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EINS Dienstag, 1. August 1978

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GERY betrat das Geschäft in der Goltzstraße. Aus den Boxen im «33er» donnerten an diesem Vormittag The Vibrators. Irgendwann würde ein Song von Gerys eigener Band in diesem Plattenladen zu hören sein. Doch heute brüllte der Sänger der Vibrators: «She’s the kinda thing / I was warned of by my mother / Automatic lover …»

Gery entdeckte keine Kunden im Raum. Hinter dem Verkaufstresen zündete sich Siggi eine Zigarette an und rief: «Tachchen.» Sein süddeutscher Akzent war deutlich zu hören.

Gery grüßte zurück und trat an den Tresen.

«Käffchen?», fragte Siggi.

Gery zögerte. Wenn Siggi von sich aus Kaffee anbot, führte er meist etwas im Schilde. Doch auch ohne Kaffee würde Siggi mit seinem Anliegen herausrücken. Also konnte Gery das Angebot getrost annehmen. Schließlich schmeckte der Kaffee hier ziemlich gut. «Klar!», sagte Gery deshalb.

Siggi drehte sich zu der Kaffeemaschine hinter dem Tresen um, füllte eine Tasse und stellte sie vor Gery ab.

«Is heiß», warnte Siggi. Er nippte an seinem eigenen Kaffee, der anscheinend schon eine Weile in der Tasse abkühlte. «Schon den neuesten heißen Scheiß aus Amerika gehört?»

«Keine Ahnung», antwortete Gery.

In Siggis Laden trafen in den kürzesten Abständen die obskursten Schallplatten aus aller Welt ein.

Siggi zog eine Single unter dem Tresen hervor. Das Cover zeigte John F. Kennedy auf der Rückbank eines Cabrios. Auto und Mann waren in Schwarz-Weiß gezeichnet, doch aus Kennedys Hinterkopf spritzte eine blutrote Fontäne.

«Witzig», sagte Gery.

«Misfits», erklärte Siggi, obwohl es auch auf dem Cover stand. Er stoppte die Platte der Vibrators und legte die Misfits-Single auf.

Die A-Seite hielt sich nicht mit Vorspielen auf. Einer der Musiker brüllte im Hintergrund: «One, two, three, four.» Und gleich darauf rief der Sänger zu hektischem Gitarrengebolze etwas wie: «President’s bullet-ridden body in the street …»

«Der klingt ja wie Jim Morrison von den Doors bei einem Wutanfall», stellte Gery fest.

«Heißer Scheiß, sag ich doch.»

Abrupt endete der Song. Das Stück konnte kaum anderthalb Minuten lang sein. Der wütende Jim Morrison sang indes gleich weiter: «We are 138 …»

Nein, die Stimme war nicht Gerys Fall. Der Kerl von den Misfits verfügte zweifellos über Talent. Dennoch erinnerte dieses Jim-Morrison-Getue Gery an seine Vergangenheit, an das, was er nach der Lehre hinter sich gelassen hatte: die Auftritte mit der Dorfband an den Wochenenden. An die Tanzabende in der norddeutschen Einöde, an seine Musikerkollegen mit dem Sendungsbewusstsein von Elvis Presley und der Begabung eines Schimpansen aus dem Hamburger Zoo. «Is ganz okay», sagte Gery deshalb.

«Ganz okay?» Siggis Stimme überschlug sich beinahe. «Das fetzt, Alter!»

Gery nahm einen Schluck von seinem Kaffee. Sicher wollte Siggi ihn nicht ausschließlich von den Qualitäten einer neuen Band aus Amerika überzeugen. Der gab doch keinen Kaffee aus, wenn er im besten Fall eine Single verkaufen konnte.

Während Gery noch darüber nachdachte, klirrte der Schlussakkord des zweiten Songs aus den Boxen. Siggi drehte die Scheibe um. Auf der B-Seite schrammelte die Band immerhin an die fünf Sekunden, bevor der Sänger brüllte: «Attitude / You got some fucking attitude!»

«Sag mal …» Siggi hielt das Plattencover in der Hand und schaute darauf. Der Song von den Misfits war schon wieder zu Ende. Sofort begann ein zu schnell gespieltes Bluesriff. Siggis Worte klangen über dem Geschrammel ein wenig unheimlich, als er fragte: «Hast du was von Buddy gehört?»

«Von Buddy? Dem Tonmeister?»

«Von welchem Buddy denn sonst?»

«Nee.»

Siggi schien mit der Antwort nicht zufrieden. Doch statt etwas zu sagen, trank er mit verbissener Miene einen Schluck Kaffee.

«Ich kann ihm aber etwas ausrichten.» Gery versuchte einen versöhnlichen Ton anzuschlagen, was gar nicht so leicht war, da er den Lärm der Misfits übertönen musste. «Ich sehe ihn heute Abend. Da arbeite ich als Kabelträger in den Spreeblick-Studios.»

«Das wäre klasse. Buddy schuldet mir nämlich etwas.»

«Tatsächlich? Was denn?»

«Sag ihm einfach, dass ich warte. Er weiß dann schon Bescheid.» Siggi wandte sich dem Plattenspieler zu. Schon war auch der vierte Misfits-Song zu Ende.

Als Siggi den Kopf wieder hob, schaute er an Gery vorbei Richtung Tür. Anscheinend spielte sich dort etwas Interessantes ab. Siggi schnappte sich eine Single, zog die Platte aus dem Cover und legte sie auf. Dabei blieb sein Blick auf die Tür gerichtet.

Der erste Akkord ertönte, und Gery wusste, warum Siggi an ihm vorbeistierte. Die aktuelle Blondie-Single legte Siggi nur auf, wenn eine ganz bestimmte Person den Laden betrat: Debbie.

Gery gab dem Reflex nach und drehte sich um. Debbie trug ein graues T-Shirt mit abgeschnittenen Ärmeln, der weite Ausschnitt ließ schwarze BH-Träger erkennen.

«Hey!», grüßte Debbie. Als sie an den Tresen trat, schien der ganze Laden heller zu werden.

«Mit Milch?», fragte Siggi. Seine Stimme klang so tief, als drücke er die Stimmbänder bis in den Bauch.

«Danke», flötete Debbie. Während sich Siggi um den Kaffee kümmerte, wandte sie sich Gery zu. «Herr Granulat, dich sieht man ja auch überall.»

