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ZWEI

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Sonnabend, 23. März 1968

VON DEN 250 KILOMETERN bis ins Wendland hatten sie gerade einmal ein Viertel geschafft, und Peter Kappe hatte schon jetzt Schmerzen im Rücken. Beinahe im Sekundentakt fuhr der Käfer über eine der Nähte zwischen den Autobahnplatten. Wenn die Stöße schon in seinem Kreuz Schmerzen verursachten, wie sollte es dann erst seinem Großonkel Hermann ergehen? Der alte Herr hatte Peter gebeten, ihn in einem geliehenen Auto in die niedersächsische Provinz zu chauffieren, wo er sich nach einem Häuschen umschauen wollte. Er und seine Frau hatten beschlossen, ihren Lebensabend am Gümser See zu verbringen.

Peter sah zum Beifahrersitz, sein Großonkel schien bestens gelaunt zu sein. Er schaute aus dem Fenster auf die weiten Felder im Brandenburgischen.

An diesem Sonnabendmorgen war kaum jemand unterwegs. Sie hatten die Stadt schon bei Sonnenaufgang verlassen. Die Kontrollen an den Zonengrenzen, die Geschwindigkeitsbegrenzung auf den Autobahnen, der Zustand der alten Straßen – ihre Reise würde den gesamten Tag beanspruchen.

«Was macht das Studium?», fragte Hermann.

«Ich bin wohl nächstes Jahr fertig.» Peter überlegte, was der Großonkel darüber hinaus hören wollte. «Ich denke darüber nach, ob ich mich danach um eine Doktorandenstelle bemühe.»

«Hm», brummte Hermann so leise, dass es beinahe im Motorengeräusch unterging. Für einen Moment schwieg er, dann fügte er hinzu: «Die Uni scheint mir derzeit ein heikler Ort für junge Menschen zu sein.»

Peter entgegnete nichts. Er merkte, dass seinem Großonkel etwas auf der Seele brannte. Also wartete er.

«Dein Vater hat mir erzählt, dass du in den Sozialistischen Deutschen Studentenbund eintreten willst», sagte Hermann so langsam, als wollten die Worte nicht über seine Lippen kommen. «Er ist gar nicht glücklich darüber. Außerdem macht er sich Sorgen, weil du mit den Leuten aus der Kommune I verkehrst.»

«Was ist denn so schlimm daran?», fragte Peter, ohne den Blick von der Autobahn zu wenden.

«Was daran so schlimm ist?», echote der Alte. «Glaubst du, die lassen solche Leute in den Staatsdienst? Was denkst du, wer an den wichtigen Stellen in der Universität sitzt?» Hermann schnaufte und hob den Zeigefinger. Nun sprach er lauter. «Abgesehen davon, könnte auch dein Vater Ärger bekommen. Er ist Beamter.»

«Ich denke, die Sippenhaft ist abgeschafft?», entgegnete Peter ebenso laut.

Das folgende Schweigen ging im Motorengeräusch unter. Peter konzentrierte sich auf die Fahrbahn, zählte die Leitpfosten neben der Spur. Eins, zwei, drei …

«Schau lieber mal beim Sozialdemokratischen Hochschulbund vorbei», riet ihm Hermann. «Dem SHB gehören alle an, die später einmal in der SPD was werden wollen. Und ohne Parteibuch kannst du in West-Berlin gleich einpacken.»

«Bei der SPD fällt mir nur Lenin ein», sagte Peter.

«Lenin?», fragte Hermann, und es klang wie: Was willst du denn mit dem alten Knilch?

«Der hat doch gesagt: Wenn die Sozialdemokraten Revolution machen und einen Bahnhof stürmen wollen, dann kaufen sie vorher eine Bahnsteigkarte.»

«Und was ist so schlimm daran, wenn Menschen sich korrekt verhalten?»

«Ach Hermann …» Peter seufzte und begann wieder Leitpfosten zu zählen. Diesmal kam er nur bis zwei. Im Rückspiegel sah er, wie ein Polizeiauto, irgend so ein Ost-Modell – war es ein Wartburg oder ein Moskwitsch? –, sich näherte und hinter den VW Käfer setzte. Peter merkte, wie er unwillkürlich im Sitz versank. Er gehörte nicht zu den Leuten, die den Osten verteufelten, vor dem Mauerbau hatte er sogar eine Freundschaft mit einem Ost-Berliner gepflegt. Doch mit den Volkspolizisten wollte er lieber nichts zu tun haben, unter den Linken in West-Berlin hatten die einen schlechten Ruf. Dabei hatte Peter sogar selbst einen Verwandten bei der Volkspolizei. Doch Onkel Hartmut jagte als Major der Kripo Mörder und keine unschuldigen Studenten aus West-Berlin. Was sollte er tun? Fuhr er zu schnell, würden die Ost-Polizisten ihn stoppen, fuhr er zu langsam, würden sie das vielleicht auch für auffällig halten. Er umklammerte das Lenkrad so fest wie einen Rettungsring und schaute auf den Tachometer. Der Zeiger ruhte auf der Hundert. Nun bloß nicht schneller oder langsamer werden! Peter merkte, wie sich seine Zehen auf dem Gaspedal verkrampften.

Aus dem Augenwinkel sah er, wie der Großonkel sich zu dem Polizeiauto herumdrehte und dann wieder zu ihm blickte. «Da siehst du, was auf deinen Lenin folgt!»

«Sei still!», zischte Peter. Er war sich nicht sicher, ob seine Worte im dröhnenden Käfer zu hören waren. Doch das war ihm egal.

Der Polizeiwagen blinkte und überholte. Peter atmete durch und ließ das Lenkrad lockerer. Prompt holperte der Käfer bedrohlich nah an den Mittelstreifen. Schnell umfasste Peter das Lenkrad wieder fester. Die Vopos hatten anscheinend nichts davon mitbekommen, der Wagen verschwand am Horizont.

Peter blickte zum Beifahrersitz und höhnte: «Du musst mir gerade sagen, wie schrecklich die Polizisten im Osten sind! Dein Sohn Hartmut mischt da schließlich kräftig mit.»

«Da sagst du etwas», murmelte sein Großonkel. «Das ist auch ein Grund, warum ich nicht mehr in der Stadt leben möchte. Ich habe nur Polizisten in der Familie. So lässt mich meine eigene Vergangenheit nie los. Wann immer ich Zeitung lese, erfahre ich von Morden. Mein ganzes Leben verbringe ich nun schon mit Leichen und Mördern. Etwas Abstand wird mir guttun!»

Da braucht man aber doch nicht gleich in die westdeutsche Ödnis zu ziehen, dachte Peter. Er wunderte sich über den Sinneswandel seines Großonkels, der sich bis vor Kurzem noch gerne in die Fälle seines Vaters eingemischt hatte und sich nicht mit seinem Rentnerdasein hatte abfinden können. Peter mochte Hermann, und bald würde er quer durch den Osten fahren müssen, wenn er ihn und seine Frau besuchen wollte.

Hermann richtete sich im Beifahrersitz auf. «Zurück zu deinem Vater. Mit dem SHB könnte er sich sicher noch arrangieren. Aber er würde es nicht verkraften, wenn du beim SDS eintrittst.»

Otto Kappe und Hans-Gert Galgenberg stiegen aus ihrem Wagen und traten vor das Haus, in dem der Bruder des Opfers wohnte. Im Erdgeschoss befand sich ein Ladengeschäft, in dessen Schaufenster Bücher lagen. Kappe trat näher und entdeckte eine Bibel. Daneben fanden sich Prospekte über die Reinheit des Lebens und Erlösung durch Askese sowie ein Ratgeber mit dem Titel Mein Weg zur Enthaltsamkeit.

«Det sind ja echte Spaßkanonen hier!» Galgenberg tippte gegen das Schaufenster und grinste.

«Hans-Gert, nimm dich zusammen!», ermahnte Kappe seinen Kollegen. «Wir besuchen den Bruder eines Mordopfers.» Er wandte sich dem Klingelbrett zu. Auf einem kleinen Zettel neben der Schelle für Pasulke stand der Name Mönningsee. Lebte der Mann etwa in wilder Ehe – und das über solch einem frommen Laden?

Kappe klingelte, und der Türöffner summte. Im Hausflur roch es ein wenig modrig, vielleicht stand die Kellertür offen. Kappe schritt die Treppe in den ersten Stock hinauf. Dort fand er zwei Wohnungstüren, an der rechten stand in Frakturlettern Pasulke und darunter pappte wiederum ein schlichtes Zettelchen mit der Aufschrift Mönningsee. Kappes Annahme, es könnte sich um eine wilde Ehe handeln, erwies sich schnell als gegenstandslos, als die Tür von einer älteren Frau geöffnet wurde, die unmöglich mit dem Bruder einer jungen Frau verbandelt sein konnte. Sie trug eine große Brille und mochte um die sechzig sein.

«Sie wünschen?», fragte die Frau.

Kappe zückte seinen Dienstausweis, stellte sich vor und sagte: «Wir würden gern Herrn Dieter Mönningsee sprechen.»

«Der wohnt bei mir zur Untermiete. Kommen Sie herein!» Die Frau schritt durch den Flur, klopfte an eine Tür und rief: «Herr Mönningsee, die Polizei!» Sie klang, als verfasse sie innerlich schon das Kündigungsschreiben für den Untermietvertrag.

Die Tür ging auf, und ein hagerer Mann Mitte zwanzig erschien. «Für mich?», fragte er. «Warum?»

«Das kann ich Ihnen auch nicht sagen», erklärte Frau Pasulke und blieb neben der Tür stehen.

«Es liegt nichts gegen Sie vor, allerdings müssen wir Sie in einer dringenden Angelegenheit sprechen», sagte Kappe und stellte sich und Galgenberg erneut vor. «Können wir irgendwo ungestört reden?», fragte er schließlich und sah Frau Pasulke scharf an.

«Ich ziehe mich dann mal zurück», sagte Frau Pasulke. Sie klang so enttäuscht, als wäre sie von einer Familienfeier ausgeladen worden.

Mönningsee wies in sein Zimmer. Der Raum war spartanisch eingerichtet – eine Kommode, ein Schreibtisch mit einem Schemel davor, eine Schlafcouch. Die Fotografie über der Couch zeigte eine Familie neben einem DKW Junior. Kappe erkannte das Mordopfer und dessen Bruder. Das Bild musste fünf oder sechs Jahre alt sein, denn die beiden waren keine Kinder mehr, aber auch noch nicht so richtig erwachsen. Neben ihnen lehnte ein älteres Pärchen an der Heckflosse des schnittigen Wagens. Offenbar handelte es sich um die Eltern der Geschwister. Der Mann trug einen Anzug, und die Frau erinnerte mit ihrer blonden Pagenfrisur an Doris Day. Das Bild könnte auch als Plakat für eine amerikanische Kinokomödie dienen, dachte Kappe.

«Ich kann Ihnen leider nur den Platz auf meinem bescheidenen Sofa anbieten», sagte Mönningsee und setzte sich selbst auf den Schemel am Schreibtisch.

«Danke sehr», erwiderte Kappe. Sein Mund fühlte sich so trocken an, als hätte er zwei Stunden Sport getrieben und keinen Schluck getrunken. Er nahm Platz und sah, wie Galgenberg sich ebenfalls auf das Sofa plumpsen ließ. Der Kollege schaute demonstrativ zum Fenster hinaus. Das sah ihm ähnlich, die unangenehmen Gespräche überließ er dem Ranghöheren.

«Wir würden gern mit Ihnen über Ihre Schwester sprechen», sagte Kappe. Er merkte, dass er mit jedem Wort leiser geworden war.

«Hat Monika etwas angestellt?», fragte Mönningsee.

«Deswegen sind wir nicht hier.»

«Nein?»

«Herr Mönningsee …» Kappe zögerte einen Moment, dann fuhr er fort: «Wir müssen Ihnen leider eine sehr traurige Mitteilung überbringen. Ihre Schwester, Frau Monika Mönningsee, ist verstorben.»

Der Mann lehnte sich mit dem Rücken gegen seinen Schreibtisch und stammelte: «Wann? Wie? Und warum?»

«Wir ermitteln in der Sache noch, Herr Mönningsee. Doch zum derzeitigen Standpunkt spricht vieles für ein Tötungsdelikt.»

«Sie wurde umgebracht?»

«Davon müssen wir ausgehen.»

Mönningsee ließ den Kopf in seine Hände sinken. Er schluchzte leise und schwieg dann.

«Wir würden Ihnen gerne ein paar Fragen zu Ihrer Schwester stellen. Am liebsten natürlich jetzt gleich. Wenn es Ihnen lieber ist, können wir aber auch am Nachmittag noch einmal zu Ihnen kommen, oder Sie besuchen uns am Montagmorgen auf der Dienststelle», sagte nun Galgenberg. Kappe warf ihm dafür einen dankbaren Blick zu.

«Nein, nein. Das ist schon in Ordnung. Fragen Sie nur», sagte Mönningsee.

«Wie war das Verhältnis zu Ihrer Schwester?»

«Nun …», Mönningsee holte tief Luft, «… es wurde gerade wieder besser. Ich muss vielleicht ein wenig dafür ausholen.» Er zeigte auf das Foto mit der Familie, das über dem Sofa hing. «Unsere Eltern sind im vergangenen Oktober bei einem Autounfall ums Leben gekommen.» Mönningsee drehte sich zu seinem Schreibtisch, suchte etwas und hob ein Foto in die Höhe. Es zeigte seine Schwester in einem kurzen Rock und einem knappen Jäckchen. «Sie wissen ja sicher schon, welchem Beruf sie nachgeht … ich meine, nachging. Als meine Eltern das erfuhren, waren sie bestürzt. Besonders meine Mutter hat das nicht verkraftet. Ich habe damals noch zu Hause gewohnt, und Mama hat penibel darauf geachtet, dass Vater und ich keinen Kontakt zu Monika aufnehmen.»

«Wann haben Sie Ihre Schwester wiedergetroffen?», fragte Galgenberg.

«Anfang November. Kurz nach dem Tode unserer Eltern.» Mönningsee zögerte einen Moment. «Ich war verwundert, wie zufrieden sie mit ihrem Leben war.»

«Sie meinen, sie hat ihren Beruf jerne ausjeübt?», fragte Galgenberg, und der Schalk mischte sich in seinen Ton. Es fehlte nur noch, dass er anfing, irgendeinen Klassiker zu zitieren, wie er das in letzter Zeit gerne tat.

Kappe warf dem Kollegen einen strengen Blick zu.

«So weit würde ich nicht gehen. Allerdings schämte sie sich auch nicht für ihn. Zumindest mir gegenüber. Viel tiefer ließ sie mich freilich nicht in ihr Inneres blicken.»

«Wie oft haben Sie Ihre Schwester in der letzten Zeit gesehen?», fragte Galgenberg nun wieder sachlich.

«Vielleicht ein bis zwei Mal im Monat. Es war nicht so einfach, sie zu treffen. Wie Sie sich vorstellen können, erwartete sie häufig schon anderweitig Besuch. Manchmal auch sehr kurzfristig. Ich musste sie stets noch einmal per Telefon kontaktieren und mir den Termin bestätigen lassen, bevor ich bei ihr erscheinen durfte. So als wäre ich ein Handelsvertreter.»

Kappe wollte schon zur nächsten Frage ansetzen, da rieb sich Mönningsee die Stirn und fuhr fort: «Sie dürfen das nicht missverstehen. Ich konnte das Verhalten meiner Schwester durchaus nachvollziehen. Sie war seit Jahren auf sich selbst gestellt, und dann bin ich plötzlich wieder in ihr Leben getreten.» Der Mann schluchzte. «Ich wollte ihr die Zeit geben, die sie braucht. Sie war doch meine einzige nähere Verwandte.»

Josef Bolp stieg aus seinem Porsche 911 und schaute sich auf der Kurfürstenstraße um. Obwohl die Sonne schon tief am Himmel stand, warteten erst wenige Damen vom horizontalen Gewerbe auf die ersten Freier. Keine davon kannte er gut genug, um sie mit seinen Fragen zu behelligen.

Der Reporter blickte noch einmal auf seinen Notizblock, um die Stichpunkte zu überfliegen. Eine seiner Quellen bei der Kripo berichtete von einem Mord an einer Prostituierten mit dem Künstlernamen Yvonne. Einen Verdächtigen gebe es bislang nicht. Ermitteln würde Kriminaloberkommissar Otto Kappe. Bolp kannte den Beamten vom Namen her. Von dem würde er kaum exklusive Informationen erhalten. Allerdings hätte er von dem auch kaum ernsthaften Ärger zu erwarten, wenn er selbst ein bisschen herumschnüffelte. Also schlenderte er den Gehweg entlang.

Ein dürres Mädchen, das in seiner viel zu knappen Bekleidung am ganzen Leib zitterte, trat aus dem Schatten der Hauswand und fragte, ob er Interesse an einer flotten Nachmittagsnummer habe. Die Kleine war sicher noch keine achtzehn Jahre alt. Wahrscheinlich war sie neu hier und wusste deswegen nicht, wen sie da anquatschte.

«Lass mal, Süße!», sagte Bolp. «Ich bin dienstlich hier.»

Die Kleine riss die Augen auf und stolperte einen Schritt zurück.

«Keine Sorge, ich bin kein Bulle», fügte Bolp hinzu. Er grinste und ließ das Mädchen stehen, denn er hatte eine Bekannte erblickt: Gesine «Ginny» Jensen. Sie trug ein Pelzjäckchen und Netzstrümpfe unter dem Minirock. Auch wenn Ginny vom Alter her die Mutter der Kleinen sein könnte, macht sie sicher die besseren Umsätze, dachte Bolp. Doch deswegen war er nicht hier. Er eilte winkend zu Ginny.

Sie blieb stehen, warf ihm ein anzügliches Grinsen zu und rief: «Herr Bolp, ist die holde Angetraute schon am Sonnabendnachmittag zu langweilig?»

Ein paar Passanten drehten sich um. Doch Bolp ließ sich nicht aus der Ruhe bringen – nicht von ein paar Rentnern auf dem Weg zur U-Bahn und von einer vorlauten Dirne erst recht nicht. «Und selbst? Sind zu Hause die Kohlen ausgegangen, oder was treibt Sie auf die Straße?», fragte er zurück.

Ginny stöckelte ihm ein paar Schritte entgegen und blieb neben einer Straßenlaterne stehen. Sie lehnte sich an den Laternenmast und zog eine Zigarette aus ihrer Manteltasche. «Ich würde mich doch sehr wundern, wenn Sie das ernsthaft interessiert. Aber wenn wir schon beim Thema Hitze sind – würden Sie mir Feuer geben?» Die Dirne zwinkerte ihm zu. «Für meine Zigarette.»

Bolp fischte ebenfalls eine Zigarette sowie eine Streichholzschachtel aus seiner Manteltasche. Er entzündete ein Hölzchen und hielt es der Dame hin. Dann steckte er die eigene Zigarette an und sagte: «Im Ernst, meine Liebe, nach körperlicher Betätigung steht mir gerade nicht der Sinn. Aber wenn Sie Zeit für ein kurzes Gespräch hätten …»

«Nun, um diese Uhrzeit sind die Tarife noch moderat.» Ginny hielt die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand und brachte dabei das Kunststück fertig, mit Daumen und Ringfinger das Prüfen eines Geldscheins zu simulieren.

Bolp zog seine Geldbörse aus der Manteltasche und nahm einen Zwanzigmarkschein heraus. «Das sollte für zehn Minuten am Nachmittag reichen.»

«Nun, das hängt ein wenig von der verlangten Leistung ab, Schätzchen.» Ginny nahm den Schein und ließ ihn im Dekolleté unter ihrem offenen Jäckchen verschwinden. «Also dann, lassen Sie uns einen kleinen Spaziergang machen.» Sie drehte sich um und bog in die Blumenthalstraße. Hier waren kaum Passanten unterwegs. «Nun fragen Sie, die Zeit läuft!», forderte die Dirne Bolp auf.

«Also ohne Umschweife, ich habe vom Tod Ihrer Kollegin Yvonne gehört und würde mir gern ein umfassendes Bild machen. Was flüstert denn die Straße?»

«Was weiß die Redaktion denn bislang?»

«Ach Gott, Ginny! Was heißt bei uns schon wissen? Mir wurde von einem Mord berichtet. Viel weiter ist die Geschichte in meinem Notizbuch noch nicht gediehen.»

Ginny lachte, nein, sie wieherte, als ob sie in einer Eckkneipe einen anzüglichen Witz gehört hätte. «Ja, das ist mir auch zu Ohren gekommen. Allerdings hat Yvonne immer so getan, als wäre sie etwas Besseres, und hat sich kaum mit uns abgegeben.» Ginny zog an ihrer Zigarette und blies den Rauch in die Dämmerung. «Meistens hatte sie wohl Hausbesuche. Aber manchmal musste sie sich auch ein paar Scheine draußen auf der Straße dazuverdienen. Hatte wohl einen ziemlichen Bedarf an Barem, die Gute.»

«War der Grund dafür nur ein kostspieliger Lebenswandel oder noch etwas anderes?»

«Sie war wohl nicht so dumm, wie sie arrogant war. Man tuschelt von einem Haus draußen in Marienfelde.»

«Das klingt vornehm.»

Erneut lachte Ginny wie eine angetrunkene Stute. «So war sie. Und dann war sie weg.»

«Wann haben Sie Yvonne zum letzten Mal gesehen?»

Ginny blieb stehen und zog an ihrer Zigarette. In den Rauch hinein sagte sie: «Dienstag war sie hier. Da vorn.» Sie zeigte auf die Kurfürstenstraße.

Bolp bemerkte, dass es in ihrem Kopf zu arbeiten begann. Es sah aus, als ginge hinter ihrer Stirn eine Lampe an – ach was, ein ganzer Kronleuchter! «Gibt es da etwas, das ich wissen sollte?», fragte er vorsichtig.

«Möglicherweise.» Ginny grinste. «Es fällt mir bestimmt ein, wenn ich noch einen hübschen Schein bekomme.»

Bolp zog die Brieftasche erneut hervor und nahm einen weiteren Zwanziger heraus.

«Der ist doch nicht hübsch», sagte Ginny empört.

Bolp zog einen Fünfziger hervor und fragte: «Meinen Sie, Ihre Information ist so viel wert?»

Ginny schnappte sich den Schein. «Yvonne ist vergangenen Dienstag in ein Cabrio gestiegen und danach nicht wiederaufgetaucht.»

«In was für ein Cabrio?»

«Ein rotes. Die Marke habe ich nicht erkannt.»

«Ein rotes Cabrio? Davon gibt es in Berlin bestimmt Hunderte, wenn nicht gar Tausende. Und dafür einen Fuffi?», echauffierte sich Bolp.

«Nun warten Sie es doch ab! Ich habe zwar das Auto nicht erkannt, wohl aber den Fahrer.» Ginny warf die Zigarette auf den Gehweg und trat sie mit ihrem Stöckelschuh aus. «Yvonne stieg zu Kurt Kannenhenkel in den Wagen.»

«Zu dem Kannenhenkel?»

«Zu dem Schauspieler. Die beiden fuhren davon, und Yvonne kam nie zurück.»

Otto Kappe lenkte den Dienstwagen zum Tatort. Der Sonnabend wollte anscheinend nie enden. In seiner Aktentasche ruhte der Bericht von der Gerichtsmedizin. Er hatte die Papiere nur kurz überflogen, der Eintritt des Todes war auf Dienstagabend datiert.

«Wenn die Alte nich da is, lassen wir det aba ma jut sein für heute», maulte Galgenberg, als Kappe einparkte.

«Wir befragen Frau Kleema erst mal, dann sehen wir weiter», sagte Kappe beim Aussteigen.

«Mensch, ick kriege wirklich Ärger zu Hause, Otto!»

«Ärger zu Hause, Ärger auf dem Revier – irgendwo gibt es immer dicke Luft», murmelte Kappe und klingelte bei Frau Kleema. Prompt surrte es.

«So ’n Mist!», fluchte Galgenberg und öffnete die Haustür.

Kappe trat in den Hausflur und eilte die Treppe hinauf, denn erstens wollte er die Befragung schnell hinter sich bringen, und zweitens hatte er keine Lust, sich noch weitere Sprüche von Galgenberg anzuhören. Mit seiner gegenwärtigen Laune neigte der Kollege noch stärker zum Sarkasmus als üblich.

Im Obergeschoss wartete Frau Kleema bereits in der Tür. «Ham Se den Mörder, Herr Kommissar?», fragte sie.

«Guten Tag, Frau Kleema!», sagte Kappe. «Derzeit haben wir nur ein paar Fragen.»

«Wat soll ick denn noch wissen?»

«Wir würden jern auch den Papagei verhörn», mischte sich Galgenberg ein, bevor Kappe antworten konnte.

Die Alte guckte, als hätte ihr jemand die Brille gestohlen.

Kappe seufzte. «Wir haben inzwischen neue Erkenntnisse von der Gerichtsmedizin und würden gern noch einmal Ihre Erinnerungen in Anspruch nehmen.»

«So Sie denn über die entsprechenden verfügen», flötete Galgenberg.

Die Kleema guckte die beiden Männer abwechselnd an und sagte dann zu Kappe: «Na, dann komm Se mal rein. Ick hoffe, ick kann helfen.»

Kappe, der sich in der Wohnung schon auskannte, trat durch den Flur in die Wohnstube. Die Alte und Galgenberg folgten ihm. Kappe warf dem Kollegen einen bösen Blick zu, wandte sich an Frau Kleema, zeigte ihr ein Foto von Dieter Mönningsee und fragte: «Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?»

Die Alte betrachtete das Bild. Dann schloss sie die Augen und ruhte mit verschränkten Armen wie ein Buddha. Als Kappe schon befürchtete, sie sei im Stehen eingeschlafen, öffnete sie ihre Augen wieder und antwortete: «Ja, der war öfter hier.»

«Wie oft?», fragte Kappe.

«Wat weeß ick? Vielleicht eenma die Woche, vielleicht alle vierzehn Tage.»

«Haben Sie ihn gemeinsam mit Frau Mönningsee gesehen?»

«Na, nich so direkt.»

«Sie sind aber sicher, dass er zu Frau Mönningsee gegangen ist?», mischte sich Galgenberg ein.

«Wat is schon sicha?» Die Alte zeigte mit der Hand zum Fenster. «Aba wer soll hier schon Besuch von jungen Männan kriegen? Ick ja wohl bestimmt nich. Und bei den anderen Nachbarn kann ick mir det ooch nich vorstellen.»

«Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?», fragte Kappe.

«Weeß ick nich. Vielleicht voriges Wochenende.»

«Gab es weitere Männer, die öfters gekommen sind?», erkundigte sich Kappe.

«Gloobn Se, ick sitze den janzen Tag und gucke, wat hier im Haus los is?»

«Wir glauben so wenig wie möglich und wollen so viel wie möglich wissen», sagte Galgenberg.

«Jut, da war der feine ältere Herr mit da Brille, von dem ick Ihn schon jestern erzählt habe. Der war immer mal hier. Und so ein junga Kerl. Eener mit BVG-Uniform.»

«Können Sie den Mann beschreiben?», fragte Kappe.

«Dünn war er. Und jroß.»

«War einer der Herren am letzten Dienstagabend hier?»

«Als ick am Fenster oda im Flur war, kam jedenfalls keener von denen.»

«Ist Ihnen an dem besagten Abend irgendetwas aufgefallen?»

«Dienstag, da müsst ick mal nachdenken.» Erneut schloss die Alte die Augen, und die Zeit verging. Endlich sagte sie: «Wat Besonderet. Nee. Ick gloobe, nich. Aber ick bin wie imma kurz nach neune ins Bett jejangen. Ick bin ja keene zwanzig mehr.»

«Ach was!», höhnte Galgenberg.

Kappe schoss böse Blicke zum Kollegen. Zu Frau Kleema sagte er: «Wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte bei uns. Unsere Telefonnummer haben Sie ja.»

«Hab ick.»

«Dann zunächst vielen Dank, Frau Kleema», sagte Kappe und gab Galgenberg ein Zeichen zu gehen.

Die Alte nickte und trottete vornweg zur Wohnungstür. Auf der Schwelle fragte sie: «Wat iss ’n nun mit dem Papagei?»

«Oh, der Papagei …», murmelte Kappe. «Wo ist das Tier denn?»

«In meim Schlafzimma. Zur Einjewöhnung. Ick hoffe, bald kann ick ihn ins Wohnzimma holn. Wenna alleene wieda in sein Käfig fliegt.»

«Na, dort geht es ihm doch vorläufig gut. Wir werden Frau Mönningsees Bruder Bescheid geben. Er muss entscheiden, was aus dem Tier wird.»

«Jut», sagte die Alte und sah dabei nicht zufrieden aus.

Sie verabschiedeten sich.

Auf der Treppe fragte Galgenberg: «Det war’s aba jetzt, oda?»

«Für heute», entgegnete Kappe.

«Morjen is Sonntag. Det is der Tag des Herrn.»

«Bis eben hattest du es noch nicht so mit dem Glauben.»

«Und wie ick gloobe – an ’nen freien Tag inner Woche!», maulte Galgenberg.

Kappe schritt die Treppe hinunter und dachte nach. Sie hatten zu wenig Anhaltspunkte für weitere Befragungen. Nach Herren mit Brille und schlanken BVG-Fahrern würden sie kaum außerhalb der Bürozeiten fahnden können, aber am Montagmorgen würde es im Revier rundgehen. «In Ordnung. Du schreibst zu Hause die Protokolle von heute. Und ich kümmere mich um den Bericht aus der Gerichtsmedizin.»

Galgenberg guckte, als hätte er schales Bier getrunken. Doch er widersprach nicht.

Peter Kappe war so müde, dass er kaum die Augen offen halten konnte. Das spärliche Licht im Keller tat das Übrige. Stefanie Richter stupste ihn an und zeigte zur Bühne. Die bestand aus einem knöchelhohen Bretterbau. Das Holz wankte, denn die Band griff gerade nach den Instrumenten. Die fünf schlaksigen Männer hatten alle lange Haare und Bärte, so als wollten sie sich hinter all dem Gestrüpp verstecken. Sie ähnelten einander wie Fünflinge – oder lag das nur an dem schummerigen Licht?

Rüdiger Engelhardt trat zu Peter. Der Kumpel hielt drei Flaschen Bier zwischen den Fingern der linken und einen riesigen Joint in der rechten Hand. Er verteilte das Bier, zog am Joint und reichte ihn an Stefanie weiter.

Peter nahm einen Schluck von seinem Bier und schaute wieder zur Bühne. Der Gitarrist war noch ein bisschen dürrer als die anderen Musiker und schaltete gerade den Verstärker ein. Prompt quietschte eine Rückkopplung durch den Keller. Peter glaubte, seine Trommelfelle würden bersten. Der dünne Kerl schlug einen Akkord an. Es klang, als würde er eine Kettensäge starten. Er trat ans Mikro und rief in den ausklingenden Ton hinein: «Mia san die Magic Mushrooms aus München!» Der bayerische Dialekt wirkte so deplatziert wie Öltanker auf dem Wannsee. Zum Glück redete der Junge nicht weiter, sondern begann zu spielen. Ein paar Takte drosch er allein in die Saiten, dann stiegen seine Bandmitglieder mit ein. Die Musik stampfte gleichförmig im Viervierteltakt vor sich hin.

Stefanie reichte Peter den Joint. Er wollte ablehnen, doch sie zwinkerte ihm zu, und er nahm die Tüte entgegen. Der Rauch kroch seinen Rachen hinunter und kratzte wie Sandpapier. Eine besondere Wirkung zeigte das Zeug aber nicht. Peter gab den Joint an Rüdiger weiter.

Der Freund ergriff die Tüte, ohne sein Gespräch mit einer Blondine zu unterbrechen. Peter sah nur ihr Profil, doch allein das war von geradezu betörender Anmut. Alles an ihr schien von einer unwirklichen Zartheit. Rüdiger reichte der Frau den Joint, und sie nahm einen Zug. Dabei schloss sie die Augen. Es schien, als würde die Zeit für einen Atemzug stehenbleiben. Für einen langen, tiefen Atemzug. Dann gab sie die Tüte an einen Langhaarigen mit Brille weiter, den Rüdiger als Ralf Frohbert vorgestellt hatte.

Jemand tippte Peter an die Schulter. Er zuckte zusammen. Stefanie. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

Die Band spielte langsamer. War das schon der nächste Song? Peter hatte niemanden singen hören.

Der Joint war inzwischen wieder bei Stefanie angekommen. Sie rauchte und begann dabei langsam auf der Stelle zu tanzen. Sie schmiegte sich an Peter und steckte ihm die Tüte in den Mund. Er inhalierte den Rauch. Einmal. Und noch einmal. Dieses Mal spürte er den Rausch. Die Wände des Kellers schienen sich zu ihm herunterzubeugen. Die Menschen um ihn herum wurden schmal wie Gerten und tanzten, als wären ihre Körper knochenlos. Obendrein drehte sich der Boden. Die Musiker spielten jeweils einen Ton, doch es war nicht der gleiche – es klang, als schichteten sie Dissonanzen übereinander.

Peter gab die Tüte weiter und machte einen Schritt rückwärts. Zum Glück fand er eine Säule im Kellergewölbe, an der er sich festhalten konnte, sodass er nicht stürzte.

Stefanie folgte ihm tanzend und schrie: «Liebe ist Mord!» Die Worte hallten durch den Keller. Stefanie drehte sich zur Bühne. «Käufliche Liebe ist Auftragsmord!»

Nein, das war gar nicht Stefanie, die da rief, bemerkte Peter – der Dürre mit der Gitarre schrie die Obertöne ins Mikro. «Gruppensex ist Massenmord!» Dabei quetschte er nicht nur die Töne in abenteuerliche Höhen, sondern auch die Silben in zackige Rhythmen. «Liebt euch! Tötet euch! Liebt euch! Liebt den Tod!»

Die anderen im Publikum schienen die Worte nicht zu stören. Sie tanzten einfach weiter, derweil stieg auch der Bassist in den Chor ein. «Liebt euch! Tötet euch! Liebt euch! Liebt den Tod!»

«Hörst du das?», rief Peter zu Stefanie.

«Ja! Toll, nicht wahr?» Sie tanzte weiter.

Peter trank einen Schluck Bier. Er musste hier raus. Doch das erwies sich als schwierig. Seine Beine gehorchten ihm nicht. Er hing an der Wand, als wäre er dort festgeklebt.

«He, willst du noch?», fragte die blonde Schönheit durch den Lärm und hielt ihm den Rest des Joints hin.

«Danke. Ich brauche frische Luft», erwiderte er.

«Soll ich dich Mund zu Mund beatmen?», fragte die Blonde und lachte kehlig.

Stefanie tauchte auf und rief: «Da kümmere ich mich drum!»

Bevor die Blondine etwas erwidern konnte, zog Stefanie ihn am Ärmel zum Ausgang. Er hatte das Gefühl, durch einen Sumpf zu waten. Immerhin hielt Stefanie ihn halbwegs aufrecht, obwohl sie ihm immer noch seltsam langgezogen vorkam. Es war, als befänden sie sich in einem Film, für den der Vorführer das falsche Bildformat eingestellt hatte.

Draußen kam es ihm so vor, als würde der Wind durch seinen Kopf hindurchwehen. Doch Stefanie formte sich auf ihr Normalmaß zurück.

«Die Rosi Ungermann ist eine Granate», sagte sie. Es klang wie eine Feststellung ohne jeden Anflug von Vorwürfen. Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern fügte hinzu: «Aber heute nehme ich dich mit nach Hause.»

Rotlicht

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