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Drücker – Franz

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Für ihn gab es keinen Grund mit seinem Leben unzufrieden zu sein. Mit noch nicht einmal fünfundvierzig war er, Franz Kleinmüller, bereits einige hundert Millionen schwer. Wie viele es genau waren vermochte er gar nicht zu sagen. Dabei hatte er ganz unten angefangen. Eine Tischlerlehre brach er sofort ab, als ihm klar wurde, dass der Verkauf von Versicherungspolicen, Fondsanteilen und allerlei anderen Finanzprodukten wesentlich höhere Erträge abwarf. Natürlich nur für den, der sie verkaufte. Mit seiner einnehmenden Art gelang es ihm immer wieder leicht die naiven Kleinanleger zu überzeugen. Diese Fähigkeit war die eigentlich Grundlage für seinen unternehmerischen Erfolg, erinnerte er sich stolz. Er war ein begnadeter Verkäufer und konnte Melkmaschinen an die Eskimos verkaufen. Schon nach kurzer Zeit gehörte ihm die Vertriebsgesellschaft in der er seine Karriere begonnen hatte, und jetzt zeigte er seinen Mitarbeitern was die Amerikaner hard selling nannten.

Es war ihm immer wieder vorgeworfen worden, nicht zimperlich vorgegangen zu sein, mit harten Bandagen gekämpft zu haben und seine Finanzprodukte den Leuten aufgedrückt zu haben. Doch das war alles dummes Zeug. Er hatte lediglich an die Gier der Menschen appelliert. Eine Gier, die heute gern Bankern zur Last gelegt wird, wenn sie allzu riskante Geschäfte tätigen. Dabei hatte er kleine Angestellte, Risiko scheuende Beamte und Rentner aus Verkaufsbesprechungen hetzen sehen, mit der festen Absicht ihre Kreditlinien zu überziehen, ihre Reihenhäuser zu belasten oder ihre Lebensversicherungen zu beleihen. Die mussten dazu nicht überredet werden. Sie drängten ihm ihr Geld geradezu auf, weil er ihnen eine Verzinsung versprach, die sonst nirgendwo zu erzielen war. Es war das alte Lied. Je saftiger der Köder, desto unersättlicher die Gier. Eigentlich tat er nur Gutes. Die Käufer erhielten was sie wollten, er stimulierte das Geschäft der Banken, da viele Käufe kreditfinanziert wurden, und für all seine Mühe kassierte er letztlich den ihm zustehenden Anteil.

Natürlich gab es immer wieder Leute, die ihm diesen Erfolg neideten. Sie behaupteten, er hätte seine Millionen auf Kosten unzähliger Kleinanleger gemacht. Sie warfen ihm vor diese Menschen durch betrügerische Falschberatung in geschlossene Immobilienfonds getrieben zu haben, wodurch sie zu haftenden Unternehmern wurden. Man verstieg sich zu der Aussage, er wäre vermutlich der größte Betrüger der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Er schüttelte diese unberechtigten Vorwürfe von sich ab oder brachte sie durch seine Anwälte zum Verstummen. Schließlich war es nicht seine Schuld wenn das Kleingedruckte nicht gelesen wurde. Man machte doch auch keinen Wetterdienst dafür haftbar, wenn die vorausgesagte Sonne nicht schien. Im Übrigen hatte er auch kein Geld verbrannt, wie man es heute nannte, sondern lediglich eine gewisse Umverteilung vorgenommen. Denn, war es nicht letztlich das Ziel allen wirtschaftlichen Handelns, mit dem Geld anderer Leute die eigenen Taschen zu füllen?

Sein Unternehmen hatte er inzwischen äußerst gewinnbringend verkauft und sich anderen Geschäftsmodellen zugewandt. Dazu widmete er sich vorwiegend der Aufgabe seinen ramponierten Ruf aufzubessern. Als sozialer Aufsteiger suchte er außerdem die Nähe zu Politikern, Schauspielern und Musikern, weil ihn die Sehnsucht nach Respekt und gesellschaftlicher Anerkennung plagte. Es war ihm inzwischen auch gelungen von einer deutschen Universität einen akademischen Grad zu kaufen. Als Dr. h.c. Kleinmüller hatte er sich sofort bedeutender gefühlt. Darüber hinaus hatte er einen seiner Anwälte damit beauftragt die finanziellen und rechtlichen Möglichkeiten zu prüfen, durch Adoption einen Adelstitel zu erwerben. So ein Titel wäre ein Garant für Erfolg und Anerkennung in höchsten Gesellschaftskreisen. Er würde ihm Würde, sozialen Status, sowie den nötigen Respekt verleihen. Er müsste dann auch nicht mehr Kleinmüller heißen, ein geradezu entsetzlicher Name. Irgendwie empfand er sich jetzt schon nicht mehr als bürgerlich. Er hatte sich erhoben aus dieser Masse anonymer Verbraucher, Wähler und Steuerzahler, die sich um ihre Existenz sorgten und deren Leben fast ausschließlich von Fremden bestimmt wurde.

Danach plante er sich standesgemäß zu verehelichen. Das würde ihm weitere Publizität bringen und zwar auch durch die Medien, die ihn heute noch mieden. Um jedoch eine passende Partie finden zu können, um die man ihn beneidete, musste er das bestehende Angebot noch besser überblicken können. Der Adel hatte schließlich nicht so unrecht, dass er seine Vormachtstellung und seine Besitztümer durch eine geschickte Heiratspolitik auszubauen gewusst hatte. Auf jeden Fall war diese Vorgehensweise zum Erhalt der gesellschaftlichen Position wesentlich effizienter als das bürgerliche Konstrukt einer Liebesheirat, das die sozialen Schichten ungewünscht miteinander vermischte.

***

„Leck mich am Arsch“, entfuhr es Jakob, nachdem er den Artikel in der Abendzeitung über Kleinmüller und die vergeblichen Bemühungen der Staatsanwaltschaft, diesem kriminelle Handlungen nachzuweisen, gelesen hatte. Er sah sich sofort schuldbewusst um, denn es gehörte eigentlich nicht zu seiner Gewohnheit, in Anwesenheit Louises obszöne Formulierungen zu verwenden, die sie als abstoßend empfand und niederen sozialen Schichten zuordnete. Durch diese, aus seiner Sicht engstirnige, Einstellung, reduzierte sie ihren aktiven Wortschatz nicht nur um schätzungsweise, weitere zwanzig Prozent, sie beraubte sich auch der Möglichkeit durch den Einsatz befreiender und wohltuender Kraftausdrücke, psychische Störungen zu vermeiden.

Sie lebt in einer kleinen Welt, dachte er, und trotzdem ist sie von diesem urbi et orbi völlig hingerissen. Sie glaubt wahrscheinlich auch, dass sie in einen Himmel kommt, der wohlformulierenden Gläubigen vorbehalten ist. Jakob, der als bekennender Atheist keinen Zugang zu Überlegungen dieser Art hatte, war sich darüber im Klaren, dass er sie im Jenseits, falls es denn so etwas gab, nicht wiedersehen würde. Er machte sich deswegen aber keinen Kopf, denn es war ihm allemal lieber mit fluchenden Nihilisten zu spielen und zu saufen, als mit bigotten Frömmlern die Schalmei zu blasen, die Harfe zu zupfen oder das Zymbal zu hämmern.

Er musste an Bianca denken. In welchen Himmel sollte sie denn kommen? Wahrscheinlich in keinen, bei ihrem schmutzigen Vokabular. Irgendwer musste schließlich auch in der Hölle schmoren. Vielleicht hatte er ja Glück, und sie lag direkt neben ihm.

„Wach endlich auf“, herrschte Louise ihn an, „in fünf Minuten kommt der Bus.“

Jakob gestand sich ein, dass ihr Verhältnis zur Realität stärker ausgeprägt war als seines.

„Allzeit bereit“. Er zuckte zusammen, trank den letzten Schluck Kaffee und erhob sich. „Bis zum Abendessen.“

„Es gibt Weißwürste“, sagte sie und schloss die Tür hinter ihm.

