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Kapitel 2 – Im Schatten kalter Berge
ОглавлениеHeiseres Kriegsgeschrei erklang, ausgestoßen von kräftigen Nordmännern, die wie im Blutrausch tobten. Mit tödlicher Präzision geführte Schwerter schnellten durch die Luft. Blut spritzte, und Godan, Larkyens Adoptivvater, sank mit zerfetztem Brustkorb zu Boden, wo seine Frau und sein Sohn bereits in ihrem Blut lagen. Larkyens Weib Kara flehte auf Knien um Gnade, bevor auch ihr Leben und das ihres ungeborenen Kindes durch den kalten Stahl ein Ende fand. Larkyen sah in ihre Augen, deren Glanz langsam erlosch.
„Kara ...“, flüsterte er. „Kara ...!“
Hilflos schweiften seine Blicke über die blutigen Leiber.
„Ihr dürft nicht sterben“, flehte er sie an.
Der Tod war etwas Endgültiges. Es gab kein Zurück von dort, und alles was blieb, waren erbarmungslose Schmerzen.
Als Larkyen die Augen öffnete, fand er sich im Schein eines knisternden Kochfeuers wieder, in dicke flauschige Schafsfelle gehüllt. Sein Oberkörper war nackt. Die Wärme der Flammen tat ihm gut, und wenn auch seine Schulter noch schmerzte, fühlte er sich doch besser. Die Luft war von Kräuterduft erfüllt, der tief in seine Atemwege drang. Er stellte fest, dass er im Inneren einer Jurte lag. Jemand flößte ihm heißen Milchtee ein, und Larkyen trank so hastig, das er sich beinahe verschluckte.
„Ruhig“, sagte eine tiefe Stimme. „Du bist noch sehr schwach.“
Larkyen blickte in das vom Wind gegerbte Gesicht eines alten Mannes. Das schlohweiße Haar floss in langen Strähnen unter seiner Fellmütze hervor.
„Ich habe mich um deine Wunde gekümmert“, erklärte der Alte. „Der Pfeil, der dich traf, war vergiftet, die Spitze drang direkt durch deinen Körper, ohne dass der Knochen splitterte. Aber es ist viel Gift in deine Adern gelangt.“
„Wo bin ich. Und wer bist du?“
Der alte Mann kicherte.
„Verzeih, junger Freund, aber wenn man so lange allein lebt wie ich, vergisst man seine Manieren. Du hast Recht, zuerst sollte man sich vorstellen. Mein Name ist Ojun.“
„Du bist ein Schamane, nicht wahr?“
Der alte Mann nickte.
„Du befindest dich am Rande des Altoryagebirges“, erklärte er. „Hier in der Einsamkeit ist mein Heim.“
Ojun lächelte, und Larkyen erkannte in seinen bernsteinfarbenen Augen, dass der alte Mann es gut meinte.
Larkyen tastete seine Schulter ab, deren Wunde sauber verbunden war. Die Schmerzen hatten aufgehört. Seinem Verband entströmte der herbe Duft von Kräutern.
„Mein Name ist Larkyen“, flüsterte er schließlich, „und ich bin vom Stamm der Yesugei.“
„Du hast einen langen Weg hinter dir, Larkyen“, sagte Ojun. „Der Kharasee ist weit von hier entfernt.“
„Woher weißt du ...“
„Du hast im Schlaf gesprochen. Es tut mir leid, was passiert ist. Es muss schlimm sein, die eigene Familie zu verlieren.“
„Es ist sogar die zweite Familie, die ich verloren habe.“ Er spürte, wie die Worte nur mühsam über seine Lippen traten.
„Ich hätte es mir denken können. Dein Aussehen verrät deine westliche Herkunft.“
Larkyen verfiel in Schweigen, ehe er sich dazu überwinden konnte, dem Schamanen seine Geschichte zu erzählen. Er fand, dass er seinem Retter diese Offenheit schuldig war.
