Читать книгу Rebellen - Uwe Schimunek - Страница 7
PROLOG
ОглавлениеFÜR DIESEN KLANG lohnt es sich zu sterben. Reinhard «Buddy» Buddewitz schiebt den Lautstärkeregler des Mischpults bis zur Zehn. Unter den Kopfhörern drückt der Bass auf seine Trommelfelle. Auch bei voller Lautstärke bleibt der Ton klar wie ein Sternenhimmel im August. Selbst die Bleche des Schlagzeugs klingen wie frisch poliert. Der Trommler treibt den Viervierteltakt voran.
Buddy merkt, wie sein Kopf im Rhythmus wippt. Er schließt die Augen und sieht die Musiker von Marmalade Sky beim Konzert vor sich. Die Haare fliegen dem Schlagzeuger um die Ohren. Der Bassist lockt einen immer gleichen Lauf wie ein Mantra aus den Saiten. Am Synthesizer dreht der lange Kerl mit den Locken an den Oszillatoren, die Finger der anderen Hand lässt er über die Tastatur fliegen. Die Melodie scheint aus einer Höhle am Ende der Welt zu kommen. Die Scheinwerfer strahlen die Kabelage der Klanggeneratoren an und tauchen die Haarpracht des Keyboarders in Glitzerlicht. Die Töne knarzen und blubbern um den Rhythmus herum, als würden sie tanzen.
Buddy dreht sich eine Zigarette. Ein Joint wäre ihm lieber. Doch solange er an der Aufnahme arbeitet, braucht er einen klaren Kopf und ein waches Gehör. In wenigen Momenten wird der kritische Part folgen. Buddy beschäftigt sich schon den ganzen Nachmittag mit dem Band. Stück für Stück bearbeitet er den Ton, regelt den Klang nach, eliminiert störende Schallspitzen mit dem Kompressor, schneidet Umbaupausen aus der Aufnahme und nimmt das Ergebnis auf ein Masterband auf.
Jetzt – Buddy hält die Luft an. Es ist, als würde er das Konzert in diesem Moment noch einmal erleben: Der Bassist dreht sich herum, das Kabel seines Instruments schwingt über die Bühne. Buddys Finger liegt auf dem Regler – startbereit. Das Kabel schlägt eine Welle, nähert sich dem Mikrofonständer und trifft auf das Metall. Buddy reagiert blitzschnell, er zieht den Bass-Regler mit einem Ruck nach unten, um ihn flugs wieder nach oben zu reißen.
Buddy atmet aus – Maßarbeit, der Aufprall auf den Mikroständer ist nicht mehr zu hören, der Sound unter den Kopfhörern klar wie ein Gebirgsbach.
Nach einem tiefen Zug an der Zigarette setzt Buddy die Kopfhörer ab. Der Song dauert noch über drei Minuten und weist keine weiteren technischen Mängel auf. Es reicht, wenn Buddy sich den Rest über die Boxen anhört.
Er steht auf und geht zur Kaffeemaschine. Das elektrische Teil hat er sich erst vor ein paar Monaten für das eigene Studio zugelegt. Es gibt eine Menge Musiker, die bei der Studioauswahl auf die Verfügbarkeit von Filterkaffee achten. Das weiß Buddy von seinen Tontechniker-Jobs in den Spreeblick-Studios. Bislang macht sich der feine Kaffee noch nicht bezahlt, die Aufträge nehmen nur langsam zu. Doch Buddy hat Geduld.
Er nimmt die Kanne von der Heizplatte und füllt eine Tasse. Der Kaffee muss erst etwas abkühlen. Es ist schon spät am Abend. Buddy trägt nur eine Turnhose und ein Unterhemd, dennoch schwitzt er in seinem Kreuzberger Hinterhofstudio.
Die Band arbeitet sich derweil zum Finale ihres Songs vor. Der Schlagzeuger spielt den Takt nun auf dem Becken, auch der Refrain setzt ein: «Alone. On the journey. Alone among the stars.» Die drei Musiker singen immer wieder dieselben Worte. Buddy bleiben noch knapp zwei Minuten. Er schlendert zurück zum Mischpult.