***

Bei ihrer Geburt hatten Louises Eltern ihr den Namen Lieselotte gegeben. Das änderte sich abrupt nachdem Jakob in ihr Leben trat, der von Beginn an seine Unzufriedenheit mit dieser Namensgebung zum Ausdruck brachte. Wenn ich dich Lilo nenne, hatte er ihr erklärt, erinnere ich mich an Folies Bergére und Cancan, einer Vorstellung der du in keiner Weise entsprichst. Sage ich aber Lieselotte, sehe ich zwei massige Kaltblüter mit den Namen Liese und Lotte auf einem Dithmarscher Bauernhof vor meinem geistigen Auge. Das wünschst du doch sicher auch nicht. Da ich außerdem nicht zu den Männern gehöre die ihre Frau Schatzi, Mausi oder Zuckerschnut nennen, würde ich dich gern als Louise in meine Arme schließen. Sie wollte dann noch wissen, wieso er auf Louise käme, worauf er ihr antwortete, dass dies ein Name von Königinnen sei. Tatsächlich jedoch erinnerte ihn Louise an ein Restaurant gleichen Namens in Winterhude, in dem er einmal sehr gut gegessen hatte. Was offensichtlich als Scherz begann hatte sich dann durchgesetzt. Sie dachte inzwischen auch von sich als Louise und stellte sich bei Fremden mit diesem Namen vor. Lieselotte stand nur noch in ihren Ausweispapieren.

Louise besaß zwei Beste Freundinnen. Die Drei trafen einmal wöchentlich, nachmittags zusammen; abwechselnd in ihren Wohnungen, die ihnen tagsüber zur freien Verfügung standen, da ihre Männer alle noch berufstätig waren. Häufiger sah man sich nicht. Aktuelle Ereignisse, die keinen Aufschub duldeten, wurden telefonisch erörtert. Es hatte auch noch nie ein gemeinsames Treffen der Ehepaare gegeben. Dies fand seinen Grund in der Tatsache, dass sowohl Ulrike als auch Elfriede große Schwierigkeiten mit ihren Ehemännern hatten. Ulrikes Mann stolperte von einer Affäre in die andere und machte sich kaum noch die Mühe diese zu verbergen. Elfriede wurde dagegen regelmäßig misshandelt und musste sich das Gesicht schminken und selbst an dunklen Tagen eine Sonnenbrille tragen, um ihre Hämatome wenigstens notdürftig zu verbergen. Hinzu kamen noch die Spuren der Schläge an Körperstellen, die nicht so ohne weiteres sichtbar waren, aber ebenfalls große Schmerzen bereiteten.

Beide hatten bereits ernsthaft überlegt eines der Hamburger Frauenhäuser aufzusuchen. Louise, deren innerer Einstellung es widersprach, kampflos die Flucht zu ergreifen, meldete sich darauf in der Volkshochschule Wellingsbüttel für einen Kurs über ‚Speisepilze und ihre giftigen Doppelgänger‘ an.

***

Jakob hatte seiner Frau mitgeteilt, dass der Sicherungsbeauftragte ihn darüber informiert hatte, seine Dienste zukünftig nicht mehr zu benötigen, dass aber der Geschäftsführer einer Firma, die im Automatengeschäft tätig war und in den Tanzenden Türmen ihren Hauptsitz hatte, an seiner Mitarbeit großes Interesse zeigte. Er war mit sofortiger Wirkung eingestellt worden. Seine Aufgabe bestand darin im Raum Hamburg Kundenpflege zu praktizieren und Akquisitionsgespräche zu führen. Als er dann noch beiläufig erwähnte ihr den monatlichen Betrag weiterzahlen zu können, erlosch Louises Interesse; sie war vollkommen zufrieden gestellt.

De facto hatte sich Jakob ein winziges Büro im Kontorhausviertel am Burchardplatz in der Altstadt angemietet. Direkt unter dem Dach, erinnerte der möblierte Raum an eine frühere Abstellkammer. Aber es existierten alle notwendigen Anschlüsse, und eine Nasszelle mit Kochnische und Toilette gab es auch.

In diesem Ambiente verbrachte Jakob seine Zeit damit, angestrengt darüber zu grübeln, wie er Franz Kleinmüller zu seiner, ihm gebührenden, Strafe verhelfen konnte. Er saß hinter einem überdimensionierten Schreibtisch, der stilistisch dem Gelsenkirchener Barock zuzuordnen war, umgeben von Stapeln illustrierter Erzeugnisse des trivialen Sensationsjournalismus. Diese, im Tiefdruck hergestellten Wochenblätter, stilisierten Personen aus dem Adel oder Showbusiness zu Fantasiefiguren hoch. Die Spalten war voll mit Mutmaßungen über Liebe, Hass, Eifersucht und dem Streben nach Ruhm und Reichtum, zurechtgerückt auf kleinbürgerliche Vorstellungskraft.

In diesen prominenten Kreisen fand Jakob auch Kleinmüller wieder, der es offensichtlich genoss mit seiner augenblicklichen Freundin, einer lasziven Schönheit aus der Filmbranche, zwischen Rosenkriegen, Skandalen und Königsaffären, gewürzt mit sentimentalen Schicksalsgeschichten, Verbrechen und Kochrezepten abgebildet zu sein. Jakob hatte diese billigen bunten Heftchen seit einiger Zeit gesammelt und war jetzt damit beschäftigt, alle Artikel die über den narzisstischen Multimillionär Kleinmüller und seine gleichermaßen publizitätsgeile Begleiterin berichteten, auszuschneiden. Er hat eigentlich das, fiel Jakob irgendwann auf, was man früher, als die Prügelstrafe noch nicht verpönt war, ein Backpfeifengesicht nannte. Etwa so, wie das von diesem ewig grinsenden Nachrichtensprecher im ZDF. Und hinten auch noch platt, völlig ohne Hinterkopf. Dann kam ihm plötzlich die Erleuchtung wie er Kleinmüller zu Fall bringen konnte. Dessen maßlose Egomanie und Streben nach Bewunderung würde er nutzen um ihn für lange Zeit aus dem Verkehr zu ziehen.

Während er bereits verzückt davon schwärmte, wie leicht diese Aufgabe war, vergaß er doch nicht seine täglichen Pflichten zu erfüllen. Um die Fiktion eines florierenden Geschäftsbetriebs aufrecht zu erhalten, telefonierte er mit Firmen, die in ihren Anzeigen dazu aufforderten: Rufen Sie gleich an, und bat um detailliertere schriftliche Informationen. Dazu füllte er Vordrucke aus, die er dann abschickte. Fand er mal gar nichts, tippte er Umschläge an sich selbst, in die er herumliegendes Papier steckte.

Auf diese Weise brachte ihm der Postbote täglich eine hübsche Menge an Briefen, selbst von Firmen, die er überhaupt nicht angeschrieben hatte. Nachdem er die Post aus seinem Fach entnommen hatte, wobei er es nie versäumte sich bei den zufällig Anwesenden über den zermürbenden Arbeitsanfall zu beklagen, bestieg er wieder den Paternoster und warf in seinem Büro den gesamten Posteingang ungeöffnet in den Papierkorb.

***

Der Erotikschuppen des so früh verblichenen Kurden-Paul hatte inzwischen ein völlig neues Management erhalten. Sämtliche wichtigen Positionen waren von Clan-Mitgliedern übernommen worden. Ein derartiges Desaster durfte nie wieder passieren. Die Berliner Zentrale hatte neue, expansionsorientierte Ziele festgelegt, an die die interne Organisation angepasst worden war. Zur Bereinigung von Territorialstreitigkeiten wurde ein Spezialist aus der Türkei eingeflogen. Dieser begutachtete die Situation einige Tage und erschoss dann in einer Nacht drei Bandidos-Häuptlinge. Er saß bereits wieder im Flieger nach Istanbul bevor die Hamburger Polizei überhaupt Kenntnis von diesem Kapitalverbrechen erhalten hatte. Der Clan sicherte sich dadurch fünf Nuttenstellplätze in der Süderstraße. Den die Szene beherrschenden Hells Angels, sie dominierten unter anderem das in der gleichen Gegend gelegene Babylon, den größten Puff Hamburgs, kam dieser Vorfall nicht ungelegen, da er die Bandidos schwächte und man in den Berlinern keine wirkliche Bedrohung sah.