Gery zuckte stets zusammen, wenn Debbie ihn mit diesem seltsamen Namen ansprach. Es war ein Spiel zwischen den Mitgliedern ihrer Band. Genauer gesagt, war es eine Marotte ihres Gitarristen, der sich selbst Franz Freibier nannte. Ständig gab er allen und jedem groteske Fantasienamen. Franz vertrat die These, dass jeder sich selbst stets neu erfinden und dafür auch einen entsprechenden Namen verwenden sollte. Gery war froh, dass er zumindest seinen Vornamen hatte behalten dürfen. Obwohl «Gery» nur sein Spitzname war. Eigentlich hieß er Gerald, Gerald Gebhardt, aber das wusste hier keiner. Denn die Zeiten, in denen er mit «Gerald» angesprochen worden war, hatte er hinter sich gelassen.

Wie Debbie ihn nannte, spielte für Gery ohnehin keine Rolle. Hauptsache, sie redete überhaupt mit ihm. Denn sie hatte nicht nur ihren Spitznamen und die Haarfärbetechnik von der Blondie-Sängerin Debbie Harry übernommen, sondern auch deren unverschämt gutes Aussehen.

Der Blondie-Song war beim Refrain angekommen: «I am always touched by your presence, dear.» Siggi reichte Debbie die Tasse. Der Kaffee war derart mit Milch verdünnt, dass er beinahe so blond wie Debbie aussah.

Sie bedankte sich kurz und fragte Gery: «Weißt du, ob Franz heute in der ‹Gefahrbar› ist?»

«Ich glaube, erst morgen wieder.» Wieso erkundigten sich alle bei ihm nach irgendwelchen Leuten? Sah er aus wie die Auskunft? «Warum fragst du?»

«Ich wollte mit ihm noch kurz über einen Text sprechen.»

Das könnte sie genauso gut mit mir, dachte sich Gery, schwieg aber.

Debbie trank einen Schluck von ihrem Kaffee und schenkte Gery einem filmreifen Augenaufschlag. «Vielleicht hast du ja Zeit.»

Nicht erste Wahl, aber was soll’s, dachte Gery. «Ja, natürlich. Gerne», antwortete er.

Kriminalkommissar Peter Kappe betrat den Hinterhof in der Kreuzberger Adalbertstraße. Hier sah es aus, als habe jemand einen illegalen Schrottplatz eingerichtet oder eine Autowerkstatt unter freiem Himmel. Zwischen ein paar Autowracks stand ein alter Mercedes mit platten Reifen und geöffneter Motorhaube. Neben dem Wagen schien eine Werkzeugkiste auf den Mechaniker zu warten. Doch der Hof war, abgesehen von Kappe und seinem Kollegen Kriminalmeister Wolf Landsberger, menschenleer.

Hinter den Autos bot ein einstöckiges Gebäude ein Bild des Jammers. Der Putz bröckelte von der Hauswand, die winzigen Fenster standen offen. Ihre Rahmen waren derart verzogen, dass fingerdicke Spalten zwischen Holz und Mauerwerk klafften.

«Sieht so aus wie eine alte Werkstatt», stellte Landsberger fest.

«Möglich», brummte Kappe. Er betrat das Haus. Im Innern baumelte eine nackte Glühlampe an einem Kabel und tauchte einen Raum in Zwielicht. Es stank nach einer Mischung aus Pissoir, Komposthaufen und Eckkneipe.

Kappe hielt sich die Nase zu und blickte sich um. An den Wänden hingen vergilbte Poster von Rockbands, und in der Mitte des Raums standen ein Musikmischpult von der Größe einer Rittertafel sowie zwei riesige Lautsprecherboxen auf einem Tisch. Das Pult wirkte in dieser Muchtbude fremd, denn es glänzte wie ein Lackschuh. Auf einem Beistelltisch thronten mehrere Bandmaschinen, Drähte und Kabel quollen aus Kästen mit Leuchtdioden und Reglern. Daneben häuften sich Zigarettenkippen in einem Aschenbecher. An der hinteren Wand gammelte ein Spiegel vor sich hin, über und über mit Schmutzschlieren bedeckt.

Mehrere Beamte von der Kriminaltechnik drängten sich in dem kleinen Raum.

«Hallo, Kappe! Da biste ja endlich», rief ihm Dr. Doreen Niedergesäß zu. Die Gerichtsmedizinerin kniete vor einem weißen Laken, unter dem offenbar der Grund ihrer aller Anwesenheit lag.

«Tag auch», murmelte Kappe, als er neben sie trat.

«Willst sicha wissen, wen wa hier ham?»

«Wäre schön», erwiderte Kappe.

«Een Nachbar hat den Mann als Reinhard Buddewitz identifiziert. ’n Tontechnika. Is vielleicht besser für dein Magen, wenn du dir später die Fotos ankiekst. Oda willste die Maden bei da Arbeit sehen?»

Kappe verdrehte die Augen. «Lass mal. Ich warte gern.»

«Der junge Mann hat die Hütte jemietet und hier wohl ’n Tonstudio betrieben. Det hier sollte wahrscheinlich de Regie sein», fuhr Doreen Niedergesäß fort. Sie zeigte mit der Hand im Raum herum. Dann wies sie auf die hintere Wand mit dem Spiegel. «Da hinten sind noch ’n Uffnahmeraum und so wat wie ’n Wohnzimma.»

Nun erkannte Kappe, dass es sich bei dem dreckigen Spiegel am anderen Ende des Raums tatsächlich um eine Glasscheibe handelte. Die Schmutzschlieren verhinderten die Sicht in das dahinter liegende Zimmer.

«Stinkt’s dahinten genauso wie hier?», erkundigte sich Kappe.

«Na ja. Ick vermute, da wurde jenauso ville Bier jetrunken und vaschüttet und alle möglichen Rauchwaren konsumiert. Aba ’ne Leiche liegt nur hier.» Doreen Niedergesäß zögerte einen Moment, bevor sie ergänzte: «Und zwar seit unjefähr drei, vier Tagen, würde ick schätzn.»

«Hast du schon eine Vermutung zur Todesursache? Gibt es Hinweise auf Fremdeinwirkung?»

«Uffn erstn Blick würd ick sagen, Herzstillstand inner Folge von ’nem Stromschlag. Det kann zum Beispiel durch ’n defektet technischet Jerät passiert sein.» Dr. Niedergesäß zeigte auf den Tisch mit den Bandmaschinen, Kästen und Drähten. «Näheret wie imma im Bericht.»

Kappe wusste, dass er von der Gerichtsmedizinerin im Moment nicht mehr erfahren würde. Daher fragte er in den Raum: «Wer hat den armen Kerl denn gefunden?»

Ein Beamter der Spurensicherung zeigte auf die verdreckte Scheibe. «Der erwähnte Nachbar. Er sitzt dahinten und wartet auf Sie.»

