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Saludos Amigos

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Jakob saß auf dem unbequemen Stuhl in seinem Büro und war mit sich und der Welt sehr unzufrieden. Gut, es war ihm gelungen zwei Verbrecher aus dem Verkehr zu ziehen, die bis dahin – unbehelligt von Polizei und Justiz – in diesem Land ihr Unwesen trieben. Aber was war das schon? Dadurch hatte er im Grunde nicht das Geringste bewirkt. Alles würde so weiterlaufen wie bisher. Sollte irgendwo ein Machtvakuum entstanden sein, wäre es längst wieder mit neuer krimineller Energie gefüllt. Er musste etwas tun, das sich nachhaltiger auf die gesellschaftliche Ordnung auswirkte und sie positiv veränderte. Das funktioniert tatsächlich nur, überlegte er, wenn ich mich mit den Leuten beschäftige, die für die Organisation und den Ablauf des Zusammenlebens aller Bürger in dieser Republik verantwortlich sind. Die Politiker, welche die Geschicke des Landes bestimmen. Eigentlich sollten sie ja Diener des Staates, also der Bevölkerung sein. Einmal im Besitz der Macht führten sie sich jedoch wie Despoten auf. Lediglich vor anstehenden Wahlen gaben sie sich volksnah und tätschelten kleinen Kindern die Köpfe. Achtzig Prozent aller Deutschen halten ihre Volksvertreter für korrupt, hatte er neulich irgendwo gelesen. Auch er selbst hatte früher oft Louise mit seinen Ansichten über die Unfähigkeit herrschender Bundes- und Landesregierungen und ihrer nachgeordneten Behörden gelangweilt. Er konnte stundenlang aufzählen wozu die Staatsvertreter einfach nicht fähig waren. Sie konnten beispielsweise nicht verantwortungsvoll mit dem Geld ihrer Bürger umgehen. Sie verschwendeten Milliarden um sich und ihre Partei in ein besseres Licht zu stellen oder um unsinnige Wahlversprechen einzulösen. Und sie bereicherten sich selbst schamlos.

Das wird mein nächster Fall, Jakob war sich jetzt sicher. Er hatte ursprünglich auch noch an den Kampagnenjournalismus krimineller Chefredakteure großer Boulevardzeitungen gedacht, die durch gezielte Stimmungsmache bewusst das Leben von Zielpersonen und ihrer Familien zerstörten. Sie bedienten sich dazu einer Hinhaltetaktik, bei der Informationen nach und nach veröffentlicht wurden, um die sogenannte Berichterstattung über einen längeren Zeitraum hinweg aufrecht erhalten zu können. Die haltlosen Beschuldigungen gegen einen Bundespräsidenten waren ein gutes Beispiel dafür. Nachdem der Mann zurückgetreten und seine Ehe zerstört war, hatten sich sämtliche Vorwürfe in Luft aufgelöst. Es gab jedoch keinerlei Gerichts- prozesse gegen diese verleumderischen Veröffentlichungen. Alles wurde entschuldigt und legitimiert mit der heiligen Kuh dieser heimlichen Diktatoren, der Pressefreiheit. Was für ein dekadentes System. Erst einmal hatte ein Minister den Mut bewiesen gegen eines dieser volksverhetzenden Organe öffentlich vorzugehen und war kläglich gescheitert.

Doch das musste warten. Die Korruption hatte Vorrang. Oder hing beides sogar zusammen?

***

Die Drei standen in enger Umarmung in Ulrikes Wohnzimmer. Turnusmäßig wäre Elfriede dran gewesen, aber sie wollten vermeiden, dass durch fröhliches Gelächter und Jubelschreie im Trauerhaus, die Nachbarn misstrauisch wurden. Elfriede weinte vor Glück. Sie hatte ihren beiden Freundinnen detailliert berichtet, wie das Wochenende am Schöneberger Strand verlaufen war. Einfach phantastisch, viel besser noch als geplant. Der Sadist, so dachte sie nur noch über ihren verstorbenen Ex-Mann, hatte sich das Curry-Huhn gierig einverleibt und war nach knapp einer Stunde mausetot. Die Symptome waren exakt so eingetreten wie Louise sie vorausgesagt hatte. Nur ging alles viel schneller, weil der Sadist eben schwer herzkrank war. Der Notarzt zeigte keinerlei Bedenken, als er die in Tränen aufgelöste und völlig verzweifelte Elfriede sah. Sie hatte ihm noch, während sie von der schweren Krankheit ihres Mannes berichtete, die Adresse des behandelnden Herzspezialisten gegeben. Natürlicher Tod durch Herzversagen, hatte er schriftlich attestiert. Selten so eine klare Todesursache gehabt, dachte er, während er zu seinem Fahrer in den Wagen stieg um sich auf den Weg zu einer, von der Treppe gestürzten, älteren Dame in Probsteierhagen zu machen.

„Hast du das Sachet und die Essensreste auch wirklich gut entsorgt?“ fragte Louise besorgt. Sie hatten es sich inzwischen in den bequemen Sesseln der kuscheligen Sitzecke gemütlich gemacht und stießen mit dem Champagner an, den Elfriede spendiert hatte.

„Macht euch keine Sorgen, ich habe, nachdem der Sadist von einem Bestattungsunternehmen abgeholt worden war, auf dem Rückweg nach Hamburg, von einer Brücke alles in die Stör geworfen.“

„Du bist wirklich zu beneiden. So glücklich und befreit habe ich dich noch nie erlebt. Als hättest du unsichtbare Fesseln abgeschüttelt.“ Ulrike seufzte und nahm noch einen kräftigen Schluck.

„Da ist noch etwas, das ich bisher nicht erzählt habe“, Elfriedes Augen leuchteten. „Es gibt eine Lebensversicherung zu meinen Gunsten, von der ich absolut nichts wusste.“ Sie zögerte einen kurzen Moment. „Ich lade euch beide, wenn das hier alles vorbei ist, für eine Woche nach Mallorca ein.“ Erst als sie die bedröppelten Gesichter ihrer Freundinnen sah, fiel ihr ein. „Ach, ihr könnt ja gar nicht. Kochen, Putzen, eheliche Pflichten verbieten jede Abwesenheit.“

„Du bist undankbar“, beschwerte sich Ulrike gekränkt. „Du verspottest uns, obgleich du ohne Louise auch heute noch verprügelt worden wärst.“

„Hört auf damit“, mischte sich Louise ein, „noch ist die Aktion nicht beendet. Was steht als nächstes auf dem Programm?“

„Das ist ja das Wunderbare. Ich muss mich um Nichts kümmern. Alles erledigen andere. Eingeäschert ist er auch schon. Ich muss zum Schluss nur die Rechnung bezahlen.“

„Aber es gibt ja wohl eine Beerdigung.“

„Ja, eine Urnenbestattung auf dem Bramfelder Friedhof. Nächsten Freitag um elf Uhr dreißig in der Kapelle. Ihr kommt doch?“

„Natürlich. Teilen wir uns ein Gesteck, Ulrike?“

„Einverstanden. Ich übernehme das.“

„Wird eine Rede gehalten?“

„Ja, ein Pastor. Der war schon bei mir. Ich habe ihm erzählt was für ein liebevoller und treusorgender Ehemann dieser Sadist war.“ Elfriede entkorkte eine weitere Flasche.