Als Jakob die Vulva betrat, wie Kurden-Pauls Lokal inzwischen hieß, und sich nach Bianca erkundigte, stand sie plötzlich vor ihm als hätte sie hinter der Tür auf ihn gewartet. Trotz ihrer Schminke wirkte sie bleich und verunsichert wie ein Schulmädchen auf ihn. Sie umklammerte seinen Arm.

„Gib mir Fünfhundert, ich bin weit hinter meinem Soll.“

„Die Hälfte jetzt, den Rest später“, schränkte er ein.

„Wieder nur quatschen?“

„Genau“, nickte er und schob ihr drei Hunderter zwischen die Brüste.

„Warte eben“, sie verschwand in Richtung Tresen, war aber sofort wieder zurück.

„Na, wieder nach oben?“ grinste er.

„Nein“, stieß sie, kurz angebunden hervor. „Heute keine Suite. Wir nehmen ein abhörsicheres Zimmer. Ich muss mit dir reden.“

Sie stolperten durch verwinkelte Gänge, wobei Jakob sich am wippenden Hintern der vorauseilenden Bianca orientierte um den Anschluss nicht zu verlieren. Schließlich betrat sie einen Raum der augenscheinlich nicht für Freierbesuche ausgestattet war. Sie knallte die Tür zu. „Was hast du mit der Makarow gemacht?“ Sie war hochgradig erregt. „Wenn sich rumspricht, dass ich dir die Pistole verkauft habe, sind wir beide erledigt“, stieß sie mit sich überschlagender Stimme hervor. „Bist du völlig verrückt geworden? Mit ihr wurde Paul erschossen!“

„Entspann dich. Ich habe die Waffe immer noch.“

„Lüg mich nicht an. Die Polizei hat inzwischen festgestellt, dass mit dem Revolver auch noch andere Verbrechen begangen worden sind.“

„Davon stand aber nichts in der Zeitung“, log Jakob.

„Die sind auch immer die letzten, die es erfahren. Mein Lieferant ist nun jedenfalls ein Nervenbündel!“

„Stell ihn ruhig. Nichts wird passieren, wenn alle den Mund halten.“ Jakob setzte sich gottergeben auf einen, nicht sehr belastbar aussehenden, Stuhl. „Wie geht es dir sonst Bianca?“

„Saumäßig.“ Sie schien sich wieder etwas gefasst zu haben. „Ich verdiene mein Geld fast nur noch in der Senkrechten. Durch Botengänge, Zimmerservice mit Getränken und ähnlichen Scheiß.“

„Du hast das Abzocken von Freiern an Geldautomaten vergessen“, ergänzte Jakob.

„Nein, das hat sich erledigt seitdem wir mobile Kartenlesegeräte einsetzen.“

Er lächelte ihr bedauernd zu, während sie sich am Hintern kratzte. „Ich hätte da etwas wirklich Großes für dich“, sagte er nach einer Weile, „etwas, das dich unabhängig macht von diesem hier.“ Er sah sich geringschätzig im Zimmer um.

„Auf solche Sprüche fall ich schon lange nicht mehr rein. Sag mir lieber was du eigentlich willst. Du schreibst doch gar kein Buch, oder?“

„Nein“, gestand Jakob.

„Du wolltest also nur an eine Waffe kommen um Paul zu erschießen. Gib es zu!“

„Bianca, ich bitte dich. Für den Kauf eines Revolvers hätte ich doch nicht eure verwanzte Suite und das überteuerte Gesöff ordern müssen. Da leg ich doch lieber in irgendeiner Kiezkneipe ein paar Scheine auf den Tresen und hab die freie Auswahl.“ Er sah, dass diese Argumente Wirkung zeigten. „Sag mal“, unterbrach er ihre Gedankengänge, „gibt es hier eigentlich nichts für den durstigen Fremden?“

Sie lächelte zum ersten Mal. „Ouzo, stimmts?“

„Mit Wasser bitte.“

„Auch ich kann hier trinken was ich will. Die Preise sind aber wie oben.“ Sie sah ihn fragend an. Als er zustimmend nickte, verschwand sie, war aber im Nu zurück. Sie guckte ihn erleichtert an, wie eine besorgte Mutter, die ihr hilfloses Kind zu lange unbeaufsichtigt gelassen hatte.

„Hinzu kommt“, fuhr Jakob fort, als hätte es keine Unterbrechung gegeben, „dass ich ein alter Mann bin, der nicht einmal einen Maulwurf tötet, der im Rasen Hügel aufwirft, weil es verboten ist. Wie könnte ich da einen Menschen…?“

„Bumst du eigentlich noch mit deiner Frau“, fragte Bianca völlig zusammenhanglos, nachdem ein höchstens vierzehnjähriger, gutaussehender Junge die Getränke gebracht hatte.

„Meine Intimsphäre ist tabu, Bianca. Ich bin ein gesundheitsbewusster Pensionär, der seine monatlichen Rentenzahlungen noch möglichst lange genießen will.“

„Du musst mich nicht immer verarschen Jakob. Von keiner staatlichen Rente kannst du hier die Preise wuppen und gleichzeitig noch eine unbefriedigte Frau Gemahlin ruhigstellen.“ Sie sah ihn spöttisch an.

„Erotische Bedürfnisse sind ihr fremd“, protestierte er hilflos.

„Mach dir nichts vor, ich könnte dir helfen.“ Bianca wusste aus jahrelanger Erfahrung nur zu gut, dass Männer im Lotterbett über Dinge plauderten, die sie sonst nicht einmal unter der Folter preisgegeben hätten. Und sie musste hinter das Geheimnis Jakobs kommen. „Es gibt da Möglichkeiten, die weit über Viagra hinausgehen.“

***

Louise hatte den Besuch des Pilzkurses der Volkshochschule Wellingsbüttel eingestellt, nachdem sie zufällig Zeugin eines Gesprächs zweier Teilnehmerinnen wurde, die sich über den Blauen Eisenhut, der giftigsten Pflanze Europas unterhielten. Im Internet informierte sie sich über sämtliche Details, worauf ihr plötzlich klar wurde, dass sie die ultimative Lösung für Elfriedes Probleme gefunden hatte.

Sie saßen zu Dritt in Louises Wohnzimmer bei Kaffee, Käsekuchen und Curacao Triple Sec. Ulrike beklagte sich soeben darüber, dass es ihr immer schwerer fiel die Lippenstiftflecken an den Oberhemden ihres Mannes, sowie die Spermaspuren von seinen Hosen zu entfernen, als Elfriede wortlos ihre Bluse auszog, wobei ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Der furchtbare Anblick ihres misshandelten Oberkörpers ließ sie alle entsetzt verstummen. Louise fand zuerst die Fassung wieder.

„Du musst es beenden“, sie griff nach Elfriedes Hand. „Das kann so nicht weiter gehen.“

„Genau, wir müssen die Polizei einschalten“, assistierte Ulrike.

Louise beachtete sie nicht. „Wenn du wirklich willst, werde ich dir helfen.“

„Wie denn? Er ist stark und brutal, trotz seiner Kurzatmigkeit. Wenn er wütend wird und außer Kontrolle gerät, schlägt er blind auf mich ein. Danach legt er den Kopf in meinen Schoß, weint und verspricht mir hoch und heilig, es werde nie wieder geschehen.“ Elfriedes Stimme klang schon beinah mitfühlend.

„Die Polizei würde ihn sofort verhaften wenn du ihn anzeigst“, bekräftigte Ulrike ihren Standpunkt.

