Читать книгу Rotlicht - Horst Bosetzky, Uwe Schimunek - Страница 7
EINS
ОглавлениеFreitag, 22. März 1968
DIE BEIDEN KERLE grinsten wie Clowns. Josef Bolp beobachtete die zwei Kommunarden auf der Anklagebank und merkte, wie Wut in ihm aufstieg. Guntram Lauterbach lümmelte auf einem Sitz und zwirbelte mit zwei Fingern seine Locken. Hans Trenker saß daneben, hielt den Daumen seiner rechten Hand an die Nase und spielte Pinocchio. Bolp war vor Zorn kaum in der Lage, ein vernünftiges Wort auf seinem Block zu notieren. Dabei musste er die wesentlichen Aussagen des Richters für seinen Artikel vermerken.
«Zwar waren die Flugblätter mit Sicherheit geeignet, von einer unbestimmten Vielzahl unbefangener Leser als Aufforderung zur Brandstiftung in Kaufhäusern während der üblichen Öffnungszeiten aufgefasst zu werden …», erklärte der Richter.
Bolp machte sich Stichpunkte und rekapitulierte die Taten der beiden Angeklagten in Gedanken. Natürlich hatte das verbrecherische Studentenpack zu Brandanschlägen aufgerufen, da gab es für ihn keinen Zweifel. In Brüssel war im vergangenen Jahr tatsächlich ein Kaufhaus in Flammen aufgegangen. Danach hatte diese Berliner Bande eine Serie von Flugblättern gedruckt und getönt, dass die belgischen Freunde sehr wohl wüssten, wie die Bevölkerung am lustigen Treiben in Vietnam zu beteiligen sei. Heute müsse niemand mehr den Gräueltaten an dem armen vietnamesischen Volk tatenlos zusehen, man könne sich einfach eine Zigarette in einer Umkleidekabine im KaDe We, bei Hertie, Woolworth, Bilka oder Neckermann anzünden.
Bolp fragte sich, was an diesen Aussagen missverstanden werden konnte. Seiner Meinung nach war das eine genaue Handlungsanweisung für Brandstifter. Die Verbrecher auf der Anklagebank hatten die aufrührerischen Flugblätter verfasst und unters Volk gebracht. Wer wusste schon, wie viele Chaoten inzwischen in Berlin herumliefen und nur auf eine passende Gelegenheit warteten, einen Brand zu legen! Doch die Aufwiegler feixten auf der Anklagebank, als hätten sie Lachgas inhaliert.
Bolp richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Richter, der gerade seine Ausführungen schloss: «… dass sie jedoch auch wollten oder nur billigend in Kauf nahmen, dass der Leser der hierzu geeigneten Flugblätter einen Entschluss zur Begehung von Brandstiftungen fasste, war den Angeklagten nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachzuweisen.»
Der arme Mann gab sich alle Mühe, bei seinem Vortrag Würde auszustrahlen. Seine Worte wurden jedoch immer wieder von Kommentaren aus dem Zuschauerraum unterbrochen. «Bravo!», «Recht so!», riefen die Studenten, und obendrein johlten sie, als wären sie in einem Kabarett und nicht in einem Gerichtssaal. Wenn der Richter sie zur Ruhe mahnte, hielten sie für einen Moment inne, nur um ihn Augenblicke später wieder auszulachen.
Schon von Prozessbeginn an hatte das Studentenpack das Gericht verhöhnt. Bolp erinnerte sich daran, dass Trenker die Anklageschrift abgetippt und dem Richter als Satire für zwei Mark zum Kauf angeboten hatte. Er dachte auch an die albernen Verkleidungen, die die Angeklagten damals getragen hatten, die Fräcke, die bunten Popelinehosen – dagegen sahen Lauterbach und Trenker heute beinahe wie normale Menschen aus, von den ungekämmten Haaren einmal abgesehen. Ein Psychiater hatte Lauterbach sogar bescheinigt, er kompensiere seinen schwachen Bartwuchs durch übertrieben langes Haupthaar. Vielleicht hatte der Doktor da ein wenig übertrieben, doch an der ebenfalls diagnostizierten Abnormität der Persönlichkeit gab es für Bolp keinen Zweifel. Immerhin durften die beiden Gammler für ihr unflätiges Verhalten mehrere Ordnungshaftstrafen absitzen. Das freilich hatte Lauterbach und Trenker nur provoziert, den Psychiater zu fragen, welche Therapie er für den Richter empfehle, da dieser zwanghaft Ordnungsstrafen verhänge. Bolp kochte innerlich vor Wut bei der Erinnerung daran.
