Читать книгу Hurra, wir dreh’n uns noch - Uwe Törl - Страница 8
ANHALTINISCH-OSMANISCHE FROHLOCKUNG
Оглавление(Kannst es auch sehen, was du da liest,
wenn beim Lesen, deine Augen du schließt.)
„Sind sie mit einer Alkoholkontrolle einverstanden?“, wollte doch tatsächlich dieser uniformierte Landstraßenbeamte von mir wissen.
Es lief eben zu gut. Die letzte Arbeitswoche für das Jahr, die so gut lief, dass ich gegen zehn in der Früh, an diesem Mittwoch schon los konnte. Erst ein wenig stockend bis zur A2, doch dann, auf der Warschauer Landstraße erstaunlich gutes Vorankommen. Sicher, der ein oder andere Auffahrunfall mit ’ner Ente voran. Und das viele Blaulicht Höhe Marienborn, welchem sich in etwa auf zwölf bis fünfzehn Kilometer Länge in dreispuriger Breite ein undurchdringliches Sammelsurium an Blech und zwei Stück Pappe (wie auch immer diese es auf die dritte Spur geschafft hatten – auf jeden Fall inhalierte ich bei 150 am offenen Fenster Erinnerungen) auf Rädern anschloss. Zum Glück in entgegengesetzte Richtung. (Was fahr’n se och alle in Westen!) Und natürlich der schon chronischen Platten am Vierzigtonner, welcher auf der 14 von zwei auf einspuriges Einfädeln zwang. Doch hob es mich nicht weiter an, war die Abfahrt Peißen doch schon in Sicht und somit in befahrbarer Nähe.
Zwei Stunden von Wolfsburg bis hier. Na wenn das nicht läuft heute, wann dann? Ja gut, wird jetzt der ein oder andere Streckeneinheimische einwerfen wollen. Was lief da jetzt gut? Ich könnte ja nun diesem schon greisen Blechvehikel, was ich mein Eigen nenne, die einzig Schuld in die Radkästen schieben. Doch lag da, wenn ich erwähnen darf, hinterhältig Helmstedt im Weg. Currywurst-Pommes-Bahnschranke, großer Kaffee mit acht Stück Zucker – nur nicht umrühren. (Die Pointe hierzu lass ich weg. Kennt ja eh jeder von dem Umgerührten.) Und zu guter Letzt ’ne große Cola ohne Eis. War so schon kalt genug den Tag. Das alles war nicht nur einigermaßen genießbar. Ich war auch satt, oder nennen wir es besser – zufrieden!
Nun wird sich der Trucker truckende Ureinwohner zu Wort melden und wissen wollen: „Was macht da, wenn auch nur zufrieden, satt?“ Das kann ich verraten. Ich hatte zu den Bahnschranken-Pommes eine zweite Currywurst. Sonst noch Fragen? Den Kuchen zum Kaffee, obwohl die Streusel, was selten, gesegnet mit einer Konsistenz von weichem Keks, muss ich nicht unbedingt hervorheben. Vielleicht ein Wort zum Boden – ein prima Schweißtuch für die Reise!
Nun will ich ja nicht nur vom Essen berichten. Auf dem Weg zum Auto, wo mir ein Waffeltüteneismoor den Weg versüßte. So kalt war’s auch wieder nicht. Dachte ich mir so, so gut wie das heute läuft. Das läuft so gut, da kannste auch noch den ein oder anderen Weg erledigen. Schließlich rückt das nächste Großereignis, wo Mann wie fremdgesteuert mit Geschenken nur so um sich schmeißt (ein Witz), in greifbare Nähe. Ich hatte also den Nachmittag, den Donnerstag, Freitag und den Sonnabend, um Präsentetechnisch noch etwas zu reißen. Wobei, Sonnabend? Sonnabend geht schon mal gar nicht. Was soll ich meiner Tochter und ihrer Mutter, was meine Frau, erzählen, wo ich wohl hin wolle. Na gut, unsere Tochter wird noch nicht da sein, das Wochenende. Bleibt aber immer noch meine Frau, welche ich schon am offenen Fenster seh und hör krächzen: „Wo willst du denn jetzt noch hin?“ „Tanken“, wird mir vermutlich einfallen. Schon mehrfach erprobt, gleich beim ersten Mal durchschaut. Ist auch so ziemlich das Einzige, was ich spontan in solch überführter Situation erschrocken, ohne Sprachfehler aneinanderzureihen, rausbekomme. Wäre noch der morgige Donnerstag. Nur ist der Morgen des morgigen Donnerstags schon verplant. Bis das alles erledigt ist, was erledigt werden muss, ist weit nach Mittag, wenn ich alles erledigt hab, was zu erledigen wär’. Weil, wenn ich das nicht gleich erledige, was da noch zu erledigen ist, dann wird das, wenn überhaupt, erst zwischen den Jahren erledigt. Und da hab ich mitnichten Lust Dinge zu erledigen, welche mit meiner Arbeit zu tun haben. Da will ich Sachen machen, die Spaß machen. Zum Beispiel könnte ich einen Schneemann bauen. Ist doch Winteranfang am Übermorgen und im Winter schneit’s! Ich könnt das auch sein lassen. Denn wann hat es das letzte Mal die ersten Wintertage geschneit? Wie dem auch immer: Der Donnerstagnachmittag ist zu knapp, meine Frau hat Frühschicht, kommt dementsprechend zeitig nach Hause. Wäre also noch der Freitag. Nur, so wie ich meine Frau kenn, hat sie diesen schon verplant. Was also bleibt? Genau, es bleibt nicht viel! Genaugenommen bleibt nur noch der Nachmittag. Die Betonung liegt hierbei auf der(!) Nachmittag. Am besten jetzt und im Idealfall sofort! Naja, wenn’s einmal läuft, dann läuft’s.