„Na und? Nach drei Tagen hat ihn sein Anwalt wieder raus geboxt. Dann fängt das ganze Elend wieder an.“ Louise trank erregt ihren Curacao und füllte sich das Glas erneut. „Der Kerl muss endgültig weg!“

„Aber Louise“, schrie Elfriede erschreckt und zog sich die Bluse wieder an, „wie stellst du dir das vor?“

„Er hat doch einen Herzfehler nicht wahr? An dem wird er sterben. Du wirst untröstlich sein und herzzerreißend um ihn trauern.“ Sie überlegte einen Moment. „Sag mal, weiß eigentlich noch Jemand außer uns von seiner Gewalt gegen dich?“

Elfriede schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe nie etwas gesagt. Obgleich einige Nachbarn es wohl ahnen, weil sie sein Gebrüll mitbekommen haben müssen.“

„Gut, dann hör mir jetzt bitte genau zu. Ich schildere dir jetzt die wohl einzige Möglichkeit dein restliches Leben angstfrei und ohne schmerzende, blaugrüne Körperflecken zu gestalten.“

„Wie willst du das wohl anstellen? Da ich kein eigenes Geld habe, kann ich ihn auch nicht verlassen. Kein Mensch kann mir helfen.“

„Nein, aber der Blaue Eisenhut“, lächelte Louise.

„Mir ist jetzt nicht nach modischem Schnick-Schnack“, widersprach Elfriede und knöpfte sich die Bluse zu.

Nun begann Louise zu erzählen. Die Worte strömten ihr nur so aus dem Mund, als läse sie vom Blatt ab. Zu ihrem eigenen Erstaunen dachte sie dabei nicht nur an Elfriedes Mann, sondern ihre Gedanken schweiften ab in Richtungen und Anwendungsbereiche, die sie selbst bisher nicht für möglich gehalten hätte. Schließlich zog sie ein transparentes Plastikbeutelchen aus ihrer Handtasche, in dem sich eine Knolle befand, die einer Sellerie- oder Meerrettichwurzel ähnelte. „Zwei bis vier Gramm hiervon sind absolut tödlich. Ich reibe dir fünf Gramm in ein Sachet, damit bist du auf der sicheren Seite. Du versteckst das Sachet am Körper; am besten klebst du es unter ein Pflaster.“

„Aber ich kann doch nicht…“

„Was kannst du nicht? Irgendwann wird er dich totschlagen und seinen Kopf heulend in den Schoß deiner Leiche legen.“

„Erzähle weiter“, sagte Elfriede, zunehmend interessiert.

„Das Zeugs ist völlig Bio. In Gottes freier Natur aufgewachsen. Frei von Pestiziden oder sonstigen chemischen Zusatz- stoffen. Du mischt es ihm ins Essen. Aber fass es nicht mit der bloßen Hand an, die Giftstoffe werden selbst über die intakte Haut aufgenommen. Diese Knolle enthält Aconitin, das stärkste Pflanzengift überhaupt. Es schmeckt scharf und brennend….“

„Er isst gern asiatische Gerichte, die ich nur für ihn koche.“ Elfriede begann sich sichtbar für diesen Gedanken zu erwärmen.

„Gib es ihm, wenn er abends zuvor reichlich getrunken hat. Dann schiebt er alles darauf.“

„Was?“

„Na ja, ihm wird übel, er muss Kotzen und kommt vom Lokus nicht runter. Der Schweiß bricht ihm aus, er fröstelt und sein Blutdruck sinkt. Der Tod tritt innerhalb drei Stunden durch Herzversagen ein. Bei ihm wird es sehr viel schneller gehen. Fühlst du dich dazu in der Lage?“

Elfriede überlegte angespannt. „Wird er laut?“

„Ich weiß nicht. Schmerzen hat er jedenfalls.“

„Dann überrede ich ihn übers Wochenende mit mir an die Ostsee zum Schöneberger Strand zu fahren. Dort auf dem Campingplatz steht ganzjährig unser Wohnwagen. Zu dieser Jahreszeit ist da jetzt kaum jemand anzutreffen.“ Elfriedes frühere Ängstlichkeit war endgültig kreativer Tatkraft gewichen.

„Wenn alles vorüber ist rufst du sofort den Notarzt an. Schon vorher wäschst du gründlich das Geschirr und entsorgst das leere Sachet. Dann säuberst du, falls erforderlich, die Toilette, wischt sein Gesicht trocken und stellst ein friedliches Ambiente her, das dem Arzt seine Entscheidung leichter macht.“ Louise war anzumerken, dass sie sich bereits länger mit dem Thema beschäftigt hatte.

„Sollte er brüllen, stell einfach den Fernseher lauter, dann denken Passanten an einen Krimi.“ Auch Ulrike ließ sich von der allgemeinen Begeisterung anstecken.

„Du erzählst dem Notarzt von der langen und schweren Herzkrankheit deines Mannes. Danach wird er dir einen Totenschein ausstellen. Dann lässt du seine Leiche nach Hamburg überführen. Wenn er hier erst einmal in der Kühlung liegt, helfen wir dir bei dem was dann noch kommt. Du bist doch dabei Ulrike?“

„Keine Sorge, ich werde euch nicht enttäuschen.“

Sie diskutierten noch den gesamten Nachmittag über Eventualitäten, unvorhergesehene Ereignisse, Super-Gaus und andere Dinge, die schief gehen konnten. Am Ende des Treffens hatte Elfriede fünf Curacao getrunken, sich ein Sachet unter die linke Brust kleben lassen und war in der festen Überzeugung nach Hause gefahren zum ersten Mal in ihrer langjährigen Ehe das Heft des Handelns und ihre Zukunft in die eigenen Hände genommen zu haben.

***

„Also gut“, Jakob versuchte die Gesprächsführung wieder an sich zu reißen, „interessiert es dich jetzt was ich zu erzählen habe oder nicht?“

Da Jakob die Rechnung bezahlte, beschloss Bianca ihre eigenen Absichten vorerst zurückzustellen. „Nun mach schon“, stimmte sie daher zu.

„Sagt dir der Name Franz Kleinmüller etwas?“

Sie nickte zustimmend. „Ich glaube, ich hab schon mal `n Foto von dem geseh‘n.“

„Er ist hunderte von Millionen schwer und jeden Cent davon hat er kleinen Leuten abgegaunert.“

„Na und“? fragte sie völlig unbeeindruckt. Das kommt öfter vor als die meisten Menschen für möglich halten.“

„Ich will, dass er dafür bestraft wird.“ Jakob fühlte sich leicht irritiert. „Was meinst du, mit wem sollte ich darüber reden?“

„Du bist hier in einem Puff, nicht in einer Strafverfolgungsbehörde. Das ist Angelegenheit von Polizei und Justiz.“

„Ihr könnt ihn ausnehmen wie ihr wollt. Er ist ein egozentrisches Weichei. Schneidet ihm zwei Finger oder ein Ohr ab, und er überweist euch Millionen.“ Jakob sah Bianca eindringlich an. „Wer ist der Nachfolger von Kurden-Paul?“

„Kann ich dir nicht sagen; ein anonymes Konsortium:“

„Ich lege dich gleich übers Knie und versohle dir deinen dicken Hintern.“

„Oh, das wäre schön. Du hast ja mein strammes Ding schon immer bewundert.“

„Das war`s denn wohl“, resignierte Jakob und schob ihr einige Scheine über den Tisch. „Vielleicht sieht man sich ja irgendwann mal wieder.“

„Du meinst es wirklich ernst?“ Sie beachtete das Geld nicht und rückte näher zu ihm. Er zuckte nur mit den Schultern. „Dann sprich mit mir. Ich kenne sämtliche Leute auf dem Kiez, die für so eine Nummer infrage kommen.“

„Wenn er Hamburg die Ehre gibt, residiert er entweder in den ‚Vier Jahreszeiten‘ oder in seinem Pöseldorfer Penthouse in der Milchstraße, wo auch seine derzeitige ständige Begleiterin ihre Slips wäscht. Ich kann garantieren, dass er sich zu einem bestimmten Zeitpunkt allein in dieser Wohnung aufhält, und dass eventuelle Besucher für einige Stunden ungestört sein werden.“

„Was willst du dafür?“

„Das habe ich schon gesagt. Die Kohle ist für euch. Und wenn ihr Leute habt, die ihr Geschäft verstehen, ist da wirklich viel zu holen. Ich verlange lediglich, dass die eintreffenden Bullen, ihn in einer Situation vorfinden, die ihn für mindestens zehn Jahre aus dem Verkehr zieht. Das ist der Deal.“

Sie schob das Geld zurück in seine Richtung. „Wie kann ich dich erreichen?“

„Welchen Vorlauf brauchst du für den Tag X?“

„Vierundzwanzig Stunden“, die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.