Ulrike stieß einen weiteren tiefen Seufzer aus. „Hast du noch etwas von dieser Knolle, Louise?“

„Ich bitte dich, meine Liebe, wir wollen doch nichts überstürzen. Aber ich verspreche dir, der Tag wird kommen an dem wir Drei gemeinsam nach Mallorca fliegen.“

***

Jakob war sich im klaren darüber, dass bei einem Feierabendparlament wie der Hamburgischen Bürgerschaft, das nur zweimal monatlich tagte, meistens Nachmittags am Mittwoch, nicht viel zu holen war. Natürlich gab es hier auch umtriebige Lobbyisten, die sich mit Kisten guten Weins, teuren Abendessen oder Urlaubsreisen für erwiesene Gefälligkeiten erkenntlich zeigten. Selbst gut honorierte Beraterverträge ohne entsprechende Gegenleistung wurden von einflussreicheren Bürgerschaftsabgeordneten der großen Parteien angenommen. Doch am wirklich großen Rad wurde in Berlin gedreht. Je weitreichender die Entscheidungen, desto höher auch die Bestechungssummen.

Jakob erhob sich von seinem wackeligen Stuhl und wanderte in seinem winzigen Büro vom Schreibtisch zur Tür und zurück. Vier Schritte hin, vier Schritte her. Was er brauchte war ein einflussreiches MdB, ein Mitglied des Deutschen Bundestages, das per Direktmandat oder über die Landesliste seiner Partei gewählt worden war. Keinen namenlosen Hinterbänkler, ein wichtiger Mensch musste es sein, der Ausschüsse und Arbeitsgruppen leitete, sowie wichtige Funktionen in Wirtschafts- unternehmen innehatte.

Irgend so ein eloquentes dummes Arschloch, das die Politik gesellschaftlich hochgespült hatte, und das nur seinem Gewissen verantwortlich war, und dem, falls es keines besaß, alle Wege offenstanden. Es muss einer dieser Gutmenschen sein, der die Welt retten will und vorsorglich bei sich damit beginnt. Jakob beugte sich über eine Liste auf seinem Schreibtisch. Zurzeit schickte Hamburg dreizehn Bundestagsabgeordnete nach Berlin; fünf Direktgewählte und acht über die Landesliste. Er sah sich die Lebensläufe seiner Kandidaten an. Neben altgedienten Hasen gab es auch einige Newcomer, die er aber mangels potentieller Einflussnahme nicht weiter berücksichtigte. Schließlich wählte er zwei der Langgedienten aus, deren Fotos auf ihn den unangenehmsten Eindruck hinterließen und deren Vitas sie am häufigsten in der Nähe von Industrie, Banken und Handel zeigten.

Diese beiden würde er bearbeiten. Wenn sie aber gar nicht korrupt waren, fragte er sich zweifelnd. Diese Möglichkeit kannst Du vernachlässigen, beruhigte er sich. Bestechlich sind sie alle, schließlich glaubt das auch achtzig Prozent unserer Bevölkerung, und da wir in einer Demokratie leben, hat die Mehrheit immer Recht.

Jakob war natürlich bewusst, dass er mit legalen Mitteln keinerlei Chancen hatte diesen Sumpf auszutrocknen. Vor allem schon deswegen, weil Korruption eigentlich überhaupt nicht verboten war. Denn als eines von ganz wenigen Ländern wie Tschad und Nordkorea, hatte Deutschland die UN-Konvention gegen Korruption bis heute nicht umgesetzt, da viele Abgeordnete auf die ihnen garantierte, gesetzliche Unabhängigkeit pochten, die ihnen durch so ein Gesetz genommen werden würde.

So macht sich ein Lobbyist zwar strafbar wenn er einem MdB Geld gibt, damit dieser in seinem Sinne abstimmt, aber gibt er es ihm erst nach der Abstimmung, ist das straffrei, und zwar unabhängig von der Höhe des Betrages. Überreicht er das Geld einem Dritten, wie zum Beispiel der Ehefrau des Politikers, bleibt das ebenfalls ohne rechtliche Folgen.

Als Jakob erstmals davon erfuhr, war er so empört, dass er mit Louise darüber gesprochen hatte. „Es werden heutzutage schon Arbeitnehmerinnen entlassen“, hatte er gesagt, „weil sie vom übriggebliebenen Buffet gegessen haben, und diese Typen stopfen sich unbehelligt die Taschen voll.“ Aber Louise war, wie so oft in letzter Zeit, völlig desinteressiert und beschäftigte sich seltsamerweise nur noch mit ihrer Freundin Elfriede, deren Ehemann nach langer Krankheit, plötzlich aber nicht unerwartet, verstorben war.

Jakob beschloss diesen käuflichen Betrügern so zuzusetzen, dass sie an ihrer gesetzlich garantierten Unabhängigkeit erstickten. Er würde mit illegalen Methoden auf den Busch klopfen, und er wusste auch schon wie.

Er begann damit die Profile dieser beiden Mandatsträger auszuarbeiten und zwar auf eine andere Art und Weise als sie von der Bundestagsverwaltung veröffentlicht wurden. Er kon- zentrierte sich voll auf die Punkte, die in den öffentlichen Verlautbarungen fehlten, da keine Transparenz der Abgeordneten- tätigkeiten existierte.

1. Hans Jäger (Hamburg) MdB, CDU/CSU

Einstellung zur Korruption: Hält nach eigener Aussage Bestechlichkeit für unverzichtbar. „Ich bin nicht weisungsgebunden. Ich bin nach Artikel 38 des Grundgesetzes ein frei gewählter Abgeordneter. Ich habe Kontakte zu halten zu Interessengruppen. Das wäre alles nicht mehr möglich. Politik würde nicht mehr funktionieren können.“ (Eine weitverbreitete Ansicht unter den Abgeordneten aller Parteien)

Mitgliedschaften und Ämter im Bundestag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Verteidigungsausschuss, Unterausschuss Neue Medien,

Funktionen in Unternehmen: Offiziell angegeben sind drei Mitgliedschaften in Aufsichts- und Beiräten gemeinnütziger Unternehmen.

Der Öffentlichkeit unbekannt sind fünf weitere Nebentätigkeiten in Form von Aufsichtsratssitzen in DAX-Unternehmen. Da der Beruf eines MdB Jäger zeitlich nur wenig in Anspruch nimmt, geht er also weiteren Beschäftigungen nach und kassiert Geld von nicht genannten Auftraggebern. Bei dieser Fülle von Tätigkeiten ist sein Bundestagsmandat wahrscheinlich nur ein Nebenjob, für den er aber die vollen üppigen Bezüge erhält.

In sieben von zehn wichtigen Abstimmungen fehlt er im Bundestag.

2. Dirk Kurz (Hamburg) MdB, SPD

Einstellung zur Korruption: Vertritt schon aus Parteiräson eine leichter vermittelbare Antihaltung, was ihn jedoch nicht davon abhält eine Reihe lukrativer Nebenjobs auszuüben.

Mitgliedschaften und Ämter im Bundestag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Verteidigungsausschuss, Unterausschuss Neue Medien, (Jakob konnte bisher nicht richtig einschätzen, aus welchem Grund zwei Hamburger MdB aus unterschiedlichen Parteien in den gleichen Ausschüssen tätig waren)

Funktionen in Unternehmen: Keine, Offiziell angegeben sind einige ehrenamtliche Tätigkeiten in Körperschaften, Vereinen und Stiftungen, (Randnotiz Jakob: Ein echter Saubermann)

Tatsächlich hat Kurz jedoch Zeit gefunden für achtzig Vorträge in drei Jahren vor Vertretern von Wirtschaftsunternehmen, die ihm Jahreshonorare in Millionenhöhe einbringen. Im Erstberuf ist Kurz Management Consultant, dazu mehrfach hochdotierter Verbandsvertreter, sowie Teilhaber einer Consultingfirma.

Für beide Kandidaten gilt zusätzlich, dass Urlaubsreisen, Hotelaufenthalte etc. regelmäßig auf Kosten von Privatfirmen stattfinden. Welche Beträge an Schwarzgeldern im Umschlag fließen, ist auch nicht ansatzweise feststellbar.

Jakob beschloss diese Fakten zusätzlich noch phantasievoll auszuschmücken, wobei er hoffte mit seinen begrenzten Vorstellungen nicht unbeabsichtigt unter der wahrscheinlichen Realität zu bleiben.

Als er nach einigen Tagen sein umfangreiches Dossier vervollständigt hatte, fiel ihm auf, dass er inzwischen intensiver arbeitete als zu seiner aktiven Zeit. Als Geschäftsführer eines Industrieunternehmens hatte er vorwiegend Aufgaben delegiert und für deren Ergebnisse die Verantwortung übernommen. Jetzt musste er alles selbst machen. Er beschloss daher, sich nach dieser Aktion eine Pause zu gönnen.

Da er nicht sicher wusste, ob eine E-Mail zurück zu verfolgen war, druckte er seinen Bericht aus, wobei er Papier verwendete, das er bisher noch nicht berührt hatte. Mit Gummihandschuhen, die er in einer Drogerie gekauft hatte, legte er alles in die vorbereiteten Umschläge. Selbst die Briefmarke befeuchtete er nicht mit der Zunge, wie er es sonst immer tat, sondern mit einem Schwamm. Am Hauptbahnhof warf er die beiden Sendungen in einen Briefkasten. Sie waren an die Redaktionen zweier überregionaler Tageszeitungen gerichtet, die zwar von sich behaupteten unabhängig und überparteilich zu sein, aber eindeutig mit unterschiedlichen politischen Lagern sympathisierten.

Jetzt musste er nur noch warten.

***

Hans Jäger hatte sich von seiner Familie verabschiedet und ging zu dem auf ihn wartenden Taxi. Er besaß ein denkmalgeschütztes Haus im Blankeneser Treppenviertel, in dem er seiner Frau und zwei entzückenden Kindern lebte. Sein dichtgedrängter Terminplan, den seine Sekretärin für ihn führte, zwang ihn diese Woche wieder durch das gesamte Land zu reisen. Es begann in Berlin mit einer Verkehrsausschuss-Sitzung, an der er unbedingt teilnehmen musste, da um die Höhe der Bundesmittel für die Ortsumgehung Finkenwerder gestritten wurde. Danach würde er mit dem Vorsitzenden eines neu gegründeten Medienverbandes zu Mittag essen, der erst seit kurzem in die vom Präsidenten des Deutschen Bundestages geführte öffentliche Liste über die Registrierung von Verbänden und deren Vertretern, die sogenannte Lobbyliste, aufgenommen worden war.

Am frühen Nachmittag musste er sich dann mit den Insassen eines Touristenbusses unterhalten, die von seiner Partei zu sehr günstigen Konditionen, regelmäßig zum Sightseeing nach Berlin gekarrt wurden. In knapp zwei Jahren gab es wieder Wahlen, da war Bürgernähe angesagt. Wie es danach weiterging wusste er schon nicht mehr so genau, aber seine Sekretärin hatte Frankfurt und München erwähnt.

Eigentlich geht es dir nicht schlecht, dachte er; sicher die andauernde Terminnot und die daraus resultierende Abwesenheit von der Familie, stresste ihn ganz erheblich. Dieses permanente Hin und Her zwischen seinem Wahlkreisbüro in der Blankeneser Hauptstraße, dem Bundestag, seinem zweiten Wohnsitz in Berlin und den unzähligen Terminen zu denen er anreisen musste, war nur schwer zu ertragen. Aber das alles würde irgendwann ein Ende haben. Dann hatte er ausgesorgt und könnte sich ganz seiner Familie widmen. Vielleicht noch zwei, drei Aufsichtsratssitze damit man nicht völlig einrostete. Denn wenn er eines begriffen hatte in seinem Leben, dann dies: Die Lobby hofierte ihn nicht wegen seiner angenehmen Umgangsformen, sondern wegen der Leute die er kannte und beeinflussen konnte.

Den Ehrgeiz, seine unterschiedlichen Einnahmequellen auch nur zu überblicken, hatte er längst aufgegeben. Er überließ sämtliche Unterlagen, von Einstellungsverträgen bis hin zu Taxiquittungen seinem Steuerberater, einem sehr fähigen Experten und Bruder seiner Frau. Lediglich Geldbeträge, die ihm von Personen zugesteckt worden waren, für deren Unternehmen er sich besonders eingesetzt hatte, hortete er in einem nur ihm bekannten Bankschließfach. Vor seinem Gewissen konnte er das problemlos verantworten. Schließlich handelte es sich um Ausgleichszahlungen für Freundschaftsdienste, die geleistet worden waren und denen jeder geschäftliche Bezug fehlte.

Niemals würde er sich jedoch Einnahmen auf zum Beispiel ein Nummernkonto in der Schweiz überweisen lassen. Schließlich war er ein gewähltes Mitglied des Deutschen Bundestages und würde diesen Staat niemals um die ihm zustehenden Steuern betrügen. Denn er, Hans Jäger, tat dies alles nicht des Geldes wegen; vermögend war seine Familie schon immer. Er tat dies um als angesehener Bürger in die Geschichte Hamburgs einzugehen, der sich um seine Vaterstadt verdient gemacht hatte.

Als die Lufthansa-Maschine vom Boden abhob, fragte er sich zum wiederholten Mal, warum er sich in letzter Zeit so häufig mit diesen Gedanken beschäftigte.

***

Dirk Kurz, gelernter Tischler, hatte auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachgeholt und danach Jura studiert. Noch während des ersten Semesters schmiss er entnervt das Studium, kehrte zum erlernten Handwerk zurück und suchte sein Heil in der Politik. Obgleich Vater und Großvater aktive Mitglieder der kommunistischen Partei gewesen waren, beendete er diese Tradition, da er keine Chance sah, dass Die Linke, wie sie sich zur Zeit nannte, jemals Regierungsverantwortung würde übernehmen können.

Er hatte die Ochsentour hinter sich als er im Wahlkreis Hamburg-Mitte zum Direktkandidaten für den Deutschen Bundestag gewählt wurde. Durch seinen Wohnsitz in Barmbek, einem ehemaligen Arbeiterviertel, profilierte er sich als typischer Mann des Volkes. Er war einer von ihnen und gehörte zu den wenigen, denen man noch vertrauen konnte. Dass er hochintelligent war und herablassend auf die eher schlichten Gemüter seiner Wähler herabsah, hatte er in seinem Wahlkreis immer gut zu verbergen gewusst. Bei seinen landesweiten Vorträgen jedoch, für die er unglaubliche Honorare erzielte, überraschte er seine Zuhörer mit einer ausgefeilten, saloppen Diktion, die selbst erzkonservative Banker und Industrielle zu spontanen Begeisterungsstürmen hinriss.

Für die Parteiführung war er das Chamäleon schlechthin und daher an allen Fronten einsetzbar. Von seiner ersten Frau, die er, damals noch Tischlergeselle, viel zu früh geheiratet hatte, war er seit längerem rechtskräftig geschieden. Seine zweite wurde seinem jetzigen gesellschaftlichen Status wesentlich besser gerecht. Sie pflegte seine Homepage, konnte wunderbar repräsentieren und selbsttätig Partys und Bürgersprechstunden organisieren, auf denen er dann nur noch auftreten, einige markante Sätze sagen musste und sich ansonsten bei Drinks und geselligem Smalltalk amüsieren durfte.

Ihm war bewusst Opfer des Sozialisten-Syndroms zu sein, da er seine erste Frau der Karriere geopfert hatte. Es tat ihm anfänglich auch leid um sie, bis er hörte, dass sie eine neue Beziehung eingegangen war.

Wie immer, freute er sich auf den Montag, gab er ihm doch Gelegenheit seine 7-Zimmerwohnung in der Taubenstraße zu verlassen und sich seiner wahren Berufung zu widmen, dem Geldverdienen. In seiner Jugend war er, besonders nach heutigen Maßstäben, eigentlich immer arm gewesen. Wenn er sich überlegte, dass hierzulande ein Mensch mit neunhundertvierzig Euro im Monat als arm galt, wurde ihm schlecht wenn er darüber nachdachte, dass ein Arbeiter in einem Entwicklungsland von einem Dollar täglich leben musste. Wie konnte man den Begriff Armut nur so pervertieren?

Er selbst nahm das Geld wo es ihm geboten wurde. Ob ihn Firmen, Stiftungen oder Privatpersonen bezahlten, war ihm völlig gleichgültig. Sicherlich erwartete man von ihm dafür eine gewünschte Ausrichtung und ein bestimmtes Wahlverhalten, aber er fühlte sich trotzdem als freier Abgeordneter. Schließlich hatte er sich auch alles redlich verdient. Nur mit Schaudern dachte er zurück an seine Zeit in Ortsämtern und Bezirksversammlungen. Dieses unbegründete Korruptionsgerede war in seinen Augen daher auch nichts weiter als eine Neidkampagne, losgetreten von Leuten, die ihren Urlaub selbst bezahlen mussten. Trotzdem plagten ihn zunehmend dunkle Ahnungen, dass diese Form legaler Einkommensverbesserung, irgendwann ein abruptes Ende finden könnte.

***

Nach tagelangem Warten wurde Jakob von seiner inneren Anspannung fast zerrissen. Jeden Morgen zum Frühstück durchblätterte er ergebnislos die Abendzeitung. Louise, die sonst immer häufiger in entfernten Sphären zu schweben schien, hatte ihn gestern gefragt, was er denn eigentlich suchte. Es war ihm gelungen sich mit einem Interview herauszureden, das er mit einem Journalisten geführt hatte, der einen Artikel über ältere Menschen schreiben wollte, die nach ihrer Pensionierung noch weiter arbeiteten. Wie er gehofft hatte, war ihr Interesse danach sofort erloschen.

Man kann doch diese brisanten Informationen nicht einfach unter den Tisch fallen lassen, dachte er verärgert. Wenn die Redaktionen sich dieser explosiven Themen nicht annehmen und sich ausschließlich auf lokale Ereignisse fixieren wollen, bricht ihnen der Umsatz noch schneller weg.

Nach einer Woche erschien ein kurzer, einspaltiger Beitrag über die ausufernde Korruption in Afghanistan. Der Autor stellte Vermutungen darüber an wohin die Hilfsgelder der internationalen Gemeinschaft eigentlich flossen. In dem anderen, von ihm angeschriebenen Blatt, das er regelmäßig im Büro durchforstete, da er an keinen anderen Aktivitäten arbeitete, fand er bisher nichts zu diesem Thema.

Dann endlich, als er schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, las er was ihm das Herz höher schlagen ließ. „Korruption in Deutschland. Eine Bedrohung?“ titelte seine Bürozeitung, die sich dem linken politischen Spektrum zugehörig fühlte. Im Wesentlichen ging es um die Tatsache, dass die schwarzgelbe Regierung noch immer nicht das UN-Abkommen gegen Korruption ratifiziert hatte. Zusätzlich informierte man die Leser darüber, dass nach Schätzungen anerkannter Wirtschaftswissenschaftler der jährliche Schaden durch Korruption in Deutschland zweihundertfünfzig Milliarden Euro betrug. Mit der Frage: „In welche Taschen fließt dies Geld?“ endete der Beitrag.

Jetzt ging die Rallye richtig los, Jakob rieb sich die Hände. Das können die anderen nicht einfach negieren. Und so war es denn auch. Die Abendzeitung übertrumpfte ihre Konkurrenz mit der Behauptung, dass Bestechung und Käuflichkeit bis in die höchsten Kreise der Gesellschaft reichten. Nun schaukelte man sich gegenseitig hoch und war bemüht mit immer sensationelleren Rechercheergebnissen die eigene Leserschaft in Empörung zu versetzen. Das Thema entwickelte sich zu einem Tsunami des Boulevards. Es bediente die Mehrheitsmeinung der Zeitungskäufer und war auch für Leser mit niedrigem Bildungsniveau leicht konsumierbar. Irgendwann sprang es über auf die anderen Printmedien. Selbst Regenbogen-Blätter, die sich sonst nur mit Farah Diba und Lady Di beschäftigten, outeten sich als erbitterte Gegner dieses ausufernden Krebsgeschwürs der modernen Gesellschaft. Da sie selbst nicht über die Möglichkeiten verfügten neue Fakten zu beschaffen, manipulierten sie ihre Leser mit den Mitteln des Borderline-Journalismus, vermischten Realität mit Fiktion und veröffentlichten alte Texte unter neuem Datum.

Nun wollten auch Funk und Fernsehen nicht mehr tatenlos daneben stehen. Ein regionaler TV-Sender erfand als erster den neuen Beruf des Korruptionsexperten, der mit gewichtiger Miene, seiner Bedeutung bewusst, den Zuschauern vor allem das erzählte, was jeder schon wusste. Eine bedeutende nationale Sendeanstalt bemühte sich die Gefühlswelt ihrer Zuschauer zu aktivieren, indem sie eine Gut – Böse Gegenüberstellung kreierte. Aus seiner Wohnung in einer Plattenhaussiedlung, berichtete ein verhärmter Facharbeiter mit ergreifenden Worten, dass er und seine Familie – die Kamera schwenkte auf eine tränenüberströmte Frau, die zwei verängstigte Kinder umklammerte - sich seit Jahren keinen Urlaub mehr hatten leisten können. Bevor der beeindruckte Zuschauer jedoch die Zeit hatte sich die Frage zu beantworten, warum das wohl so war, ob der Typ sein Geld verzockt oder einfach nur versoffen hatte, sah man bereits neue Bilder, die einen Mercedes der CL-Klasse zeigten, der auf einer pompösen, durch ein schmiedeeisernes Tor gesicherten Auffahrt zu einer mondänen Villa im Südstaatenstil hinauffuhr. Im Inneren erahnte man schemenhaft einen fettleibigen Insassen, der abfällig in die Kamera grinsend, sich von seinem Fahrer chauffieren ließ. Der Sprecher im off mahnte eine korruptionsfreie Wirtschaft und mehr soziale Gerechtigkeit an, bevor im folgenden Beitrag: Koch-Tipp, die Zubereitungsgeheimnisse der Weißwurst entschlüsselt wurden.

Da eine Umfrage des FORSA-Instituts ergeben hatte, dass die Öffentlichkeit es zunehmend müde wurde sich mit allgemeinen Phrasen zufriedenzugeben, brach die Abendzeitung als erste ein Tabu. Sie nannte den Namen eines Politikers. Die Lawine, die dadurch losgetreten wurde übertraf alles bisher Dagewesene und ergoss sich als beispiellose Schmutzkampagne über die fassungslosen Medien-Konsumenten. Das Thema war jetzt in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Dirk Kurz, MdB der SPD galt kurzfristig als Verursacher des ganzen Elends und der Unterdrückung der unterprivilegierten Schichten im Lande, und das als Mitglied einer Partei die vorgab sich für die armen Leute einzusetzen. Erst als die Gegenseite Hans Jäger, MdB der CDU, präsentierte, relativierte sich das Feindbild etwas, biss sich aber an der Politik fest.

Jakob las sämtliche Artikel mit großem Interesse und stellte zu seinem Erstaunen fest, dass die meisten Passagen buchstabengetreu von ihm übernommen worden waren. Obgleich man ihn gar nicht kannte, wurde er von beiden Seiten, als freier – nicht genannt werden wollender – Mitarbeiter zitiert, der sich seit Jahren, im Auftrag der Zeitung, mit dieser Thematik beschäftigt hatte.

Da in absehbarer Zeit, wie eigentlich immer, irgendwo Landtagswahlen anstanden, konnten die Parteivorsitzenden diese existentielle Krise nicht einfach aussitzen, sondern waren zu schnellen Entscheidungen gezwungen. Die CDU reagierte zuerst und sagte sich von Hans Jäger los. Er wurde gezwungen von seinen öffentlichen Mitgliedschaften und Ämtern im Bundestag zurückzutreten. Gleichzeitig wurde ein Parteiausschlussverfahren in die Wege geleitet. Obgleich allen Beteiligten klar war, dass bei genereller Anlegung dieser Maßstäbe, die gesamte CDU-Bundestagsfraktion sofort geschlossen hätte abdanken müssen, entschloss man sich lediglich Jäger den geifernden Massen zum Fraße vorzuwerfen.

Diesem zusätzlichen Druck konnte nun auch die SPD nicht widerstehen. Man hätte Dirk Kurz zwar lieber unbemerkt aus der Schusslinie genommen und ihn in einem Vorstand der zahlreichen städtischen Versorgungsunternehmen versteckt, wie es geübter Brauch war, aber für diese Option war es zu spät. Man opferte diesen Genossen zum Wohle einer gesunden und vitalen Sozialdemokratie, die soeben ihren hundertfünfzigsten Geburtstag begangen hatte.

Doch das genügte längst nicht mehr. Die durch ständige mediale Manipulation hochgekochte Wut der Bürger forderte weitere Opfer. Selbst die vom Bundestag nunmehr eiligst ratifizierte UN-Konvention in Form des Anti-Korruptions-Gesetzes, trug nur wenig zur Beruhigung der emotionalisierten Volksseele bei. Die Umfragewerte der beiden Volksparteien sanken ins Bodenlose. Die geballte, neiderfüllte Entrüstung, die sich davor vornehmlich auf Steuerhinterzieher gerichtet hatte, konzentrierte sich jetzt auf die gewählten, sogenannten Volksvertreter. Wie ahnungslos und naiv war man bloß gewesen. Niemals durfte sich so etwas wiederholen. Protestparteien, die alles Bisherige ablehnten und zu keiner Koalition bereit waren, schossen wie Pilze aus der Erde und erhielten regen Zulauf. Die Wahlbeteiligung erreichte ihren absoluten Tiefpunkt. Das Ergebnis waren Italienische Verhältnisse in Hessen. Selbst überzeugte Demokraten stellten öffentlich die Frage, ob nicht eine, zeitlich limitierte, sanfte Diktatur die aktuellen Problemen besser lösen könnte.

Die so geschundene Politik geriet jedoch völlig unerwartet aus dem Fokus, als eine überregionale Zeitung ihren Lesern einen pädophilen Bischof präsentierte, der sich auf besonders abartige Weise an minderjährigen Schutzbefohlenen vergangen haben sollte.

***

Jakob war davon überzeugt, die Korruption würde in den nächsten Jahren keine öffentliche Rolle mehr spielen. Dabei hatte man das Thema nur am Rande berührt, dachte er. Zum Kern der Sache, wo die wirklich großen Beträge flossen, zur Industrie, zum Handel und Bankensektor, war man überhaupt nicht vorgedrungen. Nicht einmal ansatzweise erwähnt hatte man diese Bereiche in denen Milliardenbeträge den Wettbewerb verzerrten und Güter und Dienstleistungen verteuerten.

Da er nicht so recht wusste, was er mit sich anfangen sollte, beschloss er Bianca anzurufen; mit ihr hatte er sich noch nie gelangweilt. Sie war auch sofort bereit sich mit ihm zu treffen, wollte aber nicht mehr von ihm bezahlt werden. Er lud sie in eine zweigeschossige Café-Bar ein, die erst vor kurzer Zeit auf den schwimmenden Pontons vor Brücke 8 an den St, Pauli Landungsbrücken eröffnet hatte. Watergate hieß der Laden. Man hatte von dort einen schönen Blick auf das Dock 10 von Blohm + Voss.

Sie war wie immer pünktlich und bürgerlich gekleidet. Zu Pumps und gebleachten, hellblauen Jeans, trug sie eine schwarze Bluse, die sich unter einer Lederjacke in Pink versteckte. Da die Sonne noch schien, setzten sie sich nach Draußen auf eine der Terrassen, wo sie Pernod bestellten.

„Von dir nehme ich kein Geld mehr“, bestätigte sie noch einmal, was sie ihm bereits am Telefon erzählt hatte.

„Aber die Drinks werde ich doch wohl noch bezahlen dürfen“, lächelte er, „das mache ich für jede Dame.“

Sie betrachtete ihn argwöhnisch, da sie nicht sicher war wie das nun wieder gemeint sein konnte. „Sag mir erst was du von mir willst und spar dir das Gesülze für später auf.“

„Warum so garstig Bianca? Ich wollte einfach mal wieder deine schönen Beine sehen. Aber in Jeans sieht ein Fahrgestell wie das andere aus.“

„Das beweist mir nun wieder, dass du dringend eine neue Brille brauchst.“ Sie erhob sich und knöpfte ihre Jeans auf.

„Was soll das werden?“ fragte Jakob überflüssigerweise.

„Ich möchte dir meine Beine zeigen.“ Sie begann den Reißverschluss zu öffnen und sich von der stramm sitzenden Hose zu befreien.

„Das wird nicht nötig sein“, stammelte er hastig, da sich die anderen Gäste bereits nach ihnen umdrehten und neugierige Blicke auf Bianca richteten. „Ich habe sie noch sehr gut in Erinnerung.“

„Feigling“, schnaubte sie verächtlich und setzte sich.

Langsam kehrte wieder Ruhe ein, nur aus dem Innenbereich des Cafés, hinter der Glasfront, starrten zwei Augen unvermindert auf Jakob und Bianca, als könnten sie nicht fassen, was sie dort sahen.

Dieses unglaubliche Ding hätte hier doch glatt einen Striptease auf die Terrasse gelegt, staunte Jakob erleichtert. Was für ein herrlich verrücktes Weib. „Also gut“, sagte er dann, „wenn du es so willst.“ Er leerte sein Glas. „Ich mache mir Sorgen um Kleinmüller. Die Angelegenheit entwickelt sich nur zögerlich.“

„Warum beklagst du dich bei mir? Ich arbeite doch nicht für den Staatsanwalt.“

„Vielleicht steht die Anklage auf zu schwachen Füßen“, fuhr Jakob unbeirrt fort. „Nur ein Messer und ein bisschen Blut hier und da. Keine Leiche, nicht mal eine vermisste Person. Mich wundert‘s, dass er nicht schon wieder frei herumläuft.“

„Eine Leiche gibt es nicht“, sie schüttelte den Kopf und winkte nach dem Ober. „Zumindest keine, die zu dem Blut in der Wohnung passt.“

Ein junger Kellner, der vor einigen Augenblicken die aufsehenerregende Szene ebenfalls beobachtet hatte, hastete eilfertig herbei und starrte bewundernd auf Biancas schwarzen Slip, da sie es bisher nicht für nötig befunden hatte, ihren Reißverschluss wieder hochzuziehen.

„Pass bloß auf, dass dir der Sabber nicht gleich auf die Hose tropft“, bemerkte sie mütterlich, bevor sie ihre Bestellung aufgab.

Der Typ wischt sich doch tatsächlich über den Mund, durchfuhr es Jakob ungläubig. Sie muss über eine beträchtliche Suggestivkraft verfügen, wenn es ihr gelingt spielend leicht Männer zu manipulieren.

„Aber mit einer Vermissten könnten wir aushelfen“, ergänzte Bianca, die diesen kleinen Zwischenfall bereits wieder vergessen zu haben schien. „Meinst du, das würde genügen?“

„Wenn es stimmige DNA-Spuren gibt…“ Sie nickte so überzeugend, dass er sich selbst unterbrach. „Aber warum dann keine…ich meine tote Person?“

„Weil es keine gibt. Das verwendete Blut entstammt einer freiwilligen Spende“, erklärte sie gelangweilt. „War‘s das nun?“

„Ja“, sagte er resignierend. „Wie geht’s dir sonst?“

„Natürlich gut. Danke der Nachfrage. Das sagt man doch in deinen Kreisen, oder?“

„Was weißt du von meinen Kreisen?“ ereiferte sich Jakob, der immer wütend wurde wenn man ihn ungefragt der konditionierten Verhaltensweise einer bürgerlichen Mehrheit zuordnete. Er hatte bereits einige scharfe Bemerkungen auf der Zunge, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass er genau so reagierte wie der junge Ober. Dem lief der fiktive Speichel aus dem Mund, ihm stieg die Zornesröte ins Gesicht. Sie beeinflusst dich nach Belieben, wie auch jeden anderen mit dem sie Kontakt hat, überlegte er. Sie kreiert Gefühle bei dir und versetzt dich nach Belieben in Stimmungen, die ihren Absichten dienlich sind. Wach auf Jakob, du bist sechzig und sie ist eine Nutte. Warum sitzt du hier eigentlich? Wenn du noch einen Rest Verstand hast, stehst du jetzt auf und verschwindest.

„Ist alles in Ordnung“? fragte sie nach einer Weile besorgt, da er in sich versunken vor sich hin döste.

„Na klar“, schreckte er hoch, „warum fragst du?“

„Weil ich dich zu meinem Geburtstag einladen möchte.“

„Oh“, war alles was ihm dazu einfiel.

„Zu meinem fünfundzwanzigsten.“

Er sah sie ungläubig an.

„Ich begehe seit zwei Jahrzehnten diesen Jahrestag. Ist es nicht völlig egal, welchen man feiert? Da nehme ich doch gleich einen, an dem meine Titten noch stramm und knackig waren. Würdest du kommen?“

Er hörte seine Stimme wie aus der Ferne: „Gerne, wenn du mir sagst wann und wo.“

„In vierzehn Tagen in der Vulva. Beginn ab zweiundzwanzig Uhr. Ich erwarte etwa hundert Gäste.“ Sie sah ihn fragend an.

„Also eine Zusammenkunft von Kiezgrößen aus sämtlichen Berufsgruppen. Zuhälter, Killer, Spieler, Stricher, Nutten, Schläger, Messerstecher, Trickbetrüger und was weiß ich noch alles.“

„‘n paar Hoteliers und Rocker sind auch noch dabei“, ergänzte sie seine Aufzählung.

„Ich komme trotzdem“, sagte er, völlig gegen seine Überzeugung.

„Toll, dann solltest du dich vielleicht…wie soll ich sagen…etwas anlassgerecht kleiden. Mit dem was du bisher immer anhattest, entsprichst du voll dem Opferprofil meiner Gäste und das stempelt dich automatisch zum Beutetier. Jeder würde dann nur daran denken, wie er dich ausnehmen könnte. Und besonders an meinem Geburtstag möchte ich vermeiden, dass man sich mit geschäftlichen Problemen auseinandersetzt. Das versaut die Stimmung.“

„Du meinst also wirklich, ich sollte mir schwarz-weiße, hochhackige Lackschuhe, einen Seidenanzug, ein pinkfarbenes Hemd und ´nen weißen Schlips besorgen?“

Sie strahlte ihn an. „Jetzt verstehen wir uns Jakob.“

„Ich könnte dich erwürgen, du, du… Vielleicht darf‘s auch noch etwas Gelatine im Haar sein?“

Jetzt leuchteten ihre Augen. „Total stylisch. Ich liebe es, wenn du so redest. Das zeigt mir, dass ich zu dir durchdringe und dir nicht gleichgültig bin.“

Jakob beschloss das Thema nicht weiter zu vertiefen. „Gibt’s noch Ärger mit der Pistole“, fragte er ausweichend.

„Was für eine Pistole meinst du?“ Sie zuckte mit den Achseln und zog ihren Reißverschluss hoch.

***

Ilana Dimitrova, bulgarische Staatsbürgerin und Sexarbeiterin, erschien völlig aufgelöst im Polizeikommissariat 15, der St. Pauli Davidwache, um das spurlose Verschwinden ihrer Freundin Binka Filipova zu melden. Sie teilte dem diensthabenden Beamten mit, einige Zeit in ihrer Heimat gewesen zu sein und nach ihrer gestrigen Rückkehr, ihre Kollegin und Zimmernachbarin nicht mehr vorgefunden zu haben. Daraufhin wurde umgehend der Revierleiter informiert, da von ganz Oben die Anweisung bestand, besonderes Augenmerk auf vermisste weibliche Personen zu legen. Der herbeigerufene Dienststellenleiter konnte sich aus dem nur bruchstückhaften Deutsch der Dimitrova keinen rechten Reim machen und forderte einen Dolmetscher an, mit dessen Hilfe dann sinngemäß folgende Aussage zu Protokoll genommen werden konnte.

Nach ihrer Rückkehr aus Sofia hatte Ilana Dimitrova ihre Kollegin Binka Filipova nicht mehr vorgefunden. Dies war insofern unverständlich, da deren gesamtes persönliches Eigentum sich noch in ihrem Zimmer befand. Merkwürdig war auch, dass die Abgängige kurz vor der Abreise ihrer Freundin noch mitgeteilt hatte, das große Los gezogen zu haben, da sie einen reichen Deutschen kennengelernt hatte, der sie liebte und heiraten wollte. Diese Aussagen brachten den Revierleiter dazu, die SOKO Kleinmüller einzuschalten.

Die Durchsuchung des Zimmers lieferte wesentliche Hinweise und Erkenntnisse. Da der Pass der Filipova gefunden wurde, war es unwahrscheinlich, dass diese aus freien Stücken eine Reise unternommen hatte. Weiterhin fand sich im Kleiderschrank ein maßgeschneidertes, seidenes Herrenhemd, mit einem eingestickten FK am Kragen. Der Vergleich mit Hemden in Kleinmüllers Penthouse ergab, dass es von derselben Größe und Machart war, sowie die gleichen Initialen trugen. Hersteller war eine Maßschneiderei in der Düsseldorfer Königstraße, die bestätigte diese Hemden angefertigt zu haben und bereits seit Jahren für Kleinmüller zu arbeiten.

Der endgültige Durchbruch für die Anklage ergab sich jedoch aus dem Abgleich der im Zimmer vorgefundenen DNA-Spuren mit dem Blut in der Wohnung des Angeklagten. Der genetische Fingerabdruck war identisch.

Damit war der unwiderlegbare Beweis erbracht, die Filipova hatte sich in Kleinmüllers Wohnung aufgehalten. Er war ihr reicher Deutscher, der sie heiraten wollte. Franz Kleinmüllers Schicksal war besiegelt. Als einer seiner Anwälte ihn von dieser Wendung im Prozess unterrichtete, erlitt er einen Nervenzusammenbruch und musste in die psychiatrische Abteilung des Universitätskrankenhauses Eppendorf eingeliefert werden.

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„Es war doch wirklich eine schöne Beerdigung“, schwärmte Ulrike. „Auch wie gefühlvoll der Pastor gesprochen hat. Einfach ergreifend fand ich das.“

Sie saßen, wie immer zu Dritt, in Elfriedes Wohnzimmer und ließen die vergangenen Stunden noch einmal Revue passieren.

„Ich habe genau so empfunden“, bestätigte die glückliche Witwe, „fast tut es mir schon leid, dass ich einen so wundervollen Menschen ins Jenseits befördert habe.

„Hör sofort auf damit. So darfst du nicht mal denken“, fuhr Louise dazwischen. „Erinnere dich lieber daran wie er dich jahrelang misshandelt hat.“

Sie seufzten einvernehmlich, worauf Ulrike hilfsbereit noch einmal die Schampusgläser auffüllte.

„Sogar sein Chef war da und hat mir sein Beileid ausgesprochen. Dann hat er von dem schweren Verlust für die Firma erzählt. Die haben echt einen großen Kranz gespendet. Was der wohl gekostet hat?“

„Ganz so schlecht war er eigentlich auch gar nicht. Wenn ich da an andere denke.“ Ulrike betrachtete versonnen ihr Glas.

„Fängst du jetzt auch noch an! Ihr seid doch wirklich nichts als…als…da fällt mir nicht mal ein Wort für ein. Nur weil so ein Pope verlogene Sprüche klopft, verändert sich in Euren Köpfen die Realität.“ Louise nahm einen Schluck und prüfte besorgt den gesunkenen Pegelstand in der Flasche. „Und wenn du an andere denkst meinst du sicher deinen ungetreuen Ehemann.“

„Meine ich nicht“, widersprach Ulrike verschnupft, „ich meine deinen ehebrecherischen Ehemann.“ Sie lehnte sich befriedigt zurück, nun war es endlich gesagt.

Louise sah sie erstaunt an. „Du irrst dich. Ich traue ihm alles Mögliche zu. Aber untreu ist er nicht. Warum sollte er? Bei mir bekommt er alles was er braucht.“

„Pah, dann solltest du mal ins Watergate, an den Landungsbrücken, gehen. Da habe ich deinen Göttergatten nämlich neulich gesehen. Mit so einem Marilyn Monroe Verschnitt. Und wenn ich dir sage wie die sich dort aufgeführt hat, wirst du mir das auch nicht glauben. Die hat sich doch tatsächlich im vollen Lokal die Hosen runtergelassen und ihm, da sie darunter nichts anhatte, ihre, ihre, na du weißt schon, gezeigt. Alle Gäste waren empört, aber das schien den Beiden nichts auszumachen. Selbst als ein Ober kam hat die sich nicht wieder angezogen. Das kann doch nur eine Nutte gewesen sein.“ Ulrike holte tief Luft. „Ich sag dir was Louise, Dein Mann ist genau so ein geiles Schwein wie meiner, dieser blöde Sack. Beide stopfen sich voll mit Viagra, berbern in der Gegend rum und lassen den Lover raushängen. Für uns bleibt dann einmal wöchentlich die eheliche Pflichtnummer.“ Sie schluchzte unglücklich. „Und du willst mir nicht mal etwas von dieser Knolle geben.“

Louises Gesicht verhärtete sich zunehmend. „Bist du ganz sicher, dass es Jakob war?“

„Darauf gebe ich dir mein Wort. Du kannst ihn ja selbst fragen.“

„Was hat dich denn in dieses Lokal verschlagen?“

„Meine Nichte hatte mich zu einer Führung durch die Hafencity eingeladen. Da sind wir dann schließlich gelandet.“

Die darauf folgende Stille wurde von Elfriede unterbrochen, die, als einzige unbelastet von derartigen Problemen, ihr Glas erhob und die befreienden Worte sprach: „Lasst uns trinken auf diesen zweiten Watergate-Skandal.“

Dem darauf folgenden Kreischen war nicht genau zu entnehmen ob es auf Begeisterung oder Verzweiflung basierte. Es waren eben Laute, die Frauen produzieren, wenn sie nicht wissen ob sie lachen oder weinen sollen.

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Nachdem sich die beispiellose Hetzkampagne gegen käufliche Politiker im allgemeinen, sowie gegen Hans Jäger und Dirk Kurz im besonderen, durch schwindendes Verbraucherinteresse totgelaufen hatte, leckte man sich in allen politischen Lagern die Wunden.

Was war eigentlich passiert? Die gezielte Stimmungs- und Meinungsmache gekaufter Journalisten hatte Fehlentwicklungen zwischen Politik und Wirtschaft aufgedeckt und zum eigenen Nutzen thematisiert. Nun gut, man würde eben andere Wege beschreiten müssen. Die unbeantwortete Frage blieb jedoch: Wer regierte eigentlich das Land? Eine Regierung, die in freien Wahlen aus einem Parlament hervorgegangen war, die Lobby, wie manche Spötter behaupten oder eine gewinnorientierte Mediendiktatur?

Für Dirk Kurz waren diese Fragen nicht mehr relevant. Nach dem Verlust sämtlicher Ämter und dem Ausschluss aus der SPD hatte er sich ins Privatleben zurückgezogen. Er saß isoliert in seinem Arbeitszimmer und durchdachte neue Perspektiven. Auf seine mündliche Anfrage hatte „Die Linke“ bereits durchblicken lassen, dass sie nach einer angemessenen Zeitspanne, seinen Antrag auf Mitgliedschaft wohlwollend überprüfen würde. Schließlich hätten ja auch sein Vater und Großvater einst in der KPD ihre politische Heimat gefunden. Somit wusste Kurz, dass seine politische Zukunft gesichert war. Er würde diese Provinzdemagogen in Grund und Boden quatschen. Wenn er sich einmal überlegte, welche schwachköpfigen Figuren dort am Ruder drehten, war ihm eine führende Rolle in der Parteispitze so gut wie sicher.

So beauftragte er seine Frau, die ihm zwischenzeitlich als Sekretärin dienen musste, zwei Flugtickets nach Colombo in Sri Lanka zu buchen. Er beabsichtigte dort einen Großteil seiner unfreiwilligen Auszeit zu verbringen um später als braungebrannter, dynamischer Politmanager, schwierige Aufgaben zu übernehmen.

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Als unscheinbare Randnotiz fand Jakob bei Durchsicht der Abendzeitung, die lapidare Mitteilung, dass sich Hans Jäger, früheres Mitglied des Bundestages der CDU, im Arbeitszimmer seines Hauses in Hamburg erhängt hatte.

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Halbwelten

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