Das Gerät ist schon ein paar Jahre alt, doch selbst gebraucht hat es noch ein kleines Vermögen gekostet. Alle paar Tage muss er zum Lötkolben greifen und Kontakte erneuern, Potenziometer wechseln oder Ähnliches. Dafür würde das Pult von seiner Ausstattung her auch den hohen Ansprüchen einer Topadresse wie den Spreeblick-Studios genügen.
Allein von dem Geld, das Buddy durch seine Jobs in den Studios und bei den Konzerten verdient, könnte er sich niemals eine solche Technik leisten, nicht einmal gebraucht. Es sind Bands wie Marmalade Sky, die ihm das eigene Studio ermöglichen – freilich ohne es zu wissen. Denn die Musiker haben keinen blassen Schimmer von der Bandmaschine unter dem Techniktisch im Konzertsaal.
Inzwischen hat Buddy den Dreh heraus, er kann die Livemusik so abmischen, dass die Aufnahmen mit ein wenig Nachbearbeitung auch auf dem Tonband kraftvoll klingen. Musiker wie die drei von Marmalade Sky machen es ihm einfach. Sie spielen präzise wie Uhrwerke und hören aufeinander. Wenn einer der Instrumentalisten bei einer Improvisation etwas wagt, halten die anderen sich zurück, wird einer lauter oder leiser, ziehen die anderen mit.
Buddy hört den Trommelwirbel, der das Ende des Lieds ankündigt. Jetzt holen die Musiker alles aus ihren Instrumenten heraus und verlieren dennoch nicht die Kontrolle. Buddy setzt den Kopfhörer wieder auf und blickt auf die Pegelanzeige am Mischpult. Die Zeiger zappeln im roten Bereich, doch nichts zerrt, der Klang wird lediglich satter.
Der Schlussakkord sitzt auf dem Beckenschlag. Der Song klingt aus, und der Applaus setzt ein. Der Saal tobt. Das Berliner Publikum feiert kunstvolle Rockmusik. Zumindest im Fall von Marmalade Sky. Die drei Männer sind so etwas wie Lokalmatadoren. Buddy ist ihnen schon öfters begegnet, hat mindestens ein halbes Dutzend ihrer Konzerte gesehen. Nun hatte er sie endlich selbst abmischen dürfen und die Gelegenheit gehabt, seine Bandmaschine unterm Mischpult zu verstecken.
Der Mitschnitt bringt ihm einen dicken Bonus von seinen Auftraggebern ein. Doch es ist nicht nur das Geld, das Buddy reizt. Er möchte auch, dass die Momente der Perfektion auf dem Band eingefangen werden.
Buddy konzentriert sich wieder auf die Musik. Er weiß, dass die Band noch während des Applauses mit dem nächsten Stück beginnt. Das Intro zieht sich über Minuten hin und ist so leise, dass es beim Konzert trotz der bald einsetzenden Stille kaum zu hören war. Unbearbeitet würde die Musik an dieser Stelle später auf einem einfachen Plattenspieler vom Knacken der Nadel übertönt.
Zunächst hatte Buddy versucht, einfach die Lautstärke anzuheben, aber dadurch wurden die Saalgeräusche zu penetrant. Daher kommt sein neuestes Gerät zum Einsatz. Den Multiband-Kompressor hat Buddy nach einem Schaltplan selbst zusammengelötet und damit Hunderte von Mark gespart. Das Gehäuse passt noch nicht richtig, und die Potenziometer sind bislang nicht abgedeckt. Doch auch als offener Rohbau leistet der Zauberkasten schon Wunderdienste.
Der Applaus ebbt ab. Buddy führt schnell seine Hand zum Regler und spürt das kalte Metall. Der Hieb kommt aus dem Nichts. Der Schmerz fährt durch seinen Arm in den Körper. Es fühlt sich an, als würde seine Brust eingeschnürt, immer fester.
Buddy zuckt. Er will die Hand zurückziehen, doch er verharrt wie gelähmt. Er bekommt keine Luft mehr. Gleißend weißes Licht brennt in seinen Augen. Unerträglich weiß …