«Möglicherweise haben die Angeklagten nur bewusst fahrlässig gehandelt. Für eine Bestrafung aber ist zumindest ein bedingter Vorsatz erforderlich», fuhr der Richter fort. Damit sprach er die Angeklagten frei und erklärte das Verfahren für beendet. Die Studenten jubelten wie bei einem Rockkonzert. Es fehlt nur noch, dass diese Rotznasen «Zugabe» rufen, dachte Bolp.
Der Reporter war froh, dass er kein Jurist war und keinem Gericht vorstand. So musste er sich nicht mit solchen Kleinlichkeiten wie dem Unterschied zwischen bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz herumschlagen. Er konnte diesen Kriminellen in seinem Artikel für den Berliner Blitz die Attribute verpassten, die sie verdienten. Und das würde er in der morgigen Ausgabe auch tun.
Kriminaloberkommissar Otto Kappe stieg aus dem Auto und sah auf die Uhr: 13.30. Und das am Freitagnachmittag! Ein Mord so kurz vor dem Wochenende hatte ihm gerade noch gefehlt. Auch sein Assistent Hans-Gert Galgenberg machte ein Gesicht wie nach drei Tagen Regenwetter. Dabei roch die Luft nach Frühling. Kappe warf einen Blick auf das kleine Ladenlokal in der Hobrechtstraße, vor dem ihr Wagen parkte. Karlheinz Efferts stand in großen Lettern über dem Schaufenster. Eigentlich hatte Kappe sich längst auf den Freitagseinkauf vorbereitet, aber Mörder hielten sich leider nicht an den Wochenrhythmus eines Familienoberhauptes.
Kappe und Galgenberg traten in den Hausflur und hörten schon von hier den Lärm im Obergeschoss – offenbar waren Staatsanwalt, Gerichtsmediziner und die Kollegen von der Spurensicherung bereits am Tatort. Kappe holte bei jeder Stufe, die er nahm, ein bisschen tiefer Luft, um den Beamten oben mit Gelassenheit entgegentreten zu können.
An der Wohnungstür empfing sie ein Beamter in Uniform und unterrichtete sie in kurzen Worten über die Lage. Bei der toten Frau handelte es sich mit aller Wahrscheinlichkeit um die Mieterin der Wohnung: Monika Mönningsee. Die Frau habe unter dem Künstlernamen Yvonne als Prostituierte gearbeitet. Augenscheinlich sei sie während oder nach ihrer Berufsausübung von einem ihrer Freier mit einem Kissen erstickt worden. In einem Taschenkalender, der neben dem Bett gelegen hatte, fehlten Seiten.
«Den Täter haben Sie noch nicht gefunden?», fragte Galgenberg mit grimmigem Gesicht.
«Nein, nein», erwiderte der Uniformierte eifrig. Er zögerte kurz und fügte dann hinzu: «Wir wollten Ihnen nicht die Arbeit wegnehmen.»
Kappe war nicht nach Scherzen zumute. Also warf er dem Uniformierten einen strengen Blick zu. Der nahm eine militärische Haltung ein und gab den Weg in die Wohnung frei.
Der Flur war winzig. Nach kaum zwei Schritten stand Kappe schon am Tatort im Schlafzimmer. Hier sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Obwohl die Fenster sperrangelweit geöffnet waren, roch es nach Verwesung. Zwei Männer von der Spurensicherung krochen mit ihren Werkzeugen über den Boden und untersuchten verstreute Kleidungsstücke, Bücher, Papiere und weiteren Krimskrams. Der Gerichtsmediziner Dr. Konrad König stand neben dem Bett und zog ein Laken vom Kopf der Leiche, als Kappe und Galgenberg herantraten. Das Gesicht der Toten war von blonden Locken gerahmt und vermutlich kürzlich noch sehr hübsch anzusehen gewesen. Ein paar Flecke ließen die Frau älter erscheinen, als sie höchstwahrscheinlich war.
«Wann?», fragte Kappe knapp.
«Vor ein paar Tagen, vielleicht drei oder vier. Mehr weiß ich heute Abend. Spätestens morgen haben Sie den Bericht auf dem Schreibtisch.»
«Geh jetzt!», kreischte es plötzlich.
Kappe dachte erst, einer der Beamten habe geniest. Dann sah er den Papagei auf einem leergefegten Regal sitzen.
«Husch, zurück innen Käfig, Kreischke!», befahl eine Frau, die Kappe erst jetzt wahrnahm. Sie musste um die siebzig Jahre sein, und sie sah nicht so aus, als sei sie eine Beamtin.
«Was machen Sie denn hier?», fragte Galgenberg.
«Ick warte uff Sie», antwortete die Alte.
«Das ist Frau Kleema, die Nachbarin. Sie hat uns gerufen, weil es im Flur sehr unangenehm gerochen hat», berichtete der Uniformierte.
«Die Nachbarin …», wiederholte Kappe und wandte sich der Alten zu. «Können wir Ihnen irgendwo in Ruhe ein paar Fragen stellen, Frau Kleema?»
«Na ja, bei mir drübn», antwortete die Frau. «Aba der Papagei …»
«Um den kümmern wir uns später.»
Die Alte trottete an Kappe und Galgenberg vorbei in den Hausflur und öffnete die Tür zur Nachbarwohnung. «Dann komm Se ma!»
Ihre Wohnung machte den Eindruck, als wäre sie bereits vor Jahrzehnten eingerichtet worden, vielleicht sogar schon zur Kaiserzeit. Im Flur stand eine dunkle Kommode, Eiche massiv, mit gedrechseltem Zierrat. Der Garderobenständer daneben verfügte sogar noch über einen Schirmhalter. Im Wohnzimmer hingen Fotos von drei Jungen und einem Mann mit Zwicker neben einer gewaltigen Anrichte. Das Bild des Mannes schmückte ein schwarzer Trauerflor, anscheinend war die Kleema verwitwet. Weinrote Vorhänge dämpften das Licht in der Stube. Die Alte zog sie nicht etwa auf, sondern schaltete die Deckenleuchte ein – einen Lüster aus Kristall mit sechs Glühbirnen. Das Bild über der bordeauxrot überzogenen Chaiselongue war augenscheinlich kein Original, sondern ein Druck. Kappe zuckte zusammen, als er den Titel am unteren Bildrand las: Herakles erwürgt die Schlangen. Er schaute zu der Alten. Frau Kleema hatte ungemein kräftige Hände. Wenn sie nun ihre Nachbarin …
Galgenberg begann derweil mit der Befragung. «Frau Kleema, sind Ihnen irgendwelche Männer aufgefallen, die Ihre Nachbarin aufgesucht haben, um …»
«Nee, ick hänge doch nich die janze Zeit am Guckloch.»
«Sie wissen auch nicht, wann der letzte Besuch kam?»
«Nee. Vorige Woche hab ick ’nen älteren Herrn mit Nickelbrille und Hut jesehn. Aba ob dann noch wer kam … Ick weeß et nich.»
«Es ist auch niemand übereilt aus der Wohnung gestürzt oder dergleichen?»
«Nich, dass ick wüsste.»
Galgenberg notierte etwas auf seinem Notizblock.
Kappe übernahm und fragte: «Sie wussten von dem … dem Beruf Ihrer Nachbarin?»
«Na, ick hab mir so wat jedacht. Aber ick hab mir da nie einjemischt. Juten Tach und Juten Wech. Und det se ihr Jeld mitta Pflaume vadient hat, det war mir doch ejal.»
«Was wissen Sie denn sonst noch über Frau Mönningsee?»
«Nich ville. Sie war nett. Und wenn se ma ein paar Tage weg war, hab ick den Vogel jefüttert. War jedenfalls imma uffjeräumt bei der Dame.»
Kappe blickte zu Galgenberg. Der schrieb weiter fleißig mit. Also zog Kappe eine Visitenkarte aus seiner Jacketttasche und sagte zu Frau Kleema: «Wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte, dann rufen Sie uns doch bitte an.»
«Mach ick.» Die Alte nahm die Karte und überflog sie. Dann fragte sie: «Ick würd mir ja um den Vogel kümmern – wenner wieder im Käfig is.»
Kappe nickte. «Vielen Dank, Frau Kleema. Wir geben den Beamten Bescheid.»
Josef Bolp nippte an seinem Kaffee. Der schmeckte nicht. Das Gebräu unterschied sich eigentlich nicht von dem Getränk am Morgen, doch da hatte dieser Richter die beiden Gammler noch nicht freigesprochen. Das beste Aroma hätte nun auch nichts mehr retten können.
Die Stimmung bei der Redaktionskonferenz konnte kaum schlechter sein. Der Chefredakteur des Berliner Blitz – alle Mitarbeiter sprachen ihn stets mit seinem Titel und nicht mit seinem Namen an – tippte auf die Fotos, die die Kommunarden Lauterbach und Trenker vor dem Gerichtsgebäude zeigten. Die beiden grinsten wie Fußballer, die gerade die Meisterschaft gewonnen hatten, und der Chefredakteur tat so, als wären seine Redakteure schuld daran.
«Diese beiden Lumpen kommen mir nicht auf die Titelseite! Nicht in dieser Pose!» Er wandte sich an den Fotografen Martin Glämmer und brüllte: «Warum haben wir nichts anderes von diesen Kerlen? Sollen wir vielleicht das Kampfblatt dieses Gesindels werden?» Dann beugte er sich über den Versammlungstisch. Sein Kopf glühte und war kaum noch einen Meter von dem des Fotografen entfernt, als er schrie: «Was denken Sie sich bei solchen Fotos? Denken Sie überhaupt nach? Oder ist in ihrem Kopf bloß ein Haufen leerer Filmrollen?»
Glämmer sah aus, als wollte er sich in der Stuhllehne verkriechen.
Der Chefredakteur verblieb noch einen Moment in seiner Drohpose, dann wandte er sich an Bolp. «Was schreiben wir denn zu diesem Urteil?» Das letzte Wort hatte er förmlich ausgespuckt.
Bolp schob seinen Artikel über den Tisch. Nur zum Beleg. Er wusste, dass der Chefredakteur während der Konferenz keine Artikel las. Deswegen trug er seine Schlagzeile mit grimmiger Stimme vor: «Feiger Richter kuscht vor Kriminellen!»
Der Chefredakteur nickte. «Ja, das klingt nicht schlecht. Was steht im Artikel?»
«Ich frage am Anfang, wohin das alles führen soll. Dann berichte ich noch einmal, dass Hunderte unschuldige Familien bei dem Kaufhausanschlag in Brüssel traumatisiert wurden und dass die Studenten hernach auch deutsche Kaufhäuser brennen sehen wollten.» Bolp machte eine kurze Pause, damit dem Chefredakteur Zeit zum Nicken blieb, dann fuhr er fort: «Schließlich frage ich, ob wir uns noch auf die Straße trauen können – da diese Verbrecher nun frei durch Berlin laufen.»
Der Chefredakteur schob den Artikel zurück zu Bolp, ohne einen einzigen Blick darauf geworfen zu haben. «Das ist es, was wir brauchen!» Er sprach, als halte er eine Rede im Abgeordnetenhaus. «Klare Worte, klare Haltung! Denn nur Haltung gibt unseren Lesern Halt. Nur eine klare Linie kann sie auf dem rechten Weg durch den Tag führen.» Der Chefredakteur wandte sich an den Fotografen. «Ich kann indes nicht erkennen, welchen Beitrag Ihre Bilder zu unserer Arbeit leisten sollen. Sprechen Sie mit Herrn Bolp, bevor Sie den Auslöser drücken? Oder überlassen Sie Ihre Fotomotive dem Zufall?»
«Aber die haben sich die ganze Zeit so gegeben. Was sollte ich denn da machen?», murmelte Glämmer.
«Wo sind die Richter? Wo sind die Bilder von hilflosen Polizisten, die nicht fassen können, dass sie zwei Verbrecher laufen lassen müssen? Wo sind die Bilder entsetzter Bürger?»
«Aber …» Glämmer stockte nach dem ersten Wort. Ihm schien der Rest des Satzes im Halse stecken zu bleiben.
«Es war eine schwierige Situation», warf Bolp schnell ein. «Der Richter und der Staatsanwalt haben sich in ihre Büros verdrückt, und unter den Zuschauern waren die Gammler in der erdrückenden Überzahl. Es war leider so, dass außer gemeiner Schadenfreude kaum etwas zu sehen war.»
«Aber es ist doch wohl klar, dass wir so etwas nicht drucken werden!», rief der Chefredakteur und schob die Bilder zum Fotografen.
«Es sei denn …», sagte Bolp.
«Es sei denn was?», fuhr ihm der Chefredakteur ins Wort.
«Es sei denn, wir hätten noch andere Bilder.» Bolp blieb ruhig. «Ein paar Opfer des Brüsseler Kaufhausanschlags aus dem Archiv und ein paar grimmig dreinblickende Demonstranten. In diesem Zusammenhang würden die beiden eitlen Gammler nicht mehr wie Gewinner aussehen, sondern wie skrupellose Zyniker.»
«Hm.» Der Chefredakteur schien nicht so recht überzeugt zu sein.
«Natürlich müssten die Archivbilder groß abgedruckt werden, und dieses hier müsste so arrangiert werden, als würden die beiden Gammler wie kleine, gemeine Zwerge von oben auf die Opfer herabschauen.» Bolp tippte auf die Bilder von Lauterbach und Trenker und fuhr fort: «Die wütenden Demonstranten könnten den armen Opfern an die Seite gestellt werden, als ob sie diese bedrängen würden.»
«Das wäre eine Möglichkeit.» Der Chefredakteur fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, als ordnete er die Fotos bereits an. Abrupt hielt er inne und fragte: «Wo bekommen wir die Bilder von den wütenden Demonstranten her? Auch aus dem Archiv?»
Auf diese Frage hatte Bolp gewartet. «Nein, die machen wir jetzt gleich. Das Gesindel hat sich versammelt und feiert den Freispruch. Die sind noch da draußen. Da können wir Aufnahmen machen.»
Der Chefredakteur wiegte den Kopf. «Und wenn die langhaarigen Studenten da draußen völlig harmlos aussehen, was dann?»
«Nun …», Bolp merkte, wie ihm ein Grinsen über das Gesicht huschte, «… wenn die uns als Reporter des Berliner Blitz erkennen, werden sie schon die richtigen Mienen aufsetzen.»
Auch der Chefredakteur lächelte für einen winzigen Moment und sagte: «Gut, Herr Bolp. Vielleicht sollten Sie Herrn Glämmer begleiten. Damit er weiß, was er zu tun hat.»
«Das mache ich gern», sagte Bolp und registrierte den dankbaren Blick des Fotografen.
Peter Kappe eilte den Kurfürstendamm hinunter. Die Demonstration vor dem Büro des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, kurz SDS, war sein Ziel. Ein Pulk Studenten rief «Ho, Ho, Ho Chi Minh!» und «Enteignet die rechten Hetzblätter!». Aus allen Richtungen strömten immer mehr junge Leute herbei. Ihre Haare wehten im Märzwind wie Fahnen der Freiheit. Über den Köpfen flatterten auch ein paar echte Flaggen, die des Vietkong und von afrikanischen Befreiungsbewegungen. Peter hoffte, dass er seinen Freund Rüdiger Engelhardt und die Kommilitonin Stefanie Richter noch antraf, bevor in dem Gewühl niemand mehr zu finden sein würde. Im Mittelpunkt des Gedränges erkannte er einzelne Personen. Ein Vertreter vom SDS stand an der Spitze des Pulks. Er hielt ein Megafon in der Hand.
«Peter! Da bist du ja!», rief jemand.
Peter drehte sich um und sah, wie Stefanie mit Riesenschritten auf ihn zuhüpfte. Sie umarmte ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Sofort schoss Peter das Blut ins Gesicht. Er blickte vorsichtshalber zu Boden.
«Du kennst Kurt?», fragte Stefanie.
Peter blickte auf. Neben Stefanie stand ein schlaksiger Mann um die dreißig. Er trug das Haar etwas kürzer als die meisten ringsherum und war im Gegensatz zu vielen anderen hier offenbar kein Student. Trotz seines Anzugs und seines Huts wirkte er lässig und auf der Demo nicht fehl am Platze. Selbstverständlich kannte Peter Kurt Kannenhenkel – von der Freien Volksbühne. Dort war der Schauspieler und Sänger der gefeierte Star. Obwohl Kannenhenkel nicht in einem Wohnheim oder einer Wohngemeinschaft lebte, sondern Frau und Kinder hatte und einen schnittigen Sportwagen fuhr, schlug sein Herz auf der richtigen Seite: auf der linken. Das war stadtbekannt.
«Hallo, Peter!», sagte Kannenhenkel. Seine Stimme klang so tief wie die E-Saite von einer Bassgitarre.
Peter hob die Hand zum Gruß. «Du nimmst dir Zeit für unseren Triumph?»
«Ein wenig», antwortete Kannenhenkel. «Um sechs muss ich im Theater sein. Dann müsst ihr ohne mich feiern.»
«Kommt, lasst uns ein Stück gehen und nach Rüdiger schauen. Der wollte auch kommen», sagte Stefanie. Ausgelassen ergriff sie Peters Hand und zog ihn zum Pulk der Studenten.
Natürlich traf Rüdiger viel zu spät ein, so wie immer. Doch Peter verdrängte die Gedanken an den Kumpel und zwängte sich hinter Stefanie durch die Demonstranten. An der Spitze der Menschenmenge feierte der Vertreter des SDS gerade den Freispruch im Prozess um das Kaufhaus-Flugblatt. Peter konnte den Mann aufgrund des Gedränges nicht richtig sehen, doch er hörte die Stimme aus dem Megafon.
«Ich bin gespannt, wie die Hetzer von der sogenannten Bürgerpresse ihren Lesern die unglaubliche Verschwendung von Steuergeldern in diesem Prozess erklären wollen.» Der Redner hielt einen Moment inne und ließ sich von den Demonstranten feiern. «Möglicherweise haben die Herren mit den Giftfedern ja ein Einsehen. Denn tatsächlich haben wir ihnen ein Schauspiel vorgeführt. Das vielleicht beste Schauspiel, das West-Berlin und Westdeutschland jemals gesehen haben. Eine Komödie mit uns in den Hauptrollen und mit den Bütteln des imperialistischen Regimes als Clowns!»
Die Menge johlte. In den Jubel mischte sich Geschrei. Peter drehte sich um und sah, wie eine Gruppe von Studenten wild gestikulierte. Einer rief: «Da vorn!», und ein gutes Dutzend Studenten rannte los. Peter erkannte Rüdiger. Der Freund spurtete der Gruppe hinterher. Also setzte auch Peter zum Sprint an.
