, nahmen im Kontext der adligen Selbstdarstellung Züge des Wilden, des unbeherrscht Natürlichen an«, schreibt der Sozial- und Wirtschaftshistoriker Torsten Meyer. »Die Landschaft, verstanden als naturräumliche Ausstattung, bildete den Hintergrund (…), um ihrer selbst Willen existierte sie nicht.« Das allerdings würde bedeuten, dass das Jagdhaus der Mönche nicht an der schönsten Stelle des Schlaubetals errichtet wurde, sondern dort, wo es das meiste Wild gab. Gleichwohl haben die Mönche des Klosters Neuzelle mit ihrer Namensgebung zur Legendenbildung beigetragen. Siehdichum, dieser fordernde Name, der die Landschaft ihrem Betrachter an die Hand gibt, ist seitdem in der Welt.

Und ich? An welchen Legenden stricke ich, wenn ich den geheimnisvollsten Ort des Schlaubetals seiner Einzigartigkeit beraube und ihm eine Region andichte, für die es bislang keinen Namen gibt? Was haben Beeskow und Neuzelle, Müllrose und Lieberose, Frankfurt und Friedland mit Siehdichum gemeinsam? Oder will ich nur eine geografische und literarische Leerstelle füllen, denn nicht einmal Fontane hat ein Wort über Siehdichum verloren. Ja, vielleicht stricke auch ich an einer Legende, aber gut möglich ist auch, dass ich nur eine Art Geburtshelfer bin. Vielleicht wünsche ich mir, dass das Siehdichum zwischen Spree und Oder einmal ebenso entdeckt wird wie jene Stelle im Schlaubetal, an der das »Jagd-Hauß« errichtet wurde. Dass es nicht länger im toten Winkel liegt, sondern einen ähnlichen Nachhall findet wie das Siehdichum der Mönche und Jäger. Nicht als unberührte Natur, sondern als Ergebnis des Ringens des Menschen mit einer Landschaft im Abseits.


An der Stelle, an der einst das Jagdhaus der Mönche errichtet wurde, steht heute das »Forsthaus Siehdichum«, das Andrea Maßmann bis in die jüngste Zeit betrieben hat. Es war 1909 als Herrenhaus an der Stelle gebaut worden, an der einst das Jagdhaus der Mönche stand. Zweihundert Meter weiter nördlich befindet sich an einer Waldkreuzung der Försterfriedhof von Siehdichum. Angelegt hat ihn 1891 der Königlich Preußische Oberförster Wilhelm Reuter. Kurz zuvor war seine Frau Marie gestorben, ihr Grabstein weist sie als »Frau Oberförster« aus. Auch seine 1920 gestorbene Tochter Hedwig liegt auf dem Försterfriedhof begraben. Sie starb ebenfalls im Rang einer Frau Oberförster, weil sie den Nachfolger ihres Vaters, Forstrat Karl Eyber geheiratet hatte.

Wilhelm Reuters Siehdichum war nicht mehr das der Mönche und Jäger. Es war ein preußisches Siehdichum geworden, in dem vor allem Forstwirtschaft betrieben wurde. Die zu Schernsdorf gehörende Neuzeller Stiftsförsterei hatte sich bereits 1833, da war das Kloster schon aufgelöst und Siehdichum gehörte zu Preußen, im Jagdhaus von Abt Gabriel Dubau niedergelassen. Sieben Jahre später lebten in den drei Häusern von Siehdichum 33 Personen, viele von ihnen waren Waldarbeiter. Die Waldflächen mit einer Größe von 5.547 Hektar, die dem Stift Neuzelle nach der Säkularisierung und der Überführung in eine Stiftung geblieben waren, wurden in zwei Oberförstereien aufgeteilt, eine in Neuzelle und eine in Siehdichum. Die in Siehdichum hatte 1870 Wilhelm Reuter übernommen.

Andrea Maßmann kennt die Geschichte von Wilhelm Reuter ebenso wie die Gründungsgeschichte von Siehdichum durch die Neuzeller Mönche. Die langjährige Pächterin des »Forsthauses Siehdichum« stammt aus Hangelsberg bei Fürstenwalde, hat Zootechnikerin gelernt und dann in Mecklenburg Ökonomie studiert, wo sie ihren Mann kennengelernt hat. Seitdem beide 2011 das Forsthaus übernommen haben, lebten sie unten am Hammersee zwischen zwei Waldarbeiterhäusern aus dem Jahre 1922. Das etwas vom See zurückgesetzte Fischerhaus gehört der Stiftung Stift Neuzelle, die es zusammen mit dem Forsthaus verpachtet. 1999 hatte es die Stiftung von der Treuhand zurückbekommen.