«Na dann.» Kappe gab Landsberger ein Zeichen und bahnte sich seinen Weg vorbei an den Beamten.

Im Raum hinter der Scheibe standen Berge von Kisten, die Wände hingen voller Eierpappen. Eine offene Tür führte in eine Art Schlafzimmer, das an eine Studentenbude erinnerte. Eine Matratze lag auf dem Boden, daneben stand auf den nackten Dielen ein Fernseher, der seine beste Zeit in den Sechzigerjahren gehabt hatte. In der Ecke fand sich ein Tisch mit zwei Holzstühlen. Auf dem einen saß ein Schlacks mit langen Haaren und Koteletten, sein Leinenhemd war mit Ölflecken beschmiert und so weit aufgeknöpft, dass seine Brustbehaarung zu sehen war.

Neben dem Kerl stand ein Beamter in Uniform. Der Polizist zog einen Schemel unter dem Tisch hervor. «Das ist Herr Schneider. Er hat uns gerufen.»

«Danke», sagte Kappe. Er setzte sich auf den Stuhl neben Schneider. Der Beamte nickte kurz und verließ das Zimmer. Landsberger schob den Schemel zurecht und nahm Platz. Mit seinem Maßanzug wirkte Kappes Kollege, als wäre er mit Tricktechnik in diese Hinterhofbuden-Szenerie montiert worden.

«Guten Tag, Herr Schneider. Ich bin Kriminalkommissar Kappe, und mein Kollege heißt Landsberger», sagte Kappe. Er sah, wie Landsberger ein Notizbuch aus dem Jackett zog, und ließ sein eigenes deshalb stecken. «Wann haben Sie die Leiche entdeckt?»

«Na ja, eigentlich hab ick nur bei da Polizei anjerufen, weil et so jestunken hat.»

«Heute Morgen?»

«Ja.» Schneider schaute auf seine zerkratzte Armbanduhr. «Ach du meine Güte, ick sitze schon seit üba andathalb Stunden hier!»

«Nun, wenn Sie einfach auf unsere Fragen antworten, dauert es vielleicht nicht mehr allzu lange», sagte Landsberger. Er warf einen Blick auf seine eigene Uhr, die allerdings ungefähr doppelt so teuer wie Schneiders gesamte Garderobe aussah. «Sie haben den Geruch demnach gegen zehn Uhr festgestellt.»

«Ja», antwortete Schneider. Er klang, als wüsste er nicht, ob er eingeschnappt oder eingeschüchtert sein sollte.

«Wo?», fragte Kappe.

«Uffm Hof.»

«Was haben Sie dort gemacht?»

«Ick hab det Auto repariert.»

«Den Mercedes?»

«Ja.»

Landsberger sah von seinem Notizbuch auf. «Der Wagen macht nicht den Eindruck, als würden Sie erst seit heute Morgen an ihm herumwerkeln.»

«Die Karre jehört ’nem Kumpel. Die is nich jestohlen. Wirklich nich.» Nach den bisherigen knappen Antworten sprudelten die Worte nun geradezu aus dem Mann heraus. «Ick bastle imma mal an da Kiste rum. Wenn ick nich uff Montage oda zu müde bin. Und das is een Freundschaftsdienst. Ohne Bezahlung. Det is doch nich verboten.»

«Das ist im Augenblick nicht die Frage», sagte Kappe. «Mich interessiert, ob es nicht auch schon gestern schlecht gerochen hat. Oder vorgestern.»

«Ick hatte letzte Woche mal so ’n seltsamet Jefühl. Aber da is der Motor wieder in Jang gekommen. Wenn der tuckert, riechts im Hof nicht jerade nach 4711.»

«Wo wohnen Sie denn, Herr Schneider?», erkundigte sich Landsberger.

«Inne Vorderhaus. Parterre.»

«Und dort haben Sie in den vergangenen Tagen auch nichts gerochen?», fragte Landsberger.

«Nee. Ick war übat Wochenende in Bochum un hab tageweise uffm Bau jeholfen.»

«Was können Sie uns über Herrn Buddewitz berichten?»

«Nich ville. Der ist ja meistens erst mitten inne Nacht heimjekommen. Hat uff Konzerten jearbeitet. Und manchmal hatta tachsüba inne Hütte hinten Krach jemacht. Aba nur manchmal. Da hab ick ooch nix zu jesagt.»

«Gut, danke. Das war’s fürs Erste, Herr Schneider.» Landsberger klappte sein Notizbuch zu.

Kappe stand auf. «Sie halten sich in den nächsten Tagen bitte für Nachfragen bereit und melden sich ab, wenn Sie die Stadt verlassen.» Er wartete, bis Herr Schneider nickte, und schloss: «Wir begleiten Sie nach draußen.»

Josef Bolp schlenderte den Flur des Berliner-Blitz-Gebäudes entlang. Er freute sich. Zwar wiesen auch die Gesichter der Kollegen eine gewisse Sommerbräune auf, doch mit seiner gerade auf Ibiza aufgefrischten Hautfarbe hielt keiner mit.

In seinem Vorzimmer erblickte er eine ältere Sekretärin aus einer anderen Abteilung. Bolp erinnerte sich daran, dass seine Vorzimmerdame ausgerechnet zum Zeitpunkt seiner Rückkehr selbst in den Urlaub fahren wollte. Nun durfte er die nächsten zwei Wochen mit dieser alten Schachtel im Rüschenhemd vorliebnehmen.

«Herr Bolp!» Die Schreckschraube sprang vom Stuhl auf und grinste ihn an. «War der Urlaub angenehm? Sind Sie gut erholt? Kann ich schon irgendetwas für Sie tun?»

So viele Fragen auf einmal! Bolp lehnte sich an den Schreibtisch, hinter dem die Alte mit erwartungsvollem Blick stand, und sagte: «Ja. Ja. Und ja. Geben Sie mir bitte die eingegangene Korrespondenz der vergangenen Tage.»

Die Sekretärin griff in die Ablage und zog einen kleinen Stapel Papier hervor. «Damit werden Sie sicher eine Weile beschäftigt sein. Darf ich Ihnen einen Kaffee bringen?»

Offensichtlich gab sich die Schreckschraube Mühe. Bolp verspürte dennoch keine Lust auf Leutseligkeit. Kurz überlegte er, die Frau nach ihrem Namen zu fragen. Doch er entschied, dass sich das für die paar Tage nicht lohnte. Also sagte er knapp: «Schwarz.»

«Ich weiß.» Die alte Schachtel ging los, um den Kaffee zu holen.