„Hast du eine Handynummer?“ Er reichte ihr seinen Kugelschreiber. Sie notierte die Nummer auf einen Hundert Euro Schein. „Brauchst du das Geld nicht?“

Sie schüttelte den Kopf. „Steck es ein, ich bin die Leiter hinaufgestiegen.“

***

„An meiner Karriere zeigst du überhaupt kein Interesse mehr, Franz. Früher hast du dich noch regelmäßig für mich eingesetzt, wenn eine neue Produktion bevorstand. Aber in letzter Zeit…“ Cora Cobretti - so lautete zumindest ihr Künstlername, wobei sie es auch gern hörte wenn man über sie als CC sprach, in Anlehnung an ihr großes Vorbild BB – versuchte ein mitleidheischendes Schluchzen in ihre Stimme zu legen, was ihr aber nur unvollkommen gelang. „Dabei bin ich bereit für größere Aufgaben. Ich brauche endlich eine Hauptrolle, die würde mir zum Durchbruch verhelfen und meiner weiteren Entwicklung gut tun.“

Cora saß im Schlafzimmer vor dem spätbarocken Hausaltar, der von der Hand eines unbekannten Künstlers zu einem überdimensionierten Frisierspiegel umfunktioniert worden war und bemühte sich, bisher erfolglos, einige Falten an den Augenwinkeln verschwinden zu lassen.

„Nun hör endlich auf, ewig an dir herumzuputzen“, rief Franz Kleinmüller ungalant aus der Bar seiner imposanten Wohngalerie. „Unsere Gäste sind gleich da, und du weißt doch wie überpünktlich dieser Senator immer ist.“

„Alle sagen, dass ich hochbegabt bin“, beharrte Cora unbeeindruckt auf ihrem Thema, „wenn ich doch nur etwas mehr Unterstützung hätte.“ Sie seufzte, als würde das gesamte Elend dieser Welt auf ihren schmalen Schultern ruhen.

Franz Kleinmüller hatte es aufgegeben Cora zu sponsern, nachdem ihm ein Regisseur zu später, feuchtfröhlicher Stunde unter vier Augen erzählt hatte, dass Cora eine völlig talentfreie Schauspielerin sei, die sich besser auf die nachhaltige Rolle einer Hausfrau und Mutter vorbereiten sollte. Die Vorstellung auf diese Weise mit ihr verbunden zu sein, ließ ihm eisige Schauer über den Rücken laufen, und so versuchte er seit diesem Abend immer wieder, sich auf elegante Weise, möglichst lautlos von ihr zu trennen. Einen guten Freund hatte er sogar gebeten, sie ihm doch bitteschön abzunehmen, selbstverständlich gegen Erstattung sämtlicher Kosten und der Zahlung einer Erfolgsprämie. Doch selbst dieser Versuch war erfolglos geblieben, da der Freund seit kurzem in Scheidung lebte und seine Ex nur zu begierig auf Anlässe wartete ihn in der Öffentlichkeit weiter zu diskreditieren.

So sah sich Franz genötigt wieder einmal die harte Tour zu fahren. Er wollte dieses blöde Weib, das für jede größere Rolle ihren Körper verkaufen würde, endlich aus der Wohnung haben. Was hatte er bloß jemals an ihr gefunden? Da muss ich nicht nur völlig besoffen sondern auch sexuell unterzuckert gewesen sein, dachte er erbost, als das Läutwerk an der Haustür die Marseillaise spielte.

‚So ein Mist‘, er zuckte ärgerlich zusammen, weil er völlig vergessen hatte, das zwanzig Titel enthaltende Läutwerk auf die deutsche Nationalhymne umzustellen, und das so noch für den Kulturattachè der französischen Botschaft läutete, der gestern sein Gast gewesen war. Sie hatten in intimer Atmosphäre, in Gesellschaft zweier reizender junger Damen, die von ihm zu diesem Zweck bei einer Agentur angemietet worden waren, den Abend verbracht. Und dies jetzt alles nur wegen dieser öffentlichkeitsgeilen Schlampe. Er durfte jetzt nicht die Übersicht verlieren, dachte er noch bevor er die Haustür öffnete und mit einem professionellen Lächeln, seine gestylten Zähne zeigte, die lückenlos waren, gerade und weiß wie frisch gefallener Schnee.

Insgesamt musste der Abend als Misserfolg beurteilt werden. Die Spannungen zwischen ihm und Cora waren deutlich spürbar geworden. Als dann der Senator für seine Überlegungen, sich mit einer weiteren Änderung der Schulpolitik zu profilieren, keine begeisterte Zustimmung auslöste, fand das Beisammensein noch vor Mitternacht ein frostiges Ende.

Er hatte Cora später beschuldigt sein Renommee und seine Reputation zerstören zu wollen, worauf sie ihm seelische Grausamkeit vorwarf und Begriffe wie Sexismus, Chauvinismus und Machismo entgegen schleuderte. Er war völlig überrascht, dass sie derartige Ausdrücke überhaupt kannte. Sie hatte sich dann verzweifelt in ihr Zimmer zurückgezogen und ihrer besten Freundin per Handy und im Vertrauen von der Katastrophe ihres Lebens berichtet. Dies hatte zur Folge, dass innerhalb kürzester Zeit sämtliche Playmates, Starlets, Models und sonstige Randfiguren der Gesellschaft von Harvestehude bis Blankenese davon Kenntnis erhielten. Da viele von ihnen mit ähnlichen Ängsten lebten, erreichten Cora noch in derselben Nacht spontane Anrufe, die mit erfolgversprechenden Tipps für eine finanzielle Abfederung dieses Unglücks gespickt waren. Nimm das Schwein richtig aus war der überwiegende Tenor sämtlicher Gespräche. Sie fühlte sich dadurch in ihrer Position gestärkt, trocknete ihre Tränen und beschloss das Feld nicht kampflos zu räumen.

Am späten Vormittag des nächsten Tages erhielt Franz Kleinmüller einen Anruf vom Chefredakteur des angesehenen Magazins Culture, das ihn bisher in seiner Berichterstattung noch nie berücksichtigt hatte. Er wurde freundlichst gebeten um siebzehn Uhr am morgigen Donnerstag für ein mehrstündiges, ungestörtes Foto-Interview in seinem Penthouse in der Milchstraße zur Verfügung zu stehen. Der Chefredakteur entschuldigte sich mehrfach für die kurze Terminierung mit dem dezenten Hinweis, dass er für diese Aufgabe unbedingt sein bestes Team einsetzen wollte und das käme nun mal morgen aus Stockholm zurück, wo es zurzeit im königlichen Schloss arbeitete. Trotz mehrfachen Nachfragens gelang es ihm jedoch nicht seinem Anrufer weitere Einzelheiten zu entlocken. Er schloss daraus, dass es sich nur um das Königspaar handeln konnte. Diese Vorstellung ließ ihn schwindeln. Er, Franz Kleinmüller, auf einem Niveau mit regierenden Fürsten und königlichen Potentaten. Als ihn dann der Chefredakteur zum Gesprächsende auch noch mit dem vertraulichen FK ansprach, eine Anrede die er liebte und in der er auch von sich dachte, weil sie ihn vor der Peinlichkeit seines Namens bewahrte, schwebte er endgültig in höheren Gefilden. Angetörnt begab er sich in Coras Zimmer und erteilte ihr für Morgen Hausverbot. Da sie sich jedoch beharrlich weigerte ihr Heim, wie sie es nannte, zu verlassen und von unverbrüchlicher Liebe zu ihm faselte, warf er sie buchstäblich hinaus. „Ich habe das Interview meines Lebens“, brüllte er hinter ihr her, „das lass ich mir von dir nicht auch noch versauen!“ Danach verließ er die Wohnung um seinen Hairstylisten aufzusuchen.