Nur dass das nicht die Zeit ist, die man bräuchte, um für eine junge und, sagen wir mal, nicht mehr ganz so junge Frau das Besondere zu finden. Wobei: Zu finden ist so nicht richtig. Weder bin ich auf der Suche, noch will ich was finden. Es muss mich finden! Es muss mich anspringen, dass ich nicht anders kann und es gar nicht anders mehr geht und ich es mitnehmen muss. Und siehe da, in einem Einkaufszentrum nahe dieser Randanhaltinischen Großstadt(?) sprangen mir tatsächlich für meine beiden Frauen zugunsten ihrer beider Ohren Ringe direkt ins Auge. Ausgerechnet vor einer osmanischen Zirkuszeltimitation, am Rand eines kleinen Weihnachtsmarktes, welcher mit vielerlei Licht in bunt und unnütz-alberner Deko in das Atrium dieses Konsumtempels eingearbeitet. Hätte ich nicht damit gerechnet, dass meinen beiden dieses Glück hold und mir selbst noch irgendetwas meinen Sichtwinkel erhellt. Erhellt – wie untertrieben. Es blendete regelrecht mein Augenlicht aus dieser drehbaren Kreolen-Vitrine heraus. Im reinsten Silber waren sie mit diesen sündhaft teuren Juwelen nicht zu übersehen. Doch gönnt man sich sonst nichts. Zumal es eh das letzte Mal wär, dass ich mich in so unangenehme Unkosten stürzte. Geht doch, wenn man den Majanesen Glauben schenken darf, am Freitag (was dann wie schon festgestellt Übermorgen) die Welt unter. Hat hier jetzt so noch Niemand für voll genommen. Alles andere als Endzeitstimmung. Stattdessen dröhnte „Morgen Kinder wird’s was geben“ aus dem Lautsprecher von dem kleinen Kleinkind-Kettenkarussell, welches mittig auf diesem türkisch angehauchten Weihnachtsmarkt stand, durch die Einkaufshallen. Was wird es denn da morgen wohl wollen geben? Im schlimmsten Fall unser aller Ende! Davon lass ich mir doch nicht den Tag versauen, so gut wie das an dem Tage lief.
Die bunte junge Frau, welche sich hinter dem Tresen stabilisierte … Halt, nein, ich muss das erklären! Genaugenommen waren es zwei und beide hatten für diese Veranstaltung die komplett falsche Kostümierung. Auch wenn diese eine der beiden Schmuckwarenverkäuferinnen mindestens einen ganzen Kopf größer, hatten sie doch etwas von nicht-eineiigen Zwillingen. Was der einen ein gestreckter Irokese in Regenbogen über ultrakurz gemähte grüne Stoppeln, überdeckelte der Kürzeren rechtes Haupt ein nachtschwarzer Scheitel, welcher streng nach hinten gezurrt in einem geflochtenen Zopf nach zirka dreißig Zentimetern sein jähes ausgefranstes Ende fand. Die andere, die linke, Schädelseite lag bis auf eine grimmig dreinblickende Maus, welche sich als Tattoo durch die Schädeldecke ins Freie fraß, blank. Der dazu passende Schmuck, der das visuelle Antlitz beider bereicherte, zeugte von Kreativität und war so gar nicht der eigenen Auslage Herkunft. Hing der Fräulein Irokese der Halbjahresverbrauch eines ausgewachsenen Großvaters an Rasierklingen nebst abgebrochener Näh- und Stopfnadeln aus dem Gesicht, baumelte der Gruftine ein nicht geringer Teil eines Metallbaukastens vom Haupt. Einzig einig waren sie sich bei den Sicherheitsnadeln, welche vom linken Ohre tropften. Am rechten baumelte zusätzlich, außer etwas Altmetall, eine daumengroße Vodoopuppe. Witziger Weise ähnelte diese der jeweiligen Freundin. Auf Schminke wollte das Duo natürlich auch nicht verzichten. War der Punkine die ganze bunte Vielfalt eines Schulmalfarbkastens behilflich, stand Nosferatus femininem Ebenbild die eingeschränkt-abstrakte Farbenwelt des Schwarzweißen in Gänze zur Seite. Vollendung fand das Gesamtbild beider, in der wohlgewählten Kostümierung. Eingeschnürt bis Oberkante Hals in schwarzes Leder, hing der kleinen blassen eine weise Rüschenrosette aus dem gen Nord gekrempelten Kragen. Gleiches zeigte sich aus beiden Ärmeln. Zirka einen viertel Meter unter den kurzen Hosen endeten ihre Schnürstiefel. Diese, wie alles andere an ihr, farbig analog abgestimmt. Was auch sonst!
Bei der Bunten – wie nicht anders erwartet – bunt in fast allen Farben. Eine schon übertrieben-dezente Mischung aus Flower Power und den Kellys Mitte der Neunziger. Nur nicht so zugeknöpft wie die kleine Gruftine. Offenherzig präsentierte sie ihr noch im Wachstum befindliches Dekolleté, auf dem sich eine starkbehaarte Tarantel auf dem Weg befand, sich zwischen den noch leeren Milchtüten zu verstecken. Derselbe grimmig dreinblickende Gesichtsausdruck wie schon bei der Maus verriet die Kunst und das Geschick eines Fachkundigen Tattooteurs.
Also wie schon erwähnt, die junge bunte Frau, welche mich, außer dass sie die Schmuckstücke noch weihnachtlich schick eintütete, zu diesem Einkauf fast überschwänglich beglückwünschte, musste noch kichernd erwähnen, dass diese beiden Stücke einmalig seien. „Unikate“, wie sie mir versicherte: „Weil, wie sie sehen, sehen sie diese nicht mehr. Würden sie jene aber noch hängen sehen, hier irgendwo, dann würden sie diese Jenen doppelt sehen und hätten somit was an Augen.“ Dazu schenkte sie mir ihr schönstes Lächeln, was ein Zahnarzt mit Hilfe von Draht und Epox hatte versucht so gut wie es ihm eben möglich, intern beisammenzuhalten. Die dazugehörige Glühweinfahne mit einem Hauch abgestandenem Amaretto verriet eine schon länger anhaltende Weihnachtsstimmung. Ja, dachte ich mir, die Mischung macht’s.