Bolp sah ihr hinterher. Sie eilte den Gang hinunter, als wäre der Kaffee in der Redaktion knapp. Bolp betrachtete den Packen Papier in seiner Hand. Gab es in zwei Wochen immer derart spärlichen Posteingang? Er griff nach den aktuellen Ausgaben der Berliner-Blitz-Zeitung und eines Konkurrenzblatts und schlurfte in sein Büro. Dort knallte er die Papiere auf den Schreibtisch und ließ sich auf den Bürosessel fallen.

Keiner der Briefe weckte Bolps Interesse, nicht die Eröffnung eines Cafés in Charlottenburg, nicht der Set-Termin zur neuen Sendung des Dritten Fernsehprogramms, nicht das Barbecue am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität. Hier fehlte nur noch die Einladung zu einer Sitzung eines Kleingartenvereins. Sortierte niemand mehr die Post vor? War in der Stadt nichts los? Oder hatten sich in den letzten zwei Wochen die jungen Streber der Redaktion alle guten Themen unter den Nagel gerissen? Vielleicht war das die Strafe seines Chefs dafür, dass er einen Tag mehr Urlaub als üblich genommen hatte, um die wöchentliche große Redaktionsrunde zu schwänzen.

Es klopfte an der Tür.

«Ja», brummte Bolp.

Die Sekretärin schlurfte ins Zimmer und brachte den Kaffee. Wenigstens das klappte noch.

Sie stellte die Tasse vor Bolp auf den Tisch und fragte: «Kann ich noch etwas für Sie tun?»

«Bitte rufen Sie oben an. Fragen Sie, ob es noch andere Termine gibt, von dem Mist hier abgesehen.»

«Sofort, Herr Bolp.» Die alte Schachtel eilte zurück ins Vorzimmer.

Bolp schob den Poststapel beiseite und widmete sich den Zeitungen. Auf der Titelseite der letzten Berliner-Blitz-Ausgabe prangte ein Foto des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger. In ganz Deutschland versuchten die Linken den Mann abzuschießen, weil er im Zweiten Weltkrieg als Jurist an mehreren Todesurteilen beteiligt gewesen war. Doch Politik war nicht Bolps Gebiet. Neben dem Filbinger-Artikel stand die Schlagzeile: So geht es dem Kaiser in New York! Eine Geschichte über Fußballer Franz Beckenbauer, der seine Millionen jetzt in der US-Operettenliga verdiente – so etwas verkaufte sich offenbar auch noch nach dem peinlichen WM-Versagen der deutschen Fußballnationalmannschaft im Juni in Argentinien.

Die Konkurrenz titelte: Die neue Mode für abenteuerlustige Mädchen! Oben ohne auf Ibiza immer beliebter! Unter der Überschrift lächelte eine langbeinige Blondine mit üppigen Brüsten in die Kamera. Das machte für Bolp nicht den Eindruck, als würden die Kollegen gerade in einer Flut brennender Themen ertrinken.

Es klopfte erneut an der Tür. «Ja doch!», rief Bolp genervt.

Die Schreckschraube erschien im Türrahmen. «Der Herr Chefredakteur lässt mitteilen, dass Sie sich in Ruhe in die Themenlage einarbeiten sollen. Wenn Sie im Zuge dessen auf eine Geschichte stoßen, mögen Sie vorstellig werden.»

«Vorstellig werden?»

«Das waren seine Worte, Herr Bolp.» Die alte Schachtel sprach, als wäre sie die Mutter eines Schülers, der schlechte Noten nach Hause gebracht hatte.

«Danke.»

Die Sekretärin blieb in der Tür stehen und guckte Löcher in die Luft.

«Sie dürfen gehen!», ergänzte Bolp.

Widerwillig wandte sich die Sekretärin ab und schloss die Tür hinter sich.

Bolp überlegte, ob er seine Quelle bei der Polizei anzapfen sollte. Dann fiel ihm ein, dass seine Zuträger im Urlaub weilten. Also ging er noch einmal den Stapel mit der Post durch. Er würde eine Geschichte finden!

Er stieß auf eine Postkarte. Das Bild auf der Vorderseite zeigte eine Sängerin mit einem Mikrofon und einer Brille in Form eines Schmetterlings, die Bolp irgendwoher kannte. Erst beim zweiten Hinsehen bemerkte er, dass es sich bei dem Bild nicht um ein Foto, sondern um eine Zeichnung handelte. Der Blick der Frau wirkte aufreizend. Zugleich schien sie seltsam abwesend, als würde sie unter Drogen stehen. Bolp drehte die Karte herum. Es handelte sich um eine Einladung zu einer Ausstellung, die am nächsten Tag eröffnet werden sollte. Ein gewisser John Pistol verantwortete die Schau namens Stars and Art.

Da würde er hingehen. Bekiffte Sternchen könnten ein paar Zeilen wert sein, dachte Bolp.

Das Blatt Papier in der Schreibmaschine hing schief. Peter Kappe versuchte es durch Drehen an den Führungsrädern gerade zu ruckeln. Doch es wurde immer schlimmer. Kappe seufzte, zog das Papier aus der Maschine, rückte die Führungen enger zusammen und schob das Blatt erneut unter die Andruckräder. Nun saß das Papier zwar korrekt, aber was er schreiben sollte, wusste Kappe immer noch nicht.

Wolf Landsberger erlöste ihn, als er mit einer dünnen Mappe unterm Arm ins Büro trat.

«Über diesen Reinhard Buddewitz gibt es eine Polizeiakte wegen einer Drogensache.» Landsberger legte die Mappe auf seinem Schreibtisch ab und setzte sich auf den Bürostuhl. Seine Frisur saß auch am frühen Nachmittag immer noch, als käme er frisch vom Friseur.

«Leg los. Was wissen wir über den Mann?», fragte Kappe.

Landsberger öffnete die Mappe und sagte: «Jahrgang ‘47. Geboren in Berlin, drüben in Treptow. Die Eltern sind aber gleich nach seiner Geburt in den Westen gezogen. Gutbürgerliche Familie, der Vater Architekt, die Mutter Hausfrau. Buddewitz selbst hat einen IHK-Abschluss als Radio- und Fernsehtechniker im Jahr 1969 gemacht, Prüfung zum Tonmeister 1975, beides hat er mit sehr guten Leistungen abgeschlossen.» Landsberger blätterte und fuhr fort: «Reinhard Buddewitz war ein Nachzögling. Die Eltern haben inzwischen das Zeitliche gesegnet. Der Vater ist vor vier Jahren an einem Herzinfarkt gestorben. Die Mutter kurz darauf auch. Reinhard Buddewitz war nicht verheiratet, außer dem Bruder hatte er keine Familie mehr.»