***

Nachdem Jakob diesen Anruf, wie er fand, ganz ordentlich hinbekommen hatte, wählte er Biancas Nummer. Ihm war klar, dass sie sich zu dieser frühen Stunde, er sah auf die Uhr, noch nicht einmal zwölf Uhr mittags, sicher noch von den Strapazen der Nacht erholen würde. High Noon, dachte er unvermittelt, Gary Cooper, Grace Kelly, das waren noch Filme. Ihm fiel zum x-ten Mal auf, dass es ihm zunehmend schwerer fiel sich auf eine Sache zu konzentrieren. Ich werde zum Spielball meiner Assoziationen, resignierte er. Irgendwann denke ich bei Louises Weißwürsten an Louis Trenker und Franz Josef Strauss.

„Ja“? unterbrach eine verschlafene Stimme seine Gedanken.

„Sorry, ich bin‘s, Jakob. Der Termin ist morgen Nachmittag, siebzehn Uhr.“

„Und das musst du mir gerade jetzt sagen. Bist Du verrückt, hier scheint noch die Sonne!“

„Ich bin nur bemüht die Vierundzwanzig-Stunden-Frist einzuhalten“, versuchte er sie zu besänftigen.

„Schon gut. Es ist nur so, um diese Zeit hat mich seit zwanzig Jahren kein Mensch mehr angerufen.“

Während Jakob noch überlegte welch witziger Spruch sie jetzt munter machen könnte, hörte er Kirchenglocken aus seinem Handy. „Du nächtigst also in der Sakristei in Wechselschichten mit dem Pastor.“ Da sie nicht reagierte, fragte er noch: „Läuft die Sache denn nun?“

„Entspann dich“, erwiderte sie beruhigend. „Vergiss was du weißt und lies alles weitere in der Zeitung.“

***

Die beiden elegant gekleideten Herren, die am Donnerstag pünktlich um siebzehn Uhr an der Penthouse Tür klingelten, zogen sich eben weiße Handschuhe an, wie man sie von den Beamten der KTU aus unzähligen Tatort Filmen kennt, als Kleinmüller öffnete. Ohne ein Wort zu sagen schoben sie ihn mühelos in die Wohnung zurück, schlossen die Tür und überwältigten den völlig überraschten Wohnungsinhaber in dem sie ihn mit Klebebändern mundtot und bewegungsunfähig machten. Sie gingen fast zärtlich mit ihm um und achteten sorgsam darauf keine, später noch sichtbaren, Spuren an ihm zu hinterlassen. Am Ende dieser Aktion, die keine zwanzig Sekunden gedauert und nicht das geringste Geräusch verursacht hatte, saß FK mit angstvoll geweiteten Augen in einem seiner Ledersessel und starrte auf einen Laptop den einer der Eindringlinge vor ihn auf den Couchtisch stellte. Der andere war in die Küche verschwunden und kehrte jetzt mit einem großen Kochtopf zurück, den er zur Hälfte mit Wasser gefüllt hatte. Er setzte ihn neben FK ab. Danach machte er sich auf um sämtliche Zimmer zu kontrollieren. Erst nach einer ganzen Weile kehrte er zurück.

„Das ist ja ‚n Riesenbunker. Zieht sich über drei Häuser“, informierte er seinen Kumpanen etwas außer Atem. „Aber es ist alles clean, wie versprochen.“ Er stellte sich hinter FK. „Kuck dir das Video an, du Wichser“, sagte er dann freundlich, „so ist es einem ergangen, der nicht kooperieren wollte.“

FK war empört, noch nie hatte ihn jemand so genannt. Dann starrte voller Entsetzen auf den Bildschirm. Er sah einen Menschen in einem Sessel, genau so gefesselt wie er selbst, der von den beiden Männern, die sich jetzt hier im Raum befanden, gefoltert wurde. Das Opfer bäumte sich immer wieder auf, sein Gesicht war dunkelrot angelaufen und die Augen schienen aus den Höhlen zu quellen. Die Tortur war unvorstellbar grausam. Aus der linken Hand hatte man bereits drei Fingernägel gerissen. Im Augenblick war der Typ, der ihn immer mit Wichser ansprach, dabei, mit Hilfe einer Revolverlochzange den Daumen zu perforieren. Der Gemarterte konnte keinen Ton von sich geben, er versuchte nur immer wieder verzweifelt sich von seinen Fesseln zu befreien. FK wurde übel, er wollte den Kopf zur Seite drehen, doch zwei kräftige Hände hinderten ihn daran.

„Machst du die Augen zu, Wichser“, hörte er eine gelangweilte Stimme, „wirst du nie wieder etwas sehen. Auch nicht die kleinen Titten und Arschbacken deiner Schickse.“

Die Quälerei nahm kein Ende. Als dem Gepeinigten eine gebogene, lange Polsternadel ins Auge getrieben wurde, konnte FK sich nicht mehr beherrschen. Er würgte und würde sich gleich übergeben müssen. Um unappetitliche Schweinereien zu vermeiden, entfernte man ihm vorsorglich das Klebeband am Mund und hielt ihm den Kochtopf unters Kinn.

„Komisch“, sagte der Sprecher der beiden, „beim ersten Auge kotzen sie fast alle.“

Dann wurde der Topf in der Toilette entleert, gesäubert und wieder im Schrank verstaut. Gleichzeitig wurde das Video ausgeschaltet und der Laptop auf Internet-Aktivitäten eingerichtet.

„Hör genau zu Wichser“, hörte FK - der sich gern den Mund abgewischt hätte - die inzwischen vertraute Stimme, „weil ich alles nur einmal sage. Du kannst jetzt zwar reden, aber nur wenn du gefragt wirst. Höre ich einen Schrei, bist du einäugig, höre ich zwei…, na du weißt schon. Was wir von dir wollen ist dagegen wie Plätzchen backen. Du überweist auf drei unserer Konten, die Nummern gebe ich Dir gleich, jeweils fünf Millionen Euro. Diesen kleinen Aderlass bemerkst du überhaupt nicht, da du hunderte von Millionen schwer bist. Danach sind wir sofort wieder weg und zwar ohne deine Eier. Solltest du dagegen Schwierigkeiten machen, uns sagen wollen, soviel hättest du nicht flüssig oder die Bankunterlagen lägen im Büro, knips ich dir hiermit den Sack ab.“ Er zog eine Blechschere aus seiner Jackentasche und hielt sie dem zitternden FK vors Gesicht. „Glaub es mir lieber, ich hab das schon mal gemacht, ich schwör es dir“ Er lächelte nachsichtig. „Na, was hältst du davon, Wichser?“

FK nickte nur stumm, willenlos und unglaublich erleichtert. „Meine Brieftasche“, brachte er mühsam hervor, wobei ihm auffiel, dass dies die ersten Worte waren, die er seit dem Eindringen der Verbrecher gesprochen hatte. Von denen redete auch immer nur der eine. Warum sagte der andere nichts? Vielleicht hatte er einen Akzent, den er verbergen wollte. Er prägte sich ihre Gesichter ein. Zu jeder Zeit würde er sie wiedererkennen. Aber das mussten die doch auch wissen, durchfuhr es ihn dann siedend heiß. Konnten sie ihn überhaupt am Leben lassen?

Man zerschnitt seine Handfesseln und schob ihn näher an den Tisch, damit er den PC bedienen konnte. Ihm fiel auf, dass der Stumme auch die kleinsten Stücke des Klebebands sorgfältig in einer Aktentasche verstaute.

„Schlaff jetzt nicht weg, mach endlich hin, Wichser“, hörte er wieder den Sprecher, der ihm seine Brieftasche in die Hand drückte.