Und auch die DDR-Geschichte hat Andrea Maßmann vor Augen. Zunächst hatte Siehdichum als Gästehaus des Ministerrats der DDR gedient, danach ging es an die Staatssicherheit, die dort das Mehrzweckobjekt Siehdichum mit dem dazugehörigem Erholungsobjekt Fischerhaus betrieb. Wer sich diese Geschichte vor Augen führt, bekommt plötzlich eine ganz andere Vorstellung davon, was Siehdichum bedeuten kann, sagt Maßmann. Im Erholungsheim arbeiteten ein weiblicher Stasi-Leutnant und neun hauptamtliche Inoffizielle Mitarbeiter. Aus Siehdichum wurde Horch & Guck.

Umsehen hätte sich vielleicht auch Dieter Wurm sollen. Der Oberstleutnant des MfS vermittelte am offiziellen Außenhandel der DDR vorbei Geschäfte mit dem Westen. In Siehdichum veranlasste Wurm die Grundsanierung des Stasi-Objekts für eine Summe von 560.000 Mark. Weitere 273.000 Mark flossen in die Renovierung des Fischerhauses. Im Gegenzug erhielt der an den Arbeiten beteiligte Staatliche Forstbetrieb Müllrose Holzverarbeitungsmaschinen aus dem Westen im Wert von 50.000 D-Mark.

Was Wurm nicht wusste: Stasi-Chef Erich Mielke war bereits auf das seltsame Treiben in Siehdichum aufmerksam geworden. Er ordnete eine Revision an, bei der sich herausstellte, dass Wurm für die Bauarbeiten keinerlei Belege vorweisen konnte. Bei der anschließenden Untersuchung seiner Berliner Wohnung in der Niederbarnimstraße wurden im Kachelofen 160.000 D-Mark und 26 Kilogramm Gold gefunden. Auch in einem Depot in einer privaten Jagdhütte am Wirchensee fanden sich bei Grabungen 44 Kilogramm Gold, andernorts mehr als tausend Flaschen Schnaps, Millionen von Westzigaretten, japanische Heimelektronik, Schmuck und wertvolle Münzen – so berichtete der Spiegel im Jahr 2000. »Der größte Wirtschaftskrimi der DDR-Geschichte«, wie es das Nachrichtenmagazin nannte, spielte in Siehdichum. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit und strengster Geheimhaltung wurde Günter Wurm am 3. Dezember 1981 vom Militärstrafsenat beim Obersten Gericht der DDR zu 15 Jahren verurteilt. Er starb 1983 unter ungeklärten Umständen in der Haft.


Doch das ist Geschichte. Bei unserem Gespräch im Frühjahr 2020 sagt Andrea Maßmann: »Wenn ich vom Fischerhaus morgens hochlaufe zum Forsthaus, denke ich jedes Mal: Das ist ein besonderer Ort. Da haben die Mönche tatsächlich die schönste Stelle des Schlaubetals gefunden. Das wusste der Abt zu schätzen, aber auch die Staatssicherheit wusste es.«

Siehdichum, wo die Jäger und Treiber in den Wintermonaten ihre Stecke legen, ist aber nicht nur der Mittelpunkt des Schlaubetals. Die gleichnamige Gemeinde kann auch auf einen Rekord verweisen, der selbst im waldreichen Brandenburg seinesgleichen sucht. Wer sich in Siehdichum umschaut, sieht nämlich vor alles eines: Bäume. Denn nach dem Kahlschlag im 18. Jahrhundert wurde ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wieder aufgeforstet. Während im Schnitt auf jeden Brandenburger 4.500 Quadratmeter Wald kommen, sind es in der Gemeinde Siehdichum, zu der auch Schernsdorf, Rießen und Pohlitz gehören, 38.000 Quadratmeter pro Einwohner. 1.531 Menschen leben in der Gemeinde, umgeben von fast 60 Quadratkilometer Wald.

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