Ich wollte mich darüber nicht aufregen. Ist Übermorgen doch eh Schluss, vielleicht. Und ein Schnäppchen hätt ich wohl auch gemacht, wie sie mir in ihrem Jingle-Bells-Modus versicherte. Dazu zeigte sie ein letztes Mal ihre Zahnspange und wünschte mir schon mal vorbeugend:
„Happy New Year!“
„Wie belieben?“
„Nen’ guten Rutsch noch!“
„Dito!“
„Häh?“
„Auch!“
„Aha hahaha!“, lachte sie albern.
Die Kleine minder farbenfrohe Freundin hatte bis jetzt noch kein Wort gesprochen. Doch wie ich sie ansah, schien sie sich von mir genötigt. Ich erschrak vor zwei gelben … oder eher grauen – nein, doch mehr gelben Zahnreihen. Oder? Ich weiß auch nicht so recht. Wenn ein Schimmel auf einer weit abgelegenen Koppel umfällt, tot. Also tot umfällt im Sommer und wird, so in etwa übern Daumen, vielleicht acht Wochen vergessen … Was wollt ich jetzt, …? Egal!
„Wir sehen uns auf der anderen Seite!“ Ich erinnerte mich eines ehemaligen Kameraden, der die Unsitte beherrschte, eine Büchse Scomber Mix mit seinen Zähnen zu öffnen. Jedenfalls antwortete ich verdutzt fragend: „Auf der anderen Seite?“
„Genau …“, raunte sie geheimnisvoll, als wenn man ihren Gaumen mit Sandpapier tapeziert hätte. Unheimlich würde es jetzt werden, würde die Kerze, welche ein zum Teelichthalter degradierter giftgrüner Drache auf dem Tresen trug, von einem plötzlich durchrauschenden Windzug ausgeblasen.
Nach diesem Zusammentreffen mit der doch etwas anderen Art, zog es mich weiter. Der Reihe nach rum, war ich doch wirklich neugierig, was es in diesem weihnachtlichen Zirkuszelt-Rondell noch so zu bestaunen gab. Auch wenn ich hatte, was mich fand, zog dieser eigenwillige Weihnachtsmarkt magisch an. Zehn Stück dieser Osmanischen Feldunterkünfte, welche eine Bühne am Kreolen-Zelt beschloss, tummelten sich großzügig ausgerichtet um das kleine schon erwähnte Kinderkettenkarussell. Auf dessen Spitze ein Derwisch, der bei jeder Fahrt mit wehendem Rock wie wild sich drehte. In den Zelten präsentierte sich nicht nur die Auslage, sondern auch gleich der scheinbar nur noch aus Resten bestehende Lagerbestand gewinnbringend. Öffnete man weit die …? Türen waren es ja nicht. Doch wenn ich sage: „Mach auf das Tuch, den Vorhang weit!“, weiß man doch was ich meine? (Dann ist ja gut. Denn als zweiflügelig-aufklappbare Zeltlappen wollte ich diesen Einlass nicht betiteln. Wer weiß, wie der muselmanische Sponsor dieser mit Mondsichel bestückten Campingbehausungen auf solches reagiert?)
Und in jedem dritten Zelt duftete es nach Jasmin wie aus Tausend und einer Nacht. Roch es nach fremdartigen Gewürzen orientalischer Welten, … Sollte man zumindest glauben. Stattdessen hing das Aroma eingeschlafener Füße eines (vielleicht) Exbürgermeisters von Istanbul, welcher sich zum Ministerpräsidenten empor terrorisiert hatte, in der Luft. (Ein Typ, welcher mit den Mitteln von heute noch in der Welt von Konstantinopel sein eigen Volk von oben herab zu seinem Gunsten in die Knie regieren wird. Wenn dieser geldgeile Sack so weitermacht, zum Gespött ganzer Kontinente, wenn ich mal orakeln darf. Der Kim Jong-Unsinn vom Bosporus.) Zurück zu den Aromen dieses eigenen Universums. Gleich in Zelt drei, nachdem ich Nummer zwei, welches voll mit Spenden von Waldorfschülern … nein, noch mal … welches bis unters Dach voll von Spielzeug- und Kleiderspenden von Waldorfschülern, hatte ich ausgelassen, entkam dem Dritten ein Odeur von Weihrauch und Myrre. Das muss es sein, das heilige Zelt vom osmanischen Weihnachtsbasar. Krippen, Engel, Kreuze und alles in Groß und Klein. Und aus allen Ecken räucherte und qualmte es nur so vor sich hin. Doch irgendwie war ein Geruch dazwischen, der so gar nicht passen wollte. Selbst der junge Verkäufer, dessen Teint nicht unpassender konnte sein, verriet die Rasta-Matte den versteckten Irrtum.