«Was ist mit den Drogen?»

Landsberger blätterte weiter. «Ich habe hier eine Ermittlung wegen Missbrauchs von Betäubungsmitteln. Die wurde mit einer Verwarnung per Strafbefehl beendet. Nächstes Jahr wäre die Sache verjährt und gelöscht worden.»

«Drogen», stellte Kappe fest und mutmaßte: «Vielleicht hat sein Tod etwas damit zu tun. Überdosis, Ärger mit dem Dealer.»

«Na ja, in der Akte steht etwas von Cannabiskonsum, davon stirbt ja keiner.» Landsberger blickte von den Unterlagen auf. «Außerdem hat die Niedergesäß gesagt, der Mann sei vermutlich einem Stromschlag erlegen. Das sieht mir eigentlich nicht nach einem Drogentod aus.»

Kappe setzte zu einer Antwort an, hielt aber inne. Er könnte die Binsenweisheit äußern, dass Klarheit erst nach dem Obduktionsbericht herrsche. Andererseits hatte die Rechtsmedizinerin sicher genug Junkies mit Überdosis auf dem Tisch liegen gehabt, um einen Hinweis darauf zu erkennen. Auch Schläge mit Eisenstangen von einem wütenden Dealer wären ihr kaum entgangen. Also seufzte Kappe lediglich.

Landsberger wartete noch einen Moment und wandte sich dann wieder der Akte zu. «Diese Hütte war tatsächlich sein erster Wohnsitz», murmelte er.

«Vielleicht gab es eine Freundin mit ’nem Doppelbett», warf Kappe ein.

«In den Akten steht nichts davon, aber möglich wär’s», sagte Landsberger, ohne von den Papieren aufzublicken. «Dem sollten wir nachgehen.» Er zückte einen Stift und notierte etwas. Dann blätterte er weiter. Plötzlich hob er eine Seite etwas an und schaute ungläubig.

«Was ist denn?», fragte Kappe.

«Es gab offenbar eine polizeiliche Sonderüberprüfung.» Landsberger reichte Kappe das Papier über den Schreibtisch hinweg.

Kappe nahm es entgegen. Es handelte sich um einen Verweis auf ein Dossier des Polizeilichen Staatsschutzes. «Das müssen wir beschaffen», stellte Kappe fest.

«Ich frage das über Engländer ab», sagte Landsberger.

Kappe gab Landsberger das Papier zurück und dachte an den Chef. Wenn der Kriminalhauptkommissar davon erfuhr, hing der Fall an der großen Glocke. «Vielleicht haben wir es mit einem einfachen Arbeitsunfall zu tun. Der Mann war Rundfunktechniker und hat einen Stromschlag bekommen. Ich weiß nicht, ob wir dieser Akte noch etwas hinzufügen müssen.»

Landsberger legte das Blatt Papier wieder in die Mappe zurück. Dabei murmelte er: «Einser-Abschluss und über zehn Jahre Berufserfahrung und dann so ein dummer Unfall.»

«Im Leben passieren die seltsamsten Dinge», erwiderte Kappe, auch wenn er sich dabei wie ein Phrasendrescher vorkam.

«Ich weiß nicht …», sagte Landsberger skeptisch.

Kappe rieb sich die Stirn. «Eigentlich ist es auch egal. Wir haben die Sache nun erst mal auf dem Tisch. Ob wir wollen oder nicht. Und bis zu den Berichten der Kriminaltechnik und der Rechtsmedizin wird sich das auch nicht ändern.»

«Es scheint, als hätten wir eine unangenehme Aufgabe zu erledigen», sagte Landsberger. Er schloss die Akte.

Kappe richtete sich auf. «Also gut, fahren wir zu Buddewitz’ Bruder.»

Gery legte die Kassette in das Abspielgerät und drückte auf den Startknopf.

«Mach ein bisschen lauter!», forderte Bert ihn auf.

«Okay», brummte Gery, bevor er den Lautstärkeregler bis kurz vor den Anschlag drehte.

Die Gitarre schrammelte auf einen ewig langen Trommelwirbel ein Intro, zu dem eine gepresste Stimmte im Takt immer wieder «Tick tock / Tick tock» aufsagte. Die erste Strophe folgte. «I’m not disconnected / I’m not unaware / I’m in one place at one time / I’m neither here nor there», sang der Frontmann mit exaltierter Stimme.

«Das fetzt!», rief Gery.

«Sag ich doch!», rief Bert zurück. Er sammelte Wein- und Schnapsflaschen zusammen und gab sich Mühe, das Glas im Takt in den Pappkarton zu werfen. Typisch Schlagzeuger. Manchmal lag er einen Moment daneben. Typisch Bert.

Gery schlurfte zur Tür. Die Garage im Garten hinter dem Haus von Bert und dessen Mutter in der Tempelhofer Fliegersiedlung diente ihnen als Proberaum, und hier wollte Gery mit Bert ein Studio einrichten. Ein paar Songs hatten sie sogar schon aufgenommen. Doch derzeit versank der Raum im Müll. Nach den Proben hatte niemand Lust, noch aufzuräumen. Also schnappte sich Gery nun den Mülleimer und ging zum Gitarrenverstärker. Dort türmte sich ein Mount Everest aus erkalteten Zigarettenstummeln in einem Aschenbecher. Vorsichtig hob Gery das Gefäß an und entleerte es in den Eimer. Ein bisschen Asche rieselte neben den Kübel. Gery stellte den Aschenbecher zurück auf den Verstärker und schaute sich um. In einer Ecke standen Unmengen an Bierflaschen, über den Flaschenhälsen lagen mehrere Stoffbeutel. Gery ging darauf zu.

Das Lied war inzwischen beim Refrain angekommen: «Now my mind keeps time like clockwork / And I think in sync like clockwork.» Dem Sänger gelang es, die Worte im Stakkato zu rufen und dabei trotzdem eine Melodie auf den hektischen Rhythmus zu zaubern. Gery ertappe sich dabei, wie er leise mitsang. Er bückte sich und tastete die Beutel ab. Einer fühlte sich klamm an, doch der nächste schien Gery trocken genug, um ihn als Staubtuch zu benutzen.

«Gibste mir mal ’n Bier?», rief Bert ihm zu.

Gery schaute über die Flaschensammlung und entdeckte tatsächlich ein paar verschlossene. Er schnappte sich zwei. Mit dem Bier und dem trockenen Beutel tappte er zu Bert.