FK verfügte unter anderem bei der First Caribbean Bank in Georgetown auf den Cayman-Inseln über diverse Schwarzgeld Konten, wie diese Form der Geldanlage vom unersättlichen Staat und der Masse der besitzlosen Bevölkerung scheinheilig genannt wurde, obgleich die Mehrzahl führender Politiker selbst gern Gelder in Steuerparadiese platzierte und normale Bürger ebenfalls Steuerzahlungen vermieden wo sie nur konnten. Er hatte dort auf einem Tagesgeldkonto noch zwanzig Millionen Euro liegen, mit denen er sich an der Goldhausse beteiligt hatte, aus der er aber rechtzeitig wieder ausgestiegen war.

FK seufzte, loggte sich bei der First Caribbean ein und identifizierte sich mit seiner Konto- und Geheimnummer. „Fertig“, sagte er dann, müde und doch voller Hoffnung diese Leute bald wieder los zu werden. „Fünf Millionen. Wohin bitte?“

Der Sprecher legte ein Blatt mit Bankleitzahlen, Kontonummern und dem Empfängernamen vor ihn auf den Tisch. FK versuchte sich die Zahlen einzuprägen um sie später bei der Polizei als Beweis für seine Behauptungen angeben zu können. Als ihm einfiel, dann ja auch sein Cayman-Konto preisgeben zu müssen, stellte er seine Bemühungen wieder ein.

„Na Wichser, fragst du dich gerade, wie du uns anpissen kannst?“

FK schüttelte erschreckt den Kopf. „Nein, nein, wirklich nicht.“ Danach sagte er mutig. „Wie geht’s jetzt weiter?“

„Hab ich dich was gefragt?“ grunzte der andere drohend. „Jetzt wird gewartet“, beantwortete er die Frage dann aber doch.

Nach wenigen Minuten trafen die Bestätigungen ein. Das Geld war transferiert. „Okay Wichser, das war‘s. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder.“ FK beschloss darauf nicht zu antworten. „Wir ziehen ab. Damit du uns aber nicht gleich die Bullen auf den Hals hetzt, schläfst du jetzt `ne Runde.“

Bevor er überhaupt etwas begriffen hatte. Fühlte er sich fest von zwei Armen umschlungen. Als man ihm gleichzeitig einen übelriechenden, feuchten Lappen ins Gesicht drückte, war das Letzte was er dachte bevor ihm die Sinne schwanden: Jetzt bringen sie dich doch um.

***

FK kehrte langsam ins Bewusstsein zurück. Richtig wach wurde er jedoch erst durch das laute Hämmern an der Tür und dem sich penetrant wiederholenden Gebrüll: „Aufmachen, Polizei!!“ Die sind ja wirklich schnell, stellte er anerkennend fest; noch nie hatte er sie so dringend gebraucht. Noch leicht benommen, torkelte er zur Tür, als ihm plötzlich auffiel, dass seine Hände blutbefleckt waren. Dabei empfand er keinerlei Schmerzen.

„Einen Augenblick“, rief er, „geht gleich los.“ Er stürzte ins Bad um sich zu säubern. Der Lärm an der Tür wurde immer unerträglicher. Plötzlich hörte er ein ohrenbetäubendes, berstendes Krachen und das Splittern von Holz. Die Tür war mit Gewalt aufgebrochen worden. Man denkt, ich sei in Gefahr, fiel ihm als Erklärung ein. Ich muss ihnen sagen, dass alles in Ordnung ist. Er trat aus dem Badezimmer und wurde brutal zu Boden gerissen. Aus den Augenwinkeln bemerkte er schemenhaft, wie schwer bewaffnete Polizisten eines Sondereinsatzkommandos in seiner Wohnung ausschwärmten. Er selbst fühlte, unbequem auf dem Bauch liegend, wie sich ein Knie schmerzhaft in sein Kreuz drückte und ihm Handschellen angelegt wurden. Man tastete ihn ab. Der Schock, von einem Augenblick zum anderen vom Opfer zum Täter umfunktioniert zu werden, machte ihn sprachlos.

„Es muss sich da um einen Irrtum handeln“, brachte er mühsam hervor, „ich bin eben selbst überfallen worden.“ Doch niemand nahm von ihm Notiz. Man ließ ihn achtlos liegen.

Nachdem das SEK abgerückt war erschienen weißgekleidete Gestalten auf der Bildfläche, die nicht mit Pistolen, sondern mit feineren Instrumenten seine Wohnung inspizierten. Dann wurde er rüde hochgerissen.

„Wo ist die Leiche?“ fragte ihn ein wichtigtuerischer Beamter in mittleren Jahren und einem schlecht sitzenden Anzug, der ihn verächtlich ansah. Bei seinem Scheißgehalt ist der natürlich sauer auf mich, überlegte FK, völlig zusammenhanglos. Er hatte jedoch nicht die Absicht sich von staatlicher Willkür einschüchtern zu lassen. Schließlich hatte er vor kurzem noch dem Tod furchtlos ins Auge gesehen.

„Wovon reden sie überhaupt? Wer hat ihnen erlaubt in mein Penthouse einzubrechen?“

„Abführen!“ kommandierte der Chef des Polizeieinsatzes und drehte ihm den Rücken zu.

***

Wie FK sehr viel später von seinen Anwälten im Untersuchungsgefängnis erfuhr, war die Polizei aufgrund eines anonymen Anrufs aktiv geworden. Ein männlicher Anrufer wollte gesehen haben wie der ihm bekannte Franz Kleinmüller mit zerrissenem Hemd und blutigen Händen das Treppenhaus hinauflief und in seine Wohnung stürzte. Dabei trug er einen irren Ausdruck im Gesicht, als wäre er nicht mehr ganz zurechnungsfähig. Danach wurde aufgelegt.

Darüber hinaus hatte die Polizei in einem Wäschekorb, neben blutbefleckter Kleidung, ein blutiges, gewelltes Messer gefunden, das von Experten als Malaiendolch oder Kris eingestuft worden war. Im zerwühlten, riesigen Wasserbett entdeckte man einen goldenen Rubinohrring. Im Kofferraum seines Bentleys in der Tiefgarage fanden sich neben Blut- auch DNA-Spuren einer weiblichen Person. Selbst im Fahrstuhl konnte die gleiche Blutgruppe sichergestellt werden. Somit war aus Sicht der Polizei eindeutig erwiesen, dass der Verdächtigte einen Mord begangen, und auf welchem Wege er danach den Körper aus dem Haus geschafft hatte. Die Beweislage war erdrückend. Was fehlte war die Leiche und die Identität des Opfers.

FK beteuerte verzweifelt seine Unschuld. Er berichtete von den zwei Männern, die ihn in seiner Wohnung überfallen und ausgeplündert hatten. In seiner Not berichtete er sogar von seinem Konto auf den Cayman Inseln. Dass man ihn, unter Androhung entsetzlicher Folter, gezwungen hatte fünfzehn Millionen Euro auf deren Konten zu transferieren. Er erzählte jedes Detail von dem Leid, das ihm widerfahren war. Da FK die teuersten Anwälte beschäftigte, ging man seinen Behauptungen gewissenhaft nach. Man ermittelte in alle Richtungen, obgleich der Einwand mit dem unbekannten Dritten nun wirklich nicht mehr neu war. Die Spurensicherung fand in der Wohnung jedoch keinerlei Anzeichen die auf einen gewaltsamen Überfall durch angebliche Eindringlinge schließen ließen. Das angegebene Konto bei der First Caribbean Bank existierte nicht, dafür aber andere Schwarzgeldkonten, die vom Verdächtigen nicht angegeben worden waren und von denen aber auch niemand Geld abgehoben hatte. Diese wurden an eine andere Staatsanwaltschaft weitergeleitet, die sich mit den Klagen der von Kleinmüller Geschädigten befasste.

Bei der Befragung des Umfelds von Kleinmüller gab eine gewisse Cora Cobretti zu Protokoll, dass FK, wie sie ihn nannte, ein brutaler Kerl sei, der sie mit körperlicher Gewalt, einen Tag vor der Bluttat, aus der Wohnung geworfen hatte. „In gewisser Weise bin ich ihm jetzt sogar dankbar dafür, sonst wäre ich vielleicht diejenige gewesen, die…“ Sie beendete den Satz nicht, aber jeder wusste was gemeint war.

Die Überprüfung der Vermisstenmeldungen ergab drei abgängige weibliche Personen, von denen zwei die Sechzig bereits überschritten hatten. Bei der dritten handelte es sich um ein achtjähriges Mädchen, das sich nach einigen Tagen auch wieder einfand. Der Fall blieb mysteriös

Kleinmüllers Anwälten gelang es nicht ihren Mandanten aus der Untersuchungshaft zu befreien. Die Polizei ermittelte weiter, die Staatsanwaltschaft wartete auf neue Beweise um Anklage erheben zu können, und der Beschuldigte beteuerte seine Unschuld. Dafür war FK jetzt häufiger in Presse, Funk und Fernsehen präsent, als er das früher je geschafft hatte. Der Mord ohne Leiche war seit Wochen das Thema überhaupt. Da die Medien sich mehr Umsatz versprachen wenn sie ihn als Monster darstellten, wendete sich auch die Stimmung in der Bevölkerung gegen ihn. Ein Aufschrei ging durchs Land als die für den Normalbürger unvorstellbar großen Summen auf den diversen Schwarzgeldkonten bekannt wurden. Kleinmüller stand jetzt stellvertretend für den geldgierigen Betrüger, der sein Vermögen auf dem Rücken unglücklicher kleiner Leute gemacht hatte. Öffentlicher Druck baute sich auf. Man verstand nicht warum trotz erdrückender Beweise und lückenloser Indizienkette FK sich nicht vor Gericht verantworten musste. Es verfestigte sich der Eindruck, dass die Reichen wieder einmal nicht bestraft würden. Diese Spannung löste sich erst als die Staatsanwaltschaft bei der großen Strafkammer des Landgerichts Hamburg, Anklage erhob.

***

Sie hockten zwischen Touristen und Schulklassen auf einer Bank hinter dem Unilever Haus am Strandkai und blickten auf die Elbe.

„Wie viel habt ihr ihm abgenommen?“ erkundigte sich Jakob ohne sie anzusehen.

„In feinen Kreisen redet man nicht über Geld“, konterte Bianca, „das hat man.“ Sie hatte sich für dieses Treffen wieder bürgerlich geschminkt und angezogen, so dass sie wie all die anderen Frauen aussah, die sich nach der letzten Mode kleideten und dadurch in der namenlosen Masse untergingen.

„Ja, genau wie Hämorrhoiden“, grinste Jakob. „Nein ernsthaft, ich war der Tippgeber. Du bist mir eine Antwort schuldig.“

„Fünfzehn Millionen, verteilt auf drei Konten, von denen das Geld sofort nach Eingang wieder abgezogen wurde. Danach hat man sie gelöscht. Es gibt also keinerlei Beweise für die Behauptungen unseres Patienten, besonders da…“ Sie lachte als wäre ihr eine komische Geschichte in den Sinn gekommen.

Er sah sie an. „Nun sag schon.“

„Unsere Leute haben sich seine Geheimnummer gemerkt und später den Rest von dem Konto auch noch abgeräumt, bevor sie es gelöscht haben.“

Jakob musste ebenfalls lächeln. „Wie viel?“

„Nochmal gute sechs Millionen. Willst du was ab?“

„Nein Danke. In meinen Jahren ist der Finanzbedarf nicht mehr so groß. Schließlich bin ich ein alter Mann, der nur noch seinen Träumen nachhängt.“ Jakob verlagerte sein Gewicht auf die andere Seite. Die harte Holzbank schien ihm Schwierigkeiten zu bereiten. „Mich würde vielmehr interessieren, wie viel du verdient hast.“

„Gib nicht so an. Du hast weit mehr Energie als viele junge Leute die ich kenne.“ Sie legte eine streichelnde Hand auf seinen Oberschenkel.

Er beschloss dieser professionellen, körperlichen Kontakt- aufnahme keine weitere Beachtung zu schenken. „Na, was denn nun?“

„Fünf Prozent“, sie lächelte verschämt.

„Wirklich? Das hätte ich nicht gedacht. Dann bist du jetzt ja Millionärin und kannst dich zur Ruhe setzen.“

„Und? Soll ich mir vielleicht zuhause vor dem Fernseher den Arsch wundsitzen und mir die Serien reinziehen? Mein Leben findet im Puff statt.“ Sie sah sich um, ob auch niemand ihren Ausbruch mitbekommen hatte. „Im Bordell bin ich groß geworden“, flüsterte sie dann. „Außerdem haben sie mir gesagt, sie hoffen auf weitere gute Zusammenarbeit.“

Jakob lief es eiskalt über den Rücken, als ihm klar wurde was ihre Ansage bedeutete. „Das heißt doch, sie wollen mich kennenlernen und dann zwingen, Ihnen weitere Patienten zuzuführen. Werden wir jetzt schon beschattet oder wissen sie längst wer ich bin und wo ich wohne?“

Bianca zog die Hand zurück. „Wie kannst du nur so etwas denken? Ich dachte wir wären…“

„Wolltest du vielleicht Freunde sagen?“

„Ja, oder ist das zu intim für dich?“ Sie sah demonstrativ in die von ihm abgewandte Richtung.

Jakob spürte es sofort, sie hatte ihre Strategie geändert. Sie verzichtete darauf die Aktive zu sein; er sollte kommen. Das konnte nur auf die Mitleidsmasche hinauslaufen, die er zur Genüge von Louise kannte. Herzloser Mann tritt weibliche Gefühle mit Füßen.

„Niemand ist mir gefolgt, oder glaubst du wirklich ich könnte mich nicht unbemerkt vom Acker machen? Verpfeifen könnte ich dich auch nicht, weil ich selbst nicht weiß wer du bist. Warum verdächtigst du mich also? Dabei habe ich immer gedacht wir…“

„Hör auf damit!“ unterbrach er sie, ohne auf seine Umgebung zu achten, „sonst zerfließt du gleich noch in Tränen.“

„Du bist wirklich der blödeste Kerl den ich kenne.“ Bianca war wieder sie selbst.

„Immerhin habe ich dich zur reichen Frau gemacht.“

„Ich hatte auch vorher schon Geld.“

„Na, wie schön. Wir gehen jetzt beide unserer Wege. Jeder in seinen eigenen Puff.“ Er sah sie fragend an.

Sie nickte teilnahmslos. „Wenn du möchtest.“

„Sollte sich etwas Neues ergeben, ruf ich dich an.“ Er erhob sich schwerfällig und ging grußlos davon. „Du hast mein Leben neu aufgemischt“, murmelte er, ohne dass sie es hören konnte.

***

Jakob biss herzhaft in die Weißwurst, ein Benehmen das Louise aus tiefstem Herzen zuwider war, da sie es vorzog bei diesem Produkt deutscher Schlachterkunst erst die Pelle zu entfernen, bevor sie sich das Brät in kleinen Häppchen mit Messer und Gabel einverleibte.

„Wie war dein Tag?“ fragte sie trotzdem uninteressiert, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Sie kostete von dem süßen Senf, der neuerdings bei Edeka angeboten wurde.

„Ich trage jetzt mehr Verantwortung“, antwortete er überraschend.

„Gut“, sagte sie und führte ein winziges Stückchen Wurst zu Mund. „Dann fällt dir ja auch alles nicht mehr so schwer.“

„Nein“, sagte er, „wie geht’s bei dir?“

„Mir fällt auf, dass alle Leute die du hier beim Frühstück beschimpfst hast, kurz darauf große Schwierigkeiten bekommen haben.“

Er sah sie erstaunt an, wobei er für einen Moment glaubte, sie betrachtete ihn wie ein lästiges Insekt, wie einen seltenen Käfer, von dem sie nicht so recht wusste, wie sie ihn aus ihrer Wohnung entfernen sollte. Auf eine unbestimmte Weise fühlte er sich, als stände er auf der Roten Liste der bedrohten Arten.

***

Halbwelten

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