„Na Bruder, wat kann ick dir judet tun?“, erkannte er mein fragendes Gesicht. Überrascht sehe ich den strahlenden Rastaman an. Überhaupt schienen alle die an seinem Zelt, wenn auch nur kurz, hängen blieben, seltsam zu strahlen. Nur nicht dieses Trio an Betreuerinnen, von denen die ersten beiden jeweils gelangweilt einen Opi im Rollstuhl vor sich herschob, bei der dritten henkelte eine Omi am Arm und schien irgendwelche Mantras vor sich her zu murmeln. Oder sie lutschte noch ein Stück Sättigungsbeilage von der mittäglichen Suppe. Weil Zähne waren nicht erkennbar. Da dachte wohl der Opi der zweiten Betreuungskraft: „Drifte ich doch mal eben zu Rasta ab.“ Doch war die Chauffeurin auf der Hut und bemerkte den leichten Kurswechsel sofort. „Falsches Zelt, Opa Wilbur. Sie wollten was für ihren Enkel, aber bestimmt nicht für ihren albernen Glauben!“ Opa Wilbur knurrte: „Das wollte die Daggema!“, missmutig von seinem Platz, dass sich sogleich vorderste Kraft ungefragt einklinkte: „Hör i da uane antiwoaihnachtliche Stimmung, Opa Wilbur? Schön auf die Bärbel hören!“
„Daanke Schwester Daagmaar!“ Der angeätzte Klang in Bärbels Stimme verriet die Beliebtheit Dagmars. Und beim Opa war sie eh durch: „Für dich immer noch Herr Wilbert! Schwester Daggema aus Austria!“
„Noa, wer wird’s denn da glei fürchterlich, Opa Wilbur?“, lies die Daggema ihre schon grenznahe Nord-Salzburger Herkunft raushängen: „Singen mir besser ah Lied. Mechte Mutter Piepe anstimmen? Faih uane olde woaihnachtliche Woaise?“
Was Wilbur veranlasste: „Ihr habt doch ’ne Meise!“, und der Türke vom kleinen Kinderkettenkarussell freundlich rüber rief: „Lanet yabancilar!“
Ungeachtet Wilburs Feststellung stimmte die am Arm von Bärbel gestützte Frau Piepe, welche nur darauf zu warten schien, auch schon an: „Oh es riecht gut, oh …“ Oh Gott, es war grausam!
Mit ohne Zähne konnte man bestimmt viele Sachen machen. Lesen und schreiben zum Beispiel. Vielleicht auch noch reden und zuhören, ganz bestimmt. Doch ohne Zähne mit circa Mitte neunzig und einem weichgelutschten Brotkanten zwischen dem statisch gestörten Zahnfleisch singen? Nein, das geht … definitiv nein! Was der Oma außer hörbar auch sichtbar egal war. Hingebungsvoll strapazierte sie ihre nähere Umwelt. Zumindest reichte es für Rasta über Waldorf bis hin zur Punkine, was das Kleinkindkettenkarussell, welches sich mit einer osmanischen Volksweise hilflos zur Wehr setzte, mit einschloss. „Spinnt doch, Deutschen ihr!“, konnte sich der westkurdische Kartenkontrolleur einen Kommentar nicht verkneifen und machte dazu ein Gesicht, als hätte ihm die Omi mit verschütteter Noten den Krieg erklärt.
Zu viel für Opa Wilbur, sodass er, um diesem Unsinn ein Ende zu bereiten, in die Reifen griff. Nicht ohne Folgen. Ein wenig zu schnell knallte er der Daggemar in die Hacken, welche erschrocken vornüber stürzte. Um wiederum ihrem gehandicapten Opi mit ihrem Kinn die Schmidt-Mütze auf dessen Haupte zu verschieben. Sie stützte sich auf, vergessend, dass die Rollstuhlbremse nicht angezogen war und so schossen beide vorbei am Waldorfzelt, bis Schmidt-Mützen-Opa in der Plane von Punkines Kreolenzelt zum Stillstand kam. Punkine selber, weil nicht anwesend, konnte nicht helfen. Doch Schwester Bärbel eilte schon, Frau Piepe vergessend, zu Hilfe.
Der westkurdische Kartenkontrolleur sah mit Blick auf vergangene, nicht stattgefundene Erfolge, bang die deutsche Zukunft schwinden: „Konntet nicht gewinnen Krieg. Ösis zu viel. Unfähig ihr ward!“
„War das nicht nur einer?“, erkundigte letztere Betreuerin sich bei ihrer sehbehinderten Begleitung. Woraufhin diese mit Missmut in der Stimme knurrte: „Genau wie hier!“ Während der Enthüllung von Schmidt-Mützen-Opa, bezichtigten sich derweil beide Betreuerinnen der Schuld an diesem Malheur. Es erweckte für Außenstehende den Eindruck, dass diese betreuenden Kräfte selber Betreuung von Nöten hätten. Was der dritten betreuenden Kraft im Schlepptau dieses seltsam-senilen Gespannes zu Gute kam, gingen Bärbel und Dagmar verbal aufeinander los. Schmidt-Mützen-Opa vermisste seine Mütze, was er durch Schläge mit Hilfe einer Krücke an die Innenseite der Zeltplane lautstark kundtat. Nur Opa Wilbur war guter Dinge. Laut lachend beklopfte er beidhändig seine steifen Oberschenkelstumpen und schob sich einen von Rastamans heimlich zugesteckten Keksen in den Mund. Fehlten ihm auch die Beine, so hatte er doch seine Zähne noch vollständig. Zumindest verriet das sein lausbubenhaftes Grinsen. Darauf folgte die für Stillschweigen bekannte Fingergeste an seine schmalen Lippen und der anschließende Fingerzeig direkt auf mich. Was mir signalisierte – der meint dich. Somit wurde ich im Vorbeigehen unfreiwillig zum Geheimnisträger von Opa Wilburs Machenschaften. Und das alles zum Nutzen von Schwester Nicki, welche ihrer elegant hergerichteten Dame am Arm den rechten Weg wies. Für sie war das Tohuwabohu ihrer Kolleginnen Ablenkung genug, um mit Rastaman einen großen Umschlag gegen zwei kleinere, unbemerkt von ihren Kolleginnen, zu tauschen. Grad so, dass die beiden Betreuung benötigenden Betreuerinnen ihren beinah eingetüteten Schmidt-Mützen-Opa samt Rollstuhl schadfrei aus Punkines Zeltplane befreit hatten, hatte Schwester Nicki besagte Umschläge heimlich in die elegante Handtasche ihrer eleganten Dame verschwinden lassen. Mit einem hinterhältig geheuchelten: „Kann ich helfen?“, schloss sie zu der Mischung aus Dumpfbacken-Betreuern und betreuten Greisen auf. Und untersagte im zweiten Satz der Frau Piepe, zum Schutz von Marktbesuchern aus Nah und Fern, weiteres Absingen weihnachtlichen Kulturgutes.