„An meine erste Familie kann ich mich nicht mehr erinnern, ich war noch zu klein. Damals wütete in weiten Teilen des Westens ein verheerender Krieg. Meine Eltern flohen mit einem Flüchtlingskonvoi gen Osten. Auf dem Westpass in Richtung der Stadt Dakkai wurden die völlig erschöpften Flüchtlinge von Wegelagerern überfallen. Meine Mutter und ich waren die einzigen Überlebenden. Die Nomaden vom Stamm der Yesugei entdeckten uns und nahmen uns mit. Meine Mutter starb nur wenige Tage danach an ihren schweren Verletzungen, zuvor jedoch hatte sie die Nomaden darum gebeten, sich um mich zu kümmern. Godan und sein Weib Tsarantuya nahmen mich schließlich an Kindes Statt auf. Sie wurden mir Vater und Mutter, und ihr Sohn Alvan mein Bruder. Auch Godan konnte mir nie etwas Genaues über meine Herkunft sagen. Alles was er wusste, war, das ich von jenseits des Altoryagebirges stamme, weit im Westen. Aus einem Abendland, gelegen an der Küste des Grauen Meeres, wo ein Volk mit Namen Kentar lebt.“
„Kentar“, wiederholte Ojun. „Ein Wolfskopf zierte ihre Banner, und die Kunde von ihnen drang sogar bis nach Majunay. Wölfe des Westens, ja, so wurdet ihr Kentaren genannt. Doch die Kentaren wurden in einer gewaltigen Schlacht, die die Welt erbeben ließ, fast vollkommen ausgelöscht. So steht es in den Kriegschroniken von Ken-Tunys.“
„Du hattest Zugriff auf die Kriegchroniken? Wo bekamst du Einblick in diese Schriften?“
„Ich bin im Leben viel herumgekommen, bevor ich schließlich in die Einsamkeit zog. Sei gewiss, dein Volk wird niemals in Vergessenheit geraten.“
Larkyen seufzte, dann sagte er: „Die Kentaren sollen große Krieger, Handwerker und Baumeister gewesen sein. Ich aber spüre nichts davon in mir. Sonst hätte ich diesem grausamen Treiben in unserem Lager am Kharasee ein Ende bereiten können.“
So sehr Larkyen sich auch über seine eigene Wehleidigkeit ärgerte, so tat es doch auch gut, alle Zweifel und Bedenken offen auszusprechen. Der alte Schamane erweckte bereits nach so kurzer Zeit den Eindruck, ein verständnisvoller Mann zu sein, dass es Larkyen nicht schwer fallen würde, offen mit ihm zu sprechen.
„Das Leben in der Steppe ist derzeit grausam“, sagte Ojun. „Boldar versetzt ganze Landstriche in Angst und Schrecken, er hat bereits viele Sippen ausgelöscht, und es gibt niemanden, der stark genug ist, um es mit ihm aufzunehmen.“
Larkyen sah lange Zeit in die Flammen, dann sagte er: „Ich sah, wie er das Blut eines Toten trank.“
„Die Kunde von Boldar der Bestie ist sogar bis zu mir gedrungen“, sagte Ojun. „Das Blut seiner Feinde verleiht ihm die Macht, die er braucht, um jedem seiner Gegner überlegen zu sein.“
Larkyen richtete sich auf, und die Lederhose klebte an seinen Oberschenkeln. Seine Knie fühlten sich weich an, und er drohte im nächsten Moment zu Boden zu sinken.
„Nicht so hastig“, sagte der Schamane und versuchte ihn zu stützen, doch Larkyen winkte lächelnd ab.
„Es geht schon.“
Unweit seines Liegeplatzes fand er sein Hemd und streifte es sich über. Anscheinend hatte der Schamane versucht, das Blut aus der Wolle zu waschen. Noch immer zeugte ein blasser rotbrauner Fleck um das Pfeilloch von der Verwundung.
Mit kleinen Schritten trat er aus der Jurte hinaus in die Nacht und spürte den beißenden Hauch der frischen Luft, die seine Erschöpfung zum Verschwinden brachte. Der Himmel war sternenklar, und der Mond leuchtete. Ein eisiger Windstoß blies Larkyen ins Gesicht.
Nur unweit von Ojuns Jurte waren an einem hölzernen Pfahl drei Pferde festgebunden; eines davon war das von Larkyen. In der Dunkelheit zeichneten sich die Umrisse schlafender Schafe und Ziegen ab, und ganz in der Nähe plätscherte ein Bach.
Larkyen sah hinaus in die Ferne.
Der Mondschein zauberte auf die mit Schnee bedeckten Bergspitzen ein kühles Blau.
„Ich muss wahrlich sehr weit geritten sein“, murmelte Larkyen.
Ojun trat zu ihm.
„Vom Kharasee benötigt ein Reiter bei guter Gesundheit zwei volle Tage“, erklärte er. „Dein Pferd hat gut daran getan, dich zu mir zu bringen, denn ich bin hier oben weit und breit der einzige Mensch.“
„Was treibt einen alten Mann in eine so einsame Gegend? Ein Schamane sollte bei seinem Stamm bleiben und den Menschen Hilfe und Beistand bieten.“
„Das ist eine lange Geschichte, junger Larkyen“, sagte Ojun. „Zu lang für diesen Moment. Gerne jedoch erzähle ich sie dir ein anderes Mal. Du aber solltest dich weiter ausruhen.“
Larkyen schüttelte den Kopf.
„Mir gehen diese Bilder nicht mehr aus dem Kopf“, flüsterte er. „Wie die Kedanier meine Leute töteten. Sobald ich die Augen schließe, sehe ich Blut in Strömen fließen, und ich sehe ihre Köpfe, wie sie über den harten Boden rollen. Ich sehe den Leichnam meines Weibes, den leeren Blick ihrer Augen. Und ich konnte nichts tun, konnte nichts daran ändern.
Ich glaubte einmal zu wissen, was es heißt, ein Nomade zu sein. Seit ich denken kann, bin ich mit den Yesugei durch die Steppenlandschaft Majunays gezogen, vom Kharasee bis zum Fluss Nefalion weit im Osten. Ich war immer an ihrer Seite, kümmerte mich um das Vieh und lernte, ein guter Reiter zu werden. Doch all meine Anstrengungen waren umsonst, weil ich ihnen in der schwersten Not nicht beistehen konnte.“
Larkyen war sich im Klaren darüber, dass so vieles aus seiner Vergangenheit ihm nicht mehr von Nutzen sein konnte. Was hieß es jetzt noch, ein Nomade zu sein? Die Nomadenstämme in ihrer Friedfertigkeit glaubten, dass die Steppe mit ihren unendlichen Weiten für alle genug Platz zum Leben bot. Konflikte mit anderen Stämmen waren ihnen, die die Nähe von Fremden stets gemieden hatten, so gut wie unbekannt. Zweifellos war das Leben in der Natur ein Ringen und Kämpfen gegen ihre Widerstände. Anpassung konnte über Leben und Sterben entscheiden. Ein Nomade maß seine Kräfte lediglich mit den Jahreszeiten, die ihm vertraut waren wie sonst keinem. Doch egal, wie sehr Witterung und schwere Arbeit einen Nomaden abgehärtet hatten, so schien es doch, dass die gegenwärtigen Tage nur denen gehörten, die Erfahrung im Kampf mit dem kalten Stahl hatten.
Die Zeit des Krieges gehörte den Kriegern.
Larkyen trat ein paar Schritte hinaus in die Dunkelheit, atmete tief durch und starrte lange und nachdenklich in die Nacht. Ojun, der ihm nachgegangen war, legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter und sagte:
„Die Dunkelheit der Nacht lässt unsere Sorgen und Nöte mitunter so gewaltig erscheinen, dass sie uns erdrücken können.“
Trotz seiner langen Einsamkeit konnte der Schamane die Gefühle eines Menschen noch gut nachvollziehen.
Larkyens Wunsch, das Leben eines Nomaden wieder aufzunehmen, war unendlich groß, doch er würde sich nicht erfüllen, das wusste er.
Die Realität war ein Ort von unermesslicher Härte, der nur durch gute Erinnerungen Einhalt geboten werden konnte.
Er rief sich das Gesicht seiner Adoptivmutter Tsarantuya vor Augen, ihr gütiges und fürsorgliches Lächeln, stellte sich die tiefe und markante Stimme seines Adoptivvaters Godan vor, wenn er nach ihm rief. Die langen Ausritte mit Alvan durch die weite Steppe, zu den Herden der wilden Pferde. Doch der Mittelpunkt all dieser Momente war stets Kara.
Larkyen überlegte, wie es wohl gewesen wäre, das gemeinsame Kind im Arm zu halten, wie dessen kleine Finger nach seiner Hand tasteten. In das junge Antlitz zu blicken, um darin einen Teil von sich selbst wiedererkennen zu können. Wie alle Väter wollte er Vorbild sein und sein Kind bis ins Erwachsenenalter begleiten. Larkyen hatte all das zurückgeben wollen, was er selbst durch die liebevolle Fürsorge seiner Adoptiveltern erfahren hatte.
Es hatte sogar Tage gegeben, an denen er sich das große Abenteuer gewünscht hatte. Nun steckte er mittendrin und trauerte um den friedlichen Alltag und die Menschen, die mit ihm ihr Ende gefunden haben.
„Larkyen“, sagte Ojun. „Begib dich in die Jurte; frei von Unruhe und Sorgen sollst du diese Nacht sein. Ruhe dich auf den Fellen aus und schlafe.“
Vielleicht hatte der alte Schamane Recht. Schlafen schien in diesem Moment die beste Lösung zu sein. Schlafen, um aufzuwachen und festzustellen, dass alles nur ein böser Traum gewesen war.
Er ging zurück zu der Jurte. Bevor er eintrat, drehte er sich noch einmal zu dem alten Mann um und verbeugte sich tief, wie es im Osten der Welt Brauch war.
Sein Schlaf in dieser Nacht war tatsächlich frei von Sorgen und bösen Träumen.
Der folgende Tag war sonnig und angenehm warm. Der Sommer zeigte sich noch einmal in voller Pracht.
Larkyens Leib schmerzte innerlich, so als würden hunderte glühende Nadeln seine Eingeweide bearbeiten. Noch immer floss das Gift in seinen Adern, und die Wunde unter seinem Verband war geschwollen und blau angelaufen. Ganz gleich, wie groß die Pein war, er stieß nicht einen einzigen Schrei aus. Ojun bestrich die Wundränder mit einer Essenz aus herb duftenden Kräutern, darüber legte er einen neuen Verband an.
Auf Geheiß des Schamanen schonte Larkyen seine Kräfte noch, indem er die meiste Zeit auf seinen Fellen in der Jurte lag, oder wenn es ihm zu heiß wurde, draußen in der Sonne vor sich hin döste.
Ein Stück entfernt von der Jurte befand sich eine Feuerstelle mit knisternden Holzscheiten. Wenn er wach war, ließ er sich manchmal auch dort nieder. Dann blickte er in die Flammen. Wieder einmal gab er sich dabei Gedanken an Kara hin. Die einzige Frau, die er je geliebt hatte.
Es hatte eine Weile gedauert, bis auch der Stamm der Yesugei ihre Liebe anerkannt hatte. Und durch die Zustimmung zu ihrer Vermählung hatten die Yesugei mit einer alten Stammestradition gebrochen, die besagte, dass die Liebe einer Majunayfrau auch nur einem Majunaymann gehören darf. Nie zuvor hatte es eine Vermählung zwischen einer Nomadin und einem Kentaren aus dem Westen gegeben. Alles nur weitere Erinnerungen.
„Hast du denn nichts für mich zu tun?“ fragte er den Schamanen, der soeben ein dreibeiniges Metallgestell über den Flammen aufbaute und einen mit Wasser gefüllten Kessel daran aufhängte.
„Du musst dich erholen“, antwortete Ojun.
„Viel eher muss ich mich ablenken.“
„Ich verstehe, dass dir deine Lage nicht gefällt. Doch dein Körper benötigt alle Kräfte, um das Gift in dir abzubauen.“
Der Schamane hatte am Morgen eines der Tiere geschlachtet und bereitete nun das Fleisch zu, ehe er es zum Kochen in den Kessel gab. Nach einiger Zeit schwängerte der kräftige Geruch von Schafsfleisch die Luft.
Der Tag schien kein Ende zu nehmen. Larkyen war froh, wenn der Schamane ihn abermals in tiefem Schlaf versinken ließ.
Beim morgendlichen Verbandwechsel sah die Verwundung noch immer beängstigend aus, auch wenn die Schwellung deutlich zurückgegangen war.
„Ich spüre bereits, wie es mir besser geht“, stellte Larkyen fest. „Es tut nicht mehr allzu weh.“
„Du hast deine leiblichen Schmerzen bisher gut unter Kontrolle gehabt. So viel steht fest. Du bist ein zäher Bursche. Und die Heilkräuter tun ihr übriges und entfalten ihre Wirkung, aber deine vollständige Genesung wird dennoch einige Zeit brauchen.“
„Du hast viel für mich getan, Schamane. Genesung hin oder her. Lass mich bis dahin tun, was ich kann, um meine Schuld bei dir zu tilgen.“
„Du schuldest mir nichts“, gab Ojun trotzig zurück. „Und du solltest in deinem Zustand auch nicht übermütig werden.“
Und als der Schamane ihn daraufhin beschämt anblickte, fügte Larkyen rasch hinzu: „Du darfst das Angebot eines Yesugei nicht abschlagen, Schamane. Du würdest mich damit beleidigen.“
„Eigentlich solltest du dich noch ausruhen. Aber es geht dir wirklich um ein Vielfaches besser. Dann mach dich eben nützlich, du Sturkopf. Aber denk auch an deine Wunde, und dass du noch schwach bist und …“ Ojun winkte ab und schüttelte den Kopf. „Du weißt es ja doch besser“, grummelte er.
Larkyen lächelte.
Der Schamane machte zunächst keinerlei weitere Anstalten, Larkyens Hilfsbereitschaft auch wirklich in Anspruch zu nehmen. Irgendwann jedoch schickte er ihn in den Wald, um Feuerholz zu sammeln. Larkyen war froh, sich endlich nützlich machen zu können. Er genoss es, zwischen den Bäumen umherzugehen, und sah sich neugierig in ihren Kronen um. Er entdeckte Vögel, denen er in der Steppe niemals begegnet war, und lauschte ihrem Zwitschern. Als er mit dem Feuerholz zurück zu der Jurte kam, spürte er, wie Schwäche ihn übermannte und seine Knie weich wurden. Der Schamane bemerkte es sofort und eilte ihm entgegen.
„Unbelehrbarer Kerl, ich habe es dir doch gesagt.“
Larkyen sank zu Boden, die Welt verschwamm vor seinen Augen, und er hielt sich den Kopf. Ojun bereitete ihm einen heißen Aufguss aus Kräutern in einer Holzschale und gab ihm davon zu trinken. Der Trunk roch ähnlich stechend wie die Kräuter unter seinem Verband, doch kaum hatte Larkyen davon getrunken, spürte er, wie seine Schwäche ihn verließ.
So nahe am Gebirge schlug das Wetter schnell um. In feinen Fäden prasselte der Regen herab und weichte den Boden auf, während sich über das Tal ein blasser Regenbogen spannte. Alles in Majunay, das Land, die Erde, der Himmel und das Rauschen des Windes, erinnerten Larkyen an diesem Tag an die Vernichtung seines Stammes und ließen sein Herz fast zerspringen. Der Schmerz des Verlustes traf ihn stärker als an den Tagen zuvor; vielleicht begriff sein Verstand erst jetzt so richtig, was ihm widerfahren war. Und er sehnte sich nach einer Rechtsprechung, die ihm wahrhaftige Genugtuung bereiten würde, doch die Menschen mit ihren Gesetzen und Gerichten lebten in Städten, und in der Steppe regierte einzig und allein das Gesetz der Natur. Was konnte jemand wie er hier draußen schon ausrichten? Er war unbedeutend im Verlauf der Geschichte Majunays, und so wie ihm war es schon vielen ergangen. Je länger er nachdachte, umso klarer wurde ihm, dass es zwei Wege gab, zwischen denen er sich entscheiden musste.
Der eine war der Weg der Rache, der Stärke und Gnadenlosigkeit forderte und nach dem Herz eines Kriegers verlangte. Der andere Weg jedoch war der Ritt nach Kentar, der Heimat seines Volkes im Westen. Schätzungen zufolge lag Kentar 200 Tage zu Pferd von Majunays westlichster Grenze entfernt. Es waren die enorme Entfernung, sowie die Liebe zu Kara und zu seinen Adoptiveltern, die Larkyen in der Vergangenheit davon abgehalten hatten, dieses Wagnis einzugehen. Jetzt aber gab es nichts mehr, was ihn noch in Majunay hielt. Und nach seiner Genesung, schien der Ritt nach Westen das einzig Vernünftige.
Als er dem Schamanen von seinen Plänen berichtete, wirkte Ojun einen Moment lang enttäuscht.
„Bleib wenigstens so lange, bis deine Wunde einigermaßen verheilt ist“, sagte Ojun. „Der Verband muss noch immer täglich gewechselt werden. Ich verstehe gut, dass du fort willst, um woanders einen Neuanfang zu versuchen. Nur wenn du zu früh los reitest, wirst du nicht fähig sein, dich lange im Sattel zu halten.“
In der Nacht wälzte Larkyen sich unruhig auf seinen Fellen hin und her. Immer wieder wechselte er zwischen Traum und Wachzustand.
Plötzlich sah er das Gesicht Boldars ganz dicht vor sich. Das eine Auge funkelte ihm stahlblau entgegen. Blut rann von den Mundwinkeln der Bestie, die ihr Maul weit aufriss und einen donnernden Schrei ausstieß.
Daraufhin sah Larkyen, wie sein Weib Kara blutüberströmt neben die Leichen von Godan, Tsarantuya und Alvan zu Boden fiel …
Seine Finger krampften sich zusammen, und er fühlte, wie sie sich um den Griff eines Schwertes schlossen. Er war ein anderer Mann als zuvor. Es gab keine Furcht, keine Selbstzweifel. Kraftvoll holte er zum Schlag aus, eine vertraute Bewegung für ihn.
„Ich töte dich“, zischte er. „Boldar, du sollst sterben!“
Stahl traf auf Stahl, das Klirren erinnerte an eine Melodie, der er nur zu gern lauschte.
Larkyen schreckte aus dem Schlaf hoch. Sein Atem ging hastig, und sein Herz hämmerte. Tränen rannen über seine Wangen.
Geheiligt ist die Rache, denn sie reinigt Leib und Seele, durchfuhr es ihn.
„Larkyen!“
Ojuns Stimme drang zu ihm herüber. Der Schamane hatte sich auf seinem Schlafplatz aufgerichtet. Seine Gestalt zeichnete sich blass und hager vor dem fast heruntergebrannten Kochfeuer ab. Mit unruhigen Augen sah er Larkyen an.
„Schlechte Träume?“
Larkyen nickte, er wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Vom Verstand her willst du den Weg nach Westen wählen“, ahnte Ojun, „Dein Herz aber drängt dich dazu, in Majunay zu bleiben. Und nur wenn du auf dein Herz hörst, wirst du Frieden erlangen.“
„Die Götter seien meine Zeugen“, flüsterte Larkyen. „Wenn ich stark genug wäre, ich würde diese Bestie töten und alle, die ihr folgen.“
Ojuns Augen weiteten sich.
„Vielleicht wirst du das eines Tages“, meinte der Schamane, und etwas in seinem faltigen Gesicht verriet Larkyen, das er viel mehr wusste als es den Anschein hatte.
„In der Natur gibt es immer einen, der stärker ist. Es ist ein Gesetz, das für alle gilt.“
Larkyen hatte die Hände zu Fäusten geballt.
„Aber Boldar ist der Stärkste, alter Mann. Niemand hat ihn bisher besiegt.“
Ojun musterte Larkyen eine Zeit lang, dann sagte er: „Morgen werden wir darüber reden. Doch nun schlaf weiter. Ruhe und Frieden sollen dich erfüllen.“
Als würde sich eine beruhigende Kraft über ihn legen, verfiel Larkyen fortan in einen ruhigen Schlaf. Abermals träumte er von Kara, die ihm dieses Mal ein gütiges Lächeln schenkte, während ihre Lippen sich zu liebevollen Worten formten. Und er träumte von den Yesugei, wie sie draußen in der Steppe das Vieh hüteten. Alle waren wohlauf und am Leben, alles war gut.