Der zückte einen Drumstick aus der Hosentasche und öffnete damit die erste Flasche. Der Schaum spritzte über Berts T-Shirt. In besseren Zeiten musste der gesamte Stoff einmal so schwarz gewesen sein wie die Stellen, die nun nass wurden. Das Bier sprudelte bis auf den Teppich.

«Mist!», sagte Gery.

«Ist gut fürs Raumklima!» Bert grinste. Er stellte die Flasche ab und öffnete die zweite. Das gelang ihm ohne Spritzen.

Gery nahm die Flasche entgegen. «Welche Band ist das denn?» Er zeigte mit dem Bier in der Hand auf das Kassettendeck.

«The Boomtown Rats. Eine neue Platte, die gerade erst rausgekommen ist.» Bert klang wie ein Verkäufer auf dem Wochenmarkt.

«Cool!»

Bert grinste und begann, die auf dem Boden herumliegenden Kabel aufzuwickeln.

Der Song endete mit dem Klingeln eines Weckers, und sogleich donnerte das nächste Stück los. Zu wildem Getrommel und einer Schrammelgitarre klimperte ein Klavier. Gery gefiel dieser fiebrige Glamrock. Er wandte sich seinem Bassverstärker zu und wischte die Armatur mit dem Stoffbeutel sauber. Dann nahm er einen Schluck vom Bier und machte beim Mischpult für die Gesangsboxen weiter. Das Teil hatten sie aus mehreren defekten Geräten selbst zusammengebaut. Der Lappen blieb an einem Kanal hängen. Die Abdeckung aus Aluminium löste sich. Gery hob den Metallstreifen an. Die Bauteile steckten in den dafür vorgesehenen Löchern, doch sie waren noch nicht mit der Elektronik im Innern verbunden. Eine gute Gelegenheit für eine Reparatur, fand Gery. Er holte Lötzinn, Lötfett und einige Drähte aus der Schublade im Tisch unter dem Pult. Doch das Wichtigste fand er nicht.

«Wo ist denn der Lötkolben?», fragte er Bert.

«In der Schublade», antwortete Bert, ohne von seinem Kabelsalat aufzublicken.

«Nein, ist er nicht.»

«Wieso nicht?»

«Woher soll ich das wissen?», fragte Gery genervt. Er legte den Lötkolben immer in diese Schublade. Wann hatte er ihn zuletzt verwendet? Vielleicht vor einer Woche? «Mensch, pass auf das Zeug besser auf!», rief er Bert zu und knallte die Schublade zu. «Wann hast du das Teil zuletzt benutzt?»

«Was weiß ich!» Bert guckte ihn grimmig an. «Das ist ein Proberaum und soll mal ein Studio für Punk werden! Oder möchte der Herr hier lieber eine Sparkassen-Filiale einrichten?»

Gery antwortete nicht. Er schaute auf seine Armbanduhr. Wenn er vor seiner Schicht in den Spreeblick-Studios noch mit Debbie über ihre Texte reden wollte, musste er los. «Mach nicht so ’nen Aufstand, Bert», sagte er in versöhnlichem Ton. «Es wäre einfach dufte, wenn der Technikkram seinen festen Platz hätte.»

Peter Kappe stieg aus seinem Dienstwagen. Der Ford war ihm vor ein paar Monaten zugeteilt worden und nicht gerade klein. Doch zwischen den Mercedes-Limousinen und Porsche-Cabrios am Rand der Ballenstedter Straße in Wilmersdorf wirkte er beinahe schäbig. Kappe trat auf den Fußweg. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Weilten die Bewohner alle bei der Arbeit, oder lebten in diesen riesigen Villen nur so wenige Menschen?

Wolf Landsberger schlug die Beifahrertür zu und sagte: «Kaum zu glauben, dass der Tote aus dieser Bruchbude einen Bruder in diesem schnieken Viertel hat.»

«Ist halt der große Bruder», murmelte Kappe, doch auch ihm erschien der Kontrast zwischen dem Kreuzberger Hinterhofstudio und der Wilmersdorfer Villa gewaltig.

Ein schmiedeeisernes Tor führte zum Vorgarten der Villa. Das Namensschild daneben wies den Hausbewohner als Dr. Buddewitz aus. Kappe betätigte den Klingelknopf. Die Glocke war bis auf die Straße zu hören, allerdings so leise, als käme sie aus einem anderen Universum.

«Das kann dauern, bei der Hütte», stellte Landsberger fest.

Kappe merkte, wie er schon nach wenigen Augenblicken ungeduldig wurde. Doch als er an den Anlass ihres Besuches dachte, verzichtete er auf ein Sturmklingeln.

Kurz darauf summte es, und das Tor sprang auf. Einen Moment später erschien ein Mann in einer Sommerhose und einem kurzärmligen ockerfarbenen Hemd in der Haustür. Er trug eine dieser selbsttönenden Heliomatic-Brillen. Sein Haar wellte sich um mächtige Geheimratsecken.

Kappe ging den Kiesweg zwischen Blumenrabatten entlang. Er versuchte sich Worte zurechtzulegen. Doch in seinen Gedanken kam er nicht weiter als bis zur Vorstellung.

Kappe erreichte die vierstufige Freitreppe. «Guten Tag», sagte er. «Ich bin Kriminalkommissar Kappe, und das ist mein Kollege Polizeimeister Landsberger. Sind Sie Herr Doktor Buddewitz?»

«Der bin ich. Was führt Sie zu mir, Herr Kommissar?»

«Es betrifft Ihren Bruder.»

«Reinhard? Hat er etwas angestellt?»

«Dürfen wir hereinkommen?», fragte Kappe.

Buddewitz schien einen Augenblick zu überlegen, wies dann aber ins Innere. «Bitte sehr.»

Im Foyer der Villa leuchteten die Wände und Möbel weiß. Selbst der Sommermantel an der Garderobe strahlte. Lediglich das Parkett und ein mannshoher Gummibaum brachten Farbe in den Raum. Am anderen Ende des Flurs knarzte eine Flügeltür. Im Rahmen erschien eine Frau in einem kurzen geblümten Kleid, das ihre Beine endlos wirken ließ. Ihr Haar hatte sie zu zwei Zöpfen gebunden, weshalb sie an eine brünette Ausgabe von Pippi Langstrumpf erinnerte.

«Inge, das ist die Polizei. Sie möchte mit uns über meinen Bruder sprechen», erklärte Heinar Buddewitz.