Dagmar, wieder über den Dingen, lehnte die Hilfe Nickis frei von Dank mit erhobener Nase ab und drückte stattdessen der Nicki zusätzlich zur Eleganz noch Wilbur aufs Auge, was diesen beiden wiederum doch sehr zu Pass kam. So schmissen sie sich beim entgegenkommen gegenseitig ein High five in ihre fünf Finger und verkniffen es sich zu lachen. „Alles priemstens Wilbur!“, zwinkerte sie ihm zu, griff nach dem Rollstuhl und lies die elegante Dame am rechten Arm einhenkeln. Dann schoben sich alle drei, unbemerkt im Rücken von Bärbel und Daggemar, noch einen Keks in den Mund und strahlten Dank Rastas Backkunst um die Wette.
Und so verließen sie mit ihren Artgenossen voran diesen, für mich doch einmalig aufgemachten, Weihnachtsmarkt.
Von da an strahlte auch ich. Auch ohne Keks, stellte ich fest, und es war mir egal, dass Rasta mich duzte.
„Bist du hier richtig?“, fiel mir nichts Dümmeres ein.
„Ick bin jenau so richtig oder falsch wie du, Bruder!“
„Ich mein ja nur. Weil, was dir da um Hals hängt, passt ja so gar nicht zu deiner sakralen Handelsware.“
Daraufhin küsste er das silberne Cannabisblatt an seiner Kette und meinte doch tatsächlich: „Ick mach dit doch nich zum Spaß hier, wa! Wir alle nich Bruder! Nur bring ick glei noch meene Ernte an dit bedürftiche Volk, wenn de ditte verstehst!? Verstehste?“
„Wie, ihr macht das alle nicht zum Spaß?“
„Weil wir brauchen die Jnete, für unsere Fete!“
„Na Hallo, ein Poet …“
„… und da hat unser Dozenti, welcher een?“ Mit diesem Rätsel wiesen seine Hände in Geberlaune gen Derwisch. „… Türke?“
„Cool Bruder, du bist echt cool. Also der, der hat uns für die Jnete eben, … hierher bejeordit. Seit fast vier Wochen, von Mittach bis beinah jähchin nach zwanzig Uhr und heute iss Schluss, wa. Weil danach iss …“
„… Fete?“
„Man, du hast’s echt troff Bruder! Von Siesta bis Fiesta, quasi. Und deswejen, ohne Scheiß. Jibt dit heut allit zum Ulti, zum Mativen, zum Fifti-Preis. N’türlich nur de Heilichtümer, wa!“, grinste mich Rastaman breit und strahlend an: „Meen Schitt, was’ de da wohl voll Logo, nitt! Willste ma prowieren? Ick lass dir ma Bruder, probehalber!“
„Ne, lass mal gut sein.“
„Iss vom Feinsten!“
„Natürlich vom Feinsten, aber so was voll von Logo.“
Ich heuchelte ein wenig Begeisterung. Nur waren das nicht meine Kräuter, welche er da seine Ernte nannte. „Ich bin mehr so der Schnittlauch-Typ.“
„Schnittlauch?“ Ich dachte, diesem botanischen Behelfsdruiden fielen die Locken aus seinem Rasta. Entgeistert fragte er nach: „Du rauchst Schnittlauch?“
Ja gut, ich hätte diesem ungläubigen Kruzifixhändler in dem Moment die Geschichte vom Pferd erzählen sollen, nur fiel mir das ziemlich spät. Also erklärte ich ihm: „Das Grünzeug kommt aufs Ei! Rührei, kennst’e doch, oder …“
„Klar, kenn ick! Hältst mich wo für doof, oder wie?“
„Vernebelt“, murmelte ich. „Wie meenst’n dit …?“
„Und Petersilie“, lenke ich ab: „Petersilie, die schmeiß ich in die Suppe.“
„Dass de die nich rochst iss mir schon klar.“
„Was, die Suppe?“
„Quatsch, die Petersilie! Man Bruder, wie bist’n du troff? Vielleicht solltist ’de doch ma …“
„Besser mal nicht.“
„…vom Feinsten?“
„Noch nicht mal vom aller Feinsten!“
„Vom aller Feinsten iss och nich! Zumindest nich bei mir, wa!“, warf er mir ein wenig beleidigt entgegen. Weil, das wär wohl gestreckt, erklärte mir der rastagelockte Kräuterexperte. Doch dann wurde unser Austausch von Fachkenntnis jäh unterbrochen, weil Kundschaft in Form eines Späthippies den heiligen Leinwandladen betrat. Jetzt, da zwei Kenner unter sich, war es Zeit für mich, meinen Rundgang fortzusetzen. „Man Bruder, war echt cool. Aber ick muss, wa!“
„Was muss, das muss! Na dann, bis zur nächsten Ernte.“
„Schnittlauch, wa?“
„Mir kommt nix anderes in die Pfeife.“
Der Späthippie hob unsicher fragend seinen Zeigefinger. Wie er ihm das erklären wollte, wollte ich mir nicht mehr antun, auch wenn es bestimmt interessant gewesen, war ich schon zwei Zelte weiter.