«Blitz-Journalisten! Mörder und Faschisten!», grölte die Gruppe.
Nun sah Peter, dass die Studenten zwei Männer verfolgten. Unter ihren Mänteln lugten Anzughosen hervor. Der eine hielt noch auf der Flucht einen Fotoapparat in die Höhe, das Objektiv auf die Menge hinter ihm gerichtet. Die beiden hasteten auf ein Polizeiauto zu, das am Straßenrand parkte. Die Studenten reckten geballte Fäuste in die Höhe.
Aus dem Polizeiauto sprangen zwei Uniformierte. Der eine zog die Pistole aus seinem Halfter und richtete sie gen Himmel. Es sah unbeholfen aus, als wollte er eine Wolke bedrohen.
Die Studenten blieben stehen, brüllten jedoch weiter: «Blitz-Journalisten! Mörder und Faschisten!»
Der Mann mit der Kamera rannte um das Polizeiauto herum und stützte dann die Hand mit der Kamera auf die Motorhaube. Er drückte unentwegt auf den Auslöser.
«Der Junge wird schon kommen, beruhige dich», sagte Gertrud Kappe.
Otto Kappe sah seiner Frau dabei zu, wie sie den Topf mit den dampfenden Kartoffeln mit einem Küchenhandtuch abdeckte. Was für eine Ungerechtigkeit! Wenn der Bengel nicht pünktlich war, sollte er auch kein warmes Essen mehr bekommen. Das war jedenfalls Ottos Meinung. Sein Sohn Peter war schließlich kein kleines Kind mehr, das zu lange auf dem Spielplatz blieb, weil es die Uhr noch nicht lesen konnte. Peter würde bald seinen Diplomabschluss machen, hatte eine Assistentenstelle an der Freien Universität und wohnte in einem eigenen Zimmer zur Untermiete. Trotzdem hatte er jede Menge Flausen im Kopf. Bestimmt war das auch der Grund dafür, dass er wieder einmal zu spät kam, obwohl er mit seinen Eltern zum Abendessen verabredet war. Otto behielt seine Gedanken für sich und sagte nur: «Ach Gertrud, ich muss morgen zeitig raus und arbeiten.»
«Am Sonnabend?», fragte seine Frau.
«Wir haben einen neuen Mordfall und einen Angehörigen des Opfers ausfindig gemacht, den Bruder. Der war allerdings nicht zu Hause und auch nicht telefonisch zu erreichen.» Otto seufzte. «Wenn wir nicht morgen früh zu ihm fahren, erfährt der arme Kerl noch aus der Zeitung von dem Tod seiner Schwester.»
Gertrud entgegnete nichts, sondern deckte stattdessen auch die Kasserolle mit dem Braten ab.
«Es ist wieder so eine schreckliche Tat!», sagte Otto. Er redete nicht allzu oft mit seiner Frau über die Arbeit, doch manche Fälle nahmen ihn so sehr mit, dass er seine Gedanken mitteilen musste. Also fuhr er fort: «Wir haben heute eine Prostituierte erstickt in ihrem Bett gefunden. Seit Tagen lag sie tot dort, sagt unser Gerichtsmediziner. Sie war höchstens Mitte zwanzig, kaum älter als Peter. Ich frage mich bei so jungen Opfern immer, wie sie auf die schiefe Bahn geraten sind.»
«Das wirst du auch in diesem Fall herausfinden.»
«Bestimmt.» Otto strich sich über den Bauch. Wie immer nach dem warmen Essen am Freitagabend fühlte er sich müde. Er gähnte und sprach dann weiter: «Die junge Frau sah gar nicht aus wie eine … Nutte.» Er verwendete das ordinäre Wort absichtlich, damit Gertrud aufhorchte.
Tatsächlich setzte die sich neben ihn an den Tisch und fragte: «Wie sieht denn eine …», sie lächelte spitz, bevor sie weitersprach, «… Nutte normalerweise aus?»
«Ich weiß es auch nicht so genau. Schließlich bin ich ja nicht bei der Sitte. Das Opfer habe ich erst als Leiche gesehen. Aber ihre Wohnung …» Otto hielt einen Augenblick inne und dachte nach. «Sie war zwar verwüstet. Aber die Möbel … Alles sah so normal aus. Gutbürgerlich. Die Frau hatte sogar einen Papagei.»
«Einen Papagei?» Gertrud klang ratlos. «Was wird nun aus dem armen Tier?»
«Der Papagei kommt erst einmal bei der Nachbarin unter. Alles Weitere muss der Bruder entscheiden.»
«Hat die junge Frau denn keine Eltern?»
«Die sind offenbar tot. Mehr wissen wir noch nicht.»
Gertrud hob zu einer Antwort an, doch die Türklingel kam ihr zuvor. «Da ist er!», rief sie, während sie schon zur Wohnungstür eilte.
Otto sah ihr nach. Für das Familienessen hatte sie das feine Kleid angezogen. Niemals ließ sie sich selbst eine Nachlässigkeit durchgehen. Doch dem Jungen verzieh sie alles, seitdem er ausgezogen war. Bestimmt würde sie nicht einmal erwähnen, wie sehr er sich verspätet hatte. Otto hörte Gertrud im Flur mit Peter reden, doch die Worte verstand er nicht. Es klang jedenfalls nicht so, als würde sich Peter für seine Verspätung entschuldigen.
Gertrud betrat mit ihrem Sohn die Küche und strahlte vor guter Laune. Im Plauderton sagte sie: «Setz dich doch, Peter. Das Essen müsste noch warm sein. Ich tue dir etwas auf und gebe deinem Vater auch noch einen kleinen Nachschlag. Du kannst dich ja so lange mit ihm unterhalten. Er muss nämlich seit heute Nachmittag den Mord an einer Prostituierten untersuchen. Das ist doch beinahe dein Forschungsgebiet.»
«Mit den Auswirkungen der Prostitution auf die Beteiligten befasst sich natürlich in erster Linie mein Professor», erwiderte Peter und setzte sich.
«Mit Morden wird sich der Herr Professor sicher weniger beschäftigen», sagte Otto und winkte ab. Er verspürte nur wenig Lust, sich von seinem Sohn nach dessen üppiger Verspätung auch noch Vorträge anzuhören.
«Da hast du recht, Vater. Außerdem konzentriert er sich aus meiner Sicht viel zu sehr auf die Einzelfälle und verliert dabei die gesellschaftliche Perspektive aus dem Blick. Schließlich ist die Prostitution nicht zuletzt ein Symbol für die patriarchalischen Herrschaftsverhältnisse im Kapitalismus im Allgemeinen und die Unterdrückung der Frauen im Besonderen.»
«Was?» Otto fuhr in die Höhe. «Du klingst ja wie einer von drüben.» Er zeigte in die Richtung der Anrichte. Dort war doch Osten, oder?
«Ach, das ist nur das Studium!», sagte Gertrud leichthin. «Da reden die jungen Leute heute so.»
«Die Kommunisten von diesem Sozialistischen Deutschen Studentenbund», murmelte Otto zerknirscht.
«Die haben vielleicht auch mit vielem recht», sagte Peter ruhig.
«Die müssen vor allem immer das letzte Wort haben.» Otto schlug mit der Hand auf den Tisch.
«Ihr hört damit auf! Sofort!» Gertrud hatte nicht laut gesprochen, trotzdem herrschte sofort Ruhe am Tisch.
Otto schaute zu seinem Sohn. Peter blickte seine Mutter bedröppelt an, so als hätte sie ihn beim Stibitzen von Süßigkeiten erwischt. Otto verspürte für einen Moment Genugtuung, dann merkte er, dass er vermutlich genauso aussah.
Gertrud schob die gefüllten Teller zu Otto und Peter. «Jetzt wird gegessen und nicht gestritten. Guten Appetit!»