«Oh!» Die Frau schaute von Buddewitz zu Kappe, dann zu Landsberger und wieder zu Kappe. «Kommen Sie doch in die Stube. Ich kann Ihnen einen Kaffee anbieten.»

«Vielen Dank», erwiderte Kappe und ging in Richtung Wohnzimmer. Vor der Dame blieb er stehen. Es kam ihm vor, als hätte er Bleigewichte in den Schuhen. «Frau Buddewitz, darf ich annehmen?», fragte er.

«Entschuldigen Sie bitte!», antwortete der Hausherr an ihrer Stelle. «Darf ich vorstellen? Meine Ehefrau Inge. Wir haben die Polizei nicht oft zu Gast.»

Kappe nickte nur und trat an Inge Buddewitz vorbei ins Wohnzimmer. Landsberger folgte ihm.

Die Einrichtung zeugte vom Geschmack der Bewohner. Das Abendlicht drängte durch eine große Fensterfront und fiel auf eine Sitzgruppe in der Mitte des Raums. Imposante Bücherregale mit Prachtausgaben der Klassiker zierten eine Wand. Kappe entdeckte aber auch einige Kriminalromane, ganz am Rand der Bücherreihe stand der Titel Einer will’s gewesen sein vom Berliner Autor -ky. An der Wand gegenüber hing ein übermannshoher impressionistischer Kunstdruck – Monet oder Renoir, vermutete Kappe. Darunter stand auf einer Holzanrichte eine ganze Sammlung erlesener Nordmende-Technik: ein Fernsehgerät, ein Plattenspieler, ein Kassettenrekorder.

«Setzen Sie sich doch bitte.» Buddewitz wies auf das Sofa.

Kappe und Landsberger nahmen Platz. Kappe wartete, bis auch Buddewitz und seine Frau auf den Sesseln am Couchtisch saßen. Dann atmete er tief durch. «Frau Buddewitz, Herr Buddewitz, wir sind hier, weil wir Ihnen eine traurige Nachricht überbringen müssen. Herr Reinhard Buddewitz ist verstorben.» Kappes Mund fühlte sich so trocken an wie am Morgen nach einer durchzechten Nacht. Er schaute in die Gesichter des Ehepaares. Frau Buddewitz hatte eine Hand vor den Mund geschlagen und starrte mit aufgerissenen Augen an ihm vorbei. Der Herr des Hauses verharrte regungslos auf dem Sessel. Die Abendsonne spiegelte sich in Buddwitz’ Brille, deshalb sah Kappe seine Augen nicht.

«Ihr Bruder ist vermutlich an einem Stromschlag verstorben, Herr Buddewitz», erklärte Landsberger. «Den genauen Hergang ermitteln wir gerade. Daher haben wir einige Fragen an Sie. Wenn Sie sich jetzt nicht in der Lage für ein Gespräch fühlen, können wir aber auch später reden.»

«Nein, nein.» Buddewitz sprach so leise, dass Kappe ihn kaum verstand. «Fragen Sie nur.»

«Also gut.» Landsberger zückte sein Notizbuch. «Können Sie uns zunächst bitte sagen, wie Ihr Verhältnis zu Ihrem Bruder war?»

«Natürlich. Wir waren die Letzten der Familie. Deswegen haben wir versucht, den Kontakt nicht abreißen zu lassen. Alle vierzehn Tage kam mein Bruder am Sonntag zu uns, und wir haben gemeinsam zu Mittag gegessen.» Buddewitz blickte zu seiner Frau. Diese nickte zur Bestätigung, sagte aber nichts.

«Gibt es jemanden, den wir noch informieren sollten, eine Partnerin oder Ähnliches?», fragte Kappe.

«Nicht, dass ich wüsste.»

«Könnten Sie uns näher erläutern, was Ihr Bruder in letzter Zeit beruflich getan hat?», fuhr Kappe fort.

«Er war selbstständig und hat als Tontechniker gearbeitet.»

«War er erfolgreich damit?»

«Ich glaube, er genoss einen guten Ruf in seinen Kreisen. Er hatte regelmäßig Aufträge im Konzerthaus ‹B-Rock›. Das ist wahrlich nicht meine Musik, aber sie hat ihr Publikum. Manchmal hat er uns Freikarten angeboten, und gelegentlich haben wir davon sogar Gebrauch gemacht.»

«Es ist nur …» Kappe suchte nach den passenden Worten. Er wies auf die Einrichtung im Wohnzimmer. «Seine Bleibe wirkt im Verhältnis zu Ihrem Haus etwas … schlicht.»

«Ach, wissen Sie …», Buddewitz klang so, als ob er über dieses Thema schon Hunderte Male gesprochen hätte, «… mein Bruder hatte andere Prioritäten. Er wollte unbedingt ein eigenes Studio haben. Deswegen hat er diese Hinterhofbaracke in Kreuzberg gemietet. Und das ganze Zeug darin hat er gekauft. Sie glauben ja nicht, was alleine sein Mischpult gekostet hat! Nein, nein, soweit ich das einschätzen kann, war Reinhard nicht arm im eigentlichen Sinne.»

«In welchem dann?», fragte Landsberger.

«Nun, seine im Grunde nicht allzu knappen Einnahmen reichten nicht für die enorm teure Musiktechnik, auf die er Wert legte. Dafür hätte wohl kein Geld der Welt genügt.»

Kappe dachte an die vielen Gerätschaften, die in der Behausung des Toten zum Teil offen neben dem Mischpult herumstanden. «Letztlich ist ihm diese Technik wohl zum Verhängnis geworden. Möglicherweise hat ihn der Stromschlag bei der Arbeit mit einem defekten Apparat getroffen.»

«Niemals!», rief Frau Buddewitz. Kurz schien sie selbst erschrocken über ihren plötzlichen Ausbruch zu sein. Dann fuhr sie mit einem Zittern in der Stimme fort: «Reinhard war stets äußerst genau bei seiner Arbeit. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mit defekter Technik gearbeitet hat.»

Gery verlegte die Kabel für die Schlagzeug-Mikrofone im Aufnahmeraum der Spreeblick-Studios. Die Band wünschte sich die Aufnahmen auf die amerikanische Art. Dabei wurden die Mikros möglichst nah an den Trommeln und Becken platziert. So entstand ein wuchtiger, harter, aber weniger natürlicher Klang. Gery wusste, dass Buddy diese Variante im Studio bevorzugte, während viele andere Tontechniker Wert auf den Klang des Raumes legten. Inzwischen hatte Gery den Assistentenjob oft genug gemacht, um sicher zu sein, wo Buddy die Mikros platziert haben wollte.