Vorbei an selbstgedrechseltem Holzspielzeug heimelicher Hinterhofwerkstätten Südsachsens (man hätte keinen besseren Standort wählen können), welchem sich eine moderne Zelt-Hexe mit traditioneller Glaskugel, über welcher ein eigenwilliges Pendel schwebte, anschloss. Rechts dieses Utensils ein Weihnachtsteller mit etwas abwegigem Belag, bestückt mit ein paar Würfeln, in welche das runische ABC graviert, seltsam verbrannten Federn, Knochen von Ratten, dem Schädel einer Krähe, zwei größeren Eierschalenhälften, aus deren Inhalt von Mausespeck geformte, blutunterlaufene Augen herausklotzten, sodass man diese Gesamtpräsentation, dank eingebläuter Höflichkeit, freundlich grüßte. Auf der linken Hälfte der zu groß geratenen Christbaumkugel, befand sich ein schwarzer Drache. Schon wieder so ein kurioses Getier, nur dass anstatt des Teelichtes, wie bei seinem Vorgänger im Kreolenzelt, jener sich auf zwei stinkende Räucherstäbchen stützte und ihm der aufgeklappte Blätterwald von Tarot zu Klauen lag. Unzufrieden flackerte im Rücken dieses anhaltinischen Versuchsmediums vor weinrotem Samt in mattgelbem Neon „Deine Zukunft aus meiner Hand“ – ein Druckfehler, wie ich meinen möchte. Ich konnte nicht anders, ich las laut: „Deine Zukunft aus meiner Hand. Ist da nicht was verkorkst? Wär’ nicht deine Zukunft dann meine Zukunft? Und meine Hand nicht deine Hand?“
„Klugscheißer“, erschrak sie mich und sprang hinter ihrem Tresen hervor, um nach meiner Rechten zu greifen: „Jetzt ist deine Hand, also deine Zukunft, in meiner Hand. Kurzum: Deine Zukunft, aus meiner Hand!“
Verdutzt zog ich meine Hand zurück: „Ist das nicht Quatsch?“
„Quatsch? Das ist sicher!“
„Ich kenn meine Zukunft auch so.“
„Ach?“, sah sie mich hinterhältig grinsend an. „Naja, also … äh, ja also ich denke das, ich esse nachher noch ’ne Bratwurst.“
„Ne Bratwurst, aha!“
„Na nich, oder doch?“, kamen mir Zweifel, wie sie mich so durch ihr Kassengestell süffisantierte: „Und das wär dann deine Zukunft? ’Ne Bratwurst!“ Ich erweiterte um ein Brötchen mit Senf. Wieder sah sie mich spöttelnd an.
„Was ist jetzt?“, wollte ich schon wissen.
„Bei dem Senf geh ich noch mit.“
„Aber?“
„Aber mit dem Brötchen seh ich schwarz.“
„So schwarz wird das Brötchen schon nicht sein?“
„Es geht nicht um die Farbe, es geht um dessen Existenz.“
Ungläubig schüttelte ich den Kopf. „Ein Brööhtchän“, versuchte ich es noch einmal in verbaler Slomogen. Es ist mir schon klar, dass so’n Brötchen nicht das ewige Leben hat. Auf was hab ich mich da nur eingelassen?
„Ich hab dich schon verstanden. Nur, das mit dem Brötchen hängt von deiner Geschwindigkeit ab.“
„Jetzt ist es aber gut“, winkte ich ab: „Habt ihr hier Rennsemmeln?“
„Du wirst es ja sehn.“
„Genau, ich werde es sehn! Und außerdem“, erklärte ich ihr: „kann ich eh besser Vergangenes erleuchten, als die Zukunft erhellen!“
„Na dann mal los! Erleuchte mich!“, spielte sie die Überrascht-Erstaunte, welche sich in diesem Atrium frei von jeglicher Konkurrenz wähnte.
„Dein Vater hat auf dem Bau gearbeitet!“
Ich schätzte diese zur Carmen rausgeputzte, Endlosstudentin auf Anfang dreißig, ihren Vater somit auf knapp Üsechzig. Deswegen – gearbeitet. Mit sechzig bist du auf dem Bau fertig. Die Bandscheiben signalisieren Unlust und Kniescheiben werden aus Kostengründen nur zweimal getauscht. Dafür gibt es Krücken – gönnt dir für eine Fünf Euro Zuzahlung jede Krankenkasse, mit besten Genesungswünschen und einem dazugehörigen obligatorischen Lächeln.
Das Zukunftsorientierte hellsehende Medium sah gar nicht mehr so hell. Ihre Kinnlade ergab sich der Schwerkraft und mit großen Augen wollte sie wissen: „Woher?“ Dazu klimperte sie sehr erstaunt noch zwei-, dreimal mit einem vollständigen Satz plastisch verlängerter Wimpern, dass ich meinte, in der Ferne das künstlerisch-klangvolle Klacken katalanischer Kastagnetten zu vernehmen.
„Als Maurer, nehme ich mal an! Und heute ist er ein zufriedener Hausmeister, oder knurriger Frührentner. Nur wie gesagt, ist das Heute jetzt. Und für das Jetzt ist es bei mir heute zu dunkel.“
„Hausmeister!“, starrte sie mich geistesabwesend an.
„Na gucke ma, Captain Future, nu guckste!“
Und wie sie guckte. „Wie in aller Welt …?“
Ich brachte das Pendel, welches sich bei näherer Betrachtung als Lot zu erkennen gab, zum Schwingen. Wenn man schon solch Werkzeug zweckentfremdet, sollte man wenigstens diese Maurerschnur gegen ein Seidenband oder ähnliches austauschen. Auch die Kalkreste zu entfernen währe von Vorteil. „Betriebsgeheimnis!“, ließ ich sie, mit immer noch erschlafftem Südgesicht, Rätsel ratend zurück und wünschte der Verblüfften dann doch besser noch maximale Kampferfolge.
Vorn am Tresen war mir schon bei Ankunft ein Plakat aufgefallen, welches mit Datum ins Auge stach:
„21. 12. 2012“ und dem Diskussionsfreien Slogan:
„Weltuntergang! – Der erste wird dein letzter sein!“
Die gut gemeinte, aber doch zukunftslose Perspektive unterstrich man mit den aufschlussreichen Lettern „Dein Leben nach dem Morgen – Nur noch heute!“ und einmal für quer die unsinnige Verlockung „Zum halben Preis“. Ich wagte es nicht, danach zu fragen. – Einmal reicht! Zuversichtlich, dass der Weltuntergang ein Hirngespinst zugekokster majanesischer Wanderschamanen. Denn wenn wirklich, was macht dann diese Witch of Modern Art noch auf ihrem Posten? Da wär ich doch schon lang auf Party! Oder nich’, oder doch? Obwohl, so aufgebrezelt wie sie sich hatte, war sie schon in Partystimmung und direkt auf dem Sprung. Oder wie, oder was?