Alle paar Meter fixierte Gery die Kabel mit Panzerklebeband an der Fußleiste. Dabei ließ er sich aus zwei Gründen Zeit. Erstens saßen die Musiker mit riesigen Joints und jeder Menge Bier im Regieraum. Und je länger die sich da drüben abschossen, desto größer wurde die Gefahr, dass sie später über die Kabel stolperten. Zweitens ließ Buddy auf sich warten. Dabei war der Tonmeister eigentlich die Zuverlässigkeit in Person.

Stück für Stück arbeitete sich Gery mit den Kabeln bis zum Schlagzeug vor. Währenddessen dachte er an Debbie. Im Vergleich zu ihrem Gespräch soeben im Café verfügte selbst ein Termin bei einem Finanzberater über eine persönliche Note. Wie eine Geschäftsfrau hatte sie darauf gedrungen, ausschließlich über ihren Text zu reden. Der handelte vom Ende der Welt. Und die Zeit bis dahin blieb ohne Sinn – das sagten zumindest ihre Verse. Gery teilte diese Ansicht nicht. Doch an Versmaß und Rhythmus ihres Textes gab es nicht viel auszusetzen.

Gery erreichte das Schlagzeug. Die Trommeln waren mit goldenem Glitzer überzeugen. Auf der Basstrommel prangte der Schriftzug The Golden Youth. Vermutlich trug die Band den Namen schon seit Jahrzehnten. Gery richtete das Mikro an der Schlagtrommel auf das Fell aus und schaute anschließend durch die Glasscheibe in den Regieraum. Die Kerle da draußen sahen nicht so aus, als wären sie das erste Mal in einem Tonstudio. Mit ihren langen Haaren und den hellen Hemden über den ausgewaschenen Jeans gingen sie glatt als Berufsjugendliche durch. Dabei waren die fünf Männer sicher schon über dreißig.

Die Tür öffnete sich, und der Studioleiter betrat den Aufnahmeraum. Wie heißt der gleich wieder?, fragte sich Gery. Buddy hatte den Namen mal erwähnt, aber anschließend immer nur vom «Boss» gesprochen.

«Komm mal her, Junge!», forderte ihn der Boss auf und schloss die Tür hinter sich. Er trug eine Anzughose und hatte sein Hemd so weit geöffnet, dass die Goldkette auf seiner Brust zu sehen war.

Gery stand auf und überlegte, ob er den Boss auch duzen sollte, entschied sich aber dagegen.

«Wir müssen den Jungs da draußen was für ihr Geld bieten. Traust du dir zu, den Drumsound einzurichten?» Der Mann flüsterte, als wäre der Raum nicht schalldicht.

Gery hatte keine Ahnung, wie die Band klingen wollte.

«Du musst ja noch nichts aufnehmen. Die wollen sowieso erst morgen anfangen. Das ist nur der Soundcheck», sagte der Studioleiter.

«Das müsste schon gehen.» Gery erledigte hier im Studio vornehmlich Laufburschenarbeiten. Doch er war ausgebildeter Rundfunktechniker. Außerdem ließ ihn Buddy des Öfteren mit am Mischpult sitzen, wenn es nicht galt, Mikrofone aufzustellen oder Kaffee zu holen. Im Übrigen nahm er die Stücke seiner eigenen Band selbst in Berts Garage auf. Also Augen zu und durch!

«Gut.» Der Studioboss sprach wieder lauter. «Warte noch einen Moment. Ich stelle dich als Techniker vor. Dann schicke ich den Drummer herein, damit ihr schauen könnt, ob alles richtig steht. Ich versuche derweil herauszufinden, wo Buddy bleibt.»

Der Boss flitzte nach nebenan in den Regieraum. Er ließ die Tür offen. Deswegen hörte Gery, wie der Studioleiter ihn anpries. Die Band habe großes Glück, dass der Tonmeister erst morgen zu den Aufnahmen komme. Nur deswegen gebe es am heutigen Abend keinerlei Zeitbegrenzung beim Einrichten aller Instrumente. Die zusätzlichen Stunden würden nicht einmal in Rechnung gestellt.

Gery tat so, als würde er die Mikrofone über den Becken ausrichten, und schaute dabei durch die Glasscheibe in den Regieraum. In den Gesichtern der Musiker konnte er lesen, dass sich ihre Begeisterung in Grenzen hielt. Immerhin stand einer der Kerle auf. Er kramte in einer Tasche herum. Nach einer Weile zog er ein Paar Drumsticks hervor und schlurfte zu Gery in den Aufnahmeraum. Er ging so gebeugt, als wäre er sein eigener Großvater.

«Du bist also der Zaubertechniker», sagte der Kerl sarkastisch, als er neben ihm stand. «Ich bin Wolfgang, kannst mich aber einfach Wolle nennen.» Er streckte Gery die Hand entgegen.

«Gery», sagte Gery und schlug ein. Wolles Händedruck war so fest wie der von einem Bauarbeiter. «Schau mal, ob das so okay ist und ob dich die Mikros nicht stören.» Gery zeigte auf das Schlagzeug.

Wolle trottete zu den Trommeln, beäugte jede einzelne und murmelte: «Könnte klappen.» Er zwängte sich an den Becken vorbei hinter sein Instrument. Aus dem Handgelenk spielte er einen Wirbel auf der Schlagtrommel. Seine geschmeidigen Bewegungen passten weder zu seinem Gang noch zu seinem Händedruck. Beim nächsten Wirbel sausten die Sticks über das gesamte Instrument. Ins ausklingende Scheppern der Bleche brummte Wolle: «Passt.»

«Spielt ihr zusammen oder nacheinander?», fragte Gery.

«Am liebsten würde ich zusammen mit dem Bass spielen», antwortete Wolle. «Aber zur Not kriege ich das auch alleine hin.»

«Nein, nein. Wir machen das so, wie es für euch am besten ist.» Gery ging zum Kabelschrank. «Wir stellen den Bassverstärker in die Kammer.» Er deutete auf eine Tür neben dem Schlagzeug. «Ihr beide bekommt das Signal auf die Kopfhörer. Dann könnt ihr hier spielen, ohne dass der Bass die Schlagzeug-Mikros überspricht.» Gery nahm ein Acht-Meter-Kabel aus dem Schrank und tappte zur Kammer.

«Warte mal, Junge! Ich helfe dir.» Wolle kam wieder hinter dem Schlagzeug hervor. «Es ist zwar schön, dass wir uns hier die Nacht um die Ohren schlagen dürften. Aber ich fände es besser, schnell fertig zu werden und morgen ganz früh anzufangen. Wenn Buddy dann da ist.»

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