„Was?“, zerkratzte mir doch was mit grusliger Stimme mein Innenohr. Wie ich mich nach rechts dem nächsten Zelt zuwandte, starrte mich zwischen zwei Bücherstapeln die mir schon bekannte Gruftine von unten herauf an. Grimmig grollig wiederholte sie raunend: „Da bist’e ja!“
„Ich bin wo?“
„Auf der anderen Seite, wo sonst? Eh Alter. Ick hab’ dir doch jesagt, dass wir uns auf der anderen Seite sehen. Wohl verjessen wa? Oder haste deine Troppen noch nich jenommen?“
Wie, meine Troppen? Was denn für Troppen? Ein wenig überrascht fällt mir für ihren Verkaufsstand eine etwas völlig unlogische Feststellung ein: „Du kannst ja ganze Sätze reden?“
Entsetzt kniff sie ihre auf düster geschminkten Augen gefährlich bös zusammen: „Hältst mich woh für doof?“ Den Spruch kenn ich doch. Vor gar nicht allzu langer Zeit, um genau grad eben, drei Zelte zuvor. Ich mach einen Schritt nach hinten, um noch einmal in Richtung heiliges Türkenzelt zu blicken. Man schien sich Handelseinig. Der Späthippie schlenkerte das Resthaar, welches sein eigen, über das Partylicht reflektierende Haupt und verschwand sicheren Schrittes im Waldorfer Spendenzelt. Ich geh den Schritt zurück und seh der Gruftine direkt in ihre toten Pupillen. Aber nein, unmöglich. Ein Unterschied wie Wind und Wetter. „Nein, ich halte dich nicht für …“
„Rocco iss mein Bruder“, erklärt sie meinem noch überraschten Gesicht.
„Ach! Rastarocco ist dein Bruder?“
„Hab Ick doch jesacht! Sach ma, hörste mir nich zu, oder wat?“
„Na das ist ja ’n Ding.“
„Un ick hoffe, du hast nichts aus seiner Unterm-Tresen-Kollektion jekoft!?“
„Nein! Nein hab ich nicht!“
„Dei Glück, Alter. Sonst müsst’ ick dir jetzt töten!“
„Was hab ich aber auch Glück!“
„Ja Alter, du scheinst hier det blinde Huhn.“
„Das was?“„Verjiss’ it!“
„Und was treibt der Hippie in Waldorf? Der passt da ja wohl gar nicht?“, lenke ich ab.
„Der macht da den Sozi und hat ’n Weihnachtsmarkt hier, mit unserm Dozenten ausjeheckt, wa.“
„Dem Türken?“ Erstaunt sieht sie mich an. „Dein Bruder!“, kläre ich sie auf.
„Natürlich, wer och sonst. Und der Türke iss jar keen Türke“, flüstert sie geheimnisvoll, „der iss ’n Kurde und häßt Abschreg.“
„Abschreg?“
„Bst, leise!“
„Abschreg, was ist das denn für ein Name? Soll das kurdisch sein?“
„Türkisch, kurdisch, osmanisch, wo ist der Unterschied? Aber bst, sonst jibbt dit Ärjer mit ’n Türken.“ Dazu nickt ihr Kopf in Richtung übernächstes Zelt.
„Aha! Und was verkauft nun euer Kurdentürke? Apfel-Tee, Türkischen Honig oder doch eher Raki?“
„Das du nich uff Döner jekomm bist, Alter? Jeder Dödel fracht dämlich nach Döner.“
„Bin ich jeder?“, versuchte ich ein ernstes Gesicht. Ihr linker Mundwinkel, welcher sich hinterhältig nach oben formte, verriet mir, dass ich hinter meinem ernsten Gesicht albern aussehen musste. Dafür versicherte sie mir, dass ich nicht Jeder bin: „Nee, du bist nich wie jeder Dödel.“
Na das ist ja mal schön. Nur war das jetzt in Gruftines Welt was Gutes? „Was ist denn nun mit euerm osmanischen Dozenten? Verkauft der auch was oder agiert der nur aus dem Untergrund?“
„Fast, wo eher Hinterjrund. Haste doch noch Glück. Na ja, als Huhn, als Blindes.“
„Was hast du denn nur mit dem Huhn? Und wieso hab ich Glück?“
„Weil iss glei 14.00, …“
„High Gripsy, fängt glei an!“, kam jetzt noch die Punkine zu uns rüber.
„High Grabs! De ersten Looser sinn schon da. Omma, Oppa, Hosenscheißer.“
„Genau“, bestätigt Punkine, oder besser Grabs: „der Rotzer kackt sich voll ins Hemd, wa!“
„Wer kackt in wessen Hemd und was ist überhaupt los?“, wollte ich wissen. Gripsy, die Gruftine, macht mich schlau: „Du wolldist doch unsern Dozenten, den Osmanen, ma sehen. Der hat jetzt sein Auftritt.“
„Was denn für ein Auftritt?“
In dem Moment verstummte das zuletzt eingespielte „Leise rieselt der Schnee“. Erneutes Kratzen entfleuchte den Lautsprechern quer der Halle. Gripsy zeigte direkt durchs Kettenkarussell und meine Augen folgten ihrem Finger. Was ich da sah – Weihnachten war im Arsch! Von mir aus kann der Weltuntergang kommen! Hier war ja alles zu spät! Als hing ein brauner Pope, dank des Karussells, in Ketten. Hielt mein Glaube sich bis zu diesem Zeitpunkt in Grenzen, so fiel er hier vollends von mir ab.
„Ist das euer …?“
„Willst ’nen Tee? Appel vom Kurden.“
„Von dem Weihnachtsmann da? Das geht doch gar nicht, ein Ne…“
„Jetzt Obacht Alter!“
„… Schwarzer? Wie passt denn das zusammen? Und wie sieht der überhaupt aus? Was stellt der dar, es ist noch kein Fasching?“
„Hier, dein Tee.“
„Wie ein russischer Papst, oder was? Danke!“
„Russischer Papst?“
„Na guck ihn dir doch an. Ein Umhang für’n Prinzen aller Jecken und Narren. Dazu diese turmhohe Rohrmütze, anbei am langen Stock der unfertige Notenschlüssel bolschewikischer Sauflieder und ich darf nicht Neger sagen? Na Hallo!“
„Na Hallo?“
„Na aber so was von – Na Hallo!“
Grips und Grabs verleierten die Augen: „Du bist woh vom Dorf wa?“
„Und das direkt aus dem Wald.“
Dazu schallte es krächzend „Hü hü hü!“ aus den Boxen.
„Hü hü hü? Eh, dit jeht ja ma jar nich!“
„Sei doch mal ruhig Grips!“
„Der hat doch bei Rocco jenascht!“, erboste sich Gruftine.
„Nur zwee Kekse“, stand ihr Bruder plötzlich hinter uns.
„Rocco, du Sauhund!“, vergas sie plötzlich ihre Halsschmerzen.
„Man Lütte, nu hab dir ma nich so. Iss alles Easy, alles cool!“
„Alles cool?“
„Nun seid doch mal still! Abschreg nuschelt so schon genug!“ Grabs war säuerlich und Rastarocco bot seine Kekse feil.
„Ne Danke!“, wehrte ich ab.
„Sinn jesund, Bruder – Kräuterkekse.“
„Nur ohne Schnittlauch.“
„Natürlich nur ohne Schnittlauch!“, grinste Rocco mich breit an: „Man Bruder, dass du noch hier und nich in … Is’ mir schlecht!“ Rocco erspähte plötzlich Grabs Pappe Undefinierbares unter einer eigenwilligen Soße, welche vielleicht mal neben einer Tube Majo stand. Es wär ja nicht einmal aufgefallen, hätte Rocco nicht darauf hingewiesen. Warum die Gesamtpräsentation dieser schon halb aufgefutterten Portion Schmierfingerfood aussah wie ein Rudel geschlechtskranker Nacktschnecken mit Pilzbefall, wollte ich, weil angewidert, nicht auf den Grund gehen.
„Nimm du ’n Keks Alter“, riss Gripsy mich aus meinem Würgereiz, „eh, ick schwör dir, denne haste verschissen, wa!“
„Was bist du denn für ’ne kleene Meckerzigge?“
„Eh, Vorsicht Alter!“
„Seid doch mal leise!“
„Alter, Vorsicht eh!“, äffte ich die Gruftine, versteckt hinter meinem Teeglas, nach.
Dafür durfte ich mir: „Noch so’n Spruch, Hodenbruch!“, anhören. Ihr rechter Zeigefinger in Schussposition unterstützte ihre Ansage.
„Kurzsichtig?“ Grad so, dass ich es ausgesprochen hatte, schnellte besagter Finger in meine Richtung. Genau vier Kekse breit vor meinem linken Auge kam er zum stehen. Ihrer Körpergröße geschuldet, gestaltete sich ihr Arm mit besagtem Finger im deutschen Winkel. Grabs mahnte ungewohnt streng zur Obacht: „Gribs!“
„Hä, wat iss ’n?“
„Dein Arm!“
„Ja, mein Arm?“
Was mir Anlass gab, mich zu erbarmen. Ergab sich mein rechter Zeiger der Fingerhakelei, wie er den ihren heim ins Reich holte. „Die Farbe steht dir nicht!“
„Oh“, bemerkte sie ihren Fauxpas, „wat een Mist. Ausjerechnet vorm Türken!“
„… Kurden“, flüsterte ich. „War ja nich wejen de Zieche!“ Tja, was blieb da noch? Sie müsste sich schon auf ’nen Wassereimer stellen, um mir in die Augen zu sehn. Sollte sie rein fallen, könnte sie ja noch die ein, oder andere Bahn ziehn. Das verriet ich ihr aus Sicherheitsgründen wegen meiner Hoden natürlich nicht – nich wahr! Nur war mir noch ein wenig nach stänkern: „Wo sind eigentlich deine Halsschmerzen geblieben?“, bemühte ich mich, mit einer Stimme als würde ich mit Pappnägel gurgeln, um Auskunft: „Stand dir wohl der Wunderdoktor zu nah im Rücken? Oder lag es eher am Zauberberg, den dein Bruder fast vom Tresen riss?“
„Mann, Alter, nu kriech dich ma widder ein, eh! Wat soll ick denn machen, dass mir hier wer beachten tun tut? Kiek mir doch an. Grad so, dass ick mit ’nem Hydranten uff Oochenhöhe …“
Ja, genau Grips, denk ich mir so, wie ich die Gruftine begucke. Wer soll dich beachten mit deiner Schädel-Maus, zwischen dem weisen Tresen und den weisen Regalen in deinem weisen Zelt?
„Nun kommt mal zur Ruhe, jetzt kommt gleich das Gedicht.“ Grabs hatte sich mit Rocco für gute Sicht postiert: „Mal sehn, was heute passiert?“
„Wieso, was sollte denn passieren?“, wollte ich schon wissen, obwohl es mir reichte nur zu zuhören.
„Na weil bis jetzt immer irjend wat war. Den nimmt doch kener ernst, so wie er aussieht“, wusste Rastarocco zu berichten. „Als Schwarzer, mit so ’nem langen grau’n Bart.“
„Na so schwarz ist er ja nun auch nicht. Eher braun, oder nicht?“
„Ja, so Vollmilch-Nuss“, meldete sich Grabs.
Gripsy schüttelte ihr’n Kopf: „Wieso Nuss?“
„Weil, Abschreg iss’n Männchen?“
„Wat ick och frache.“ Mir kamen Bedenken, dass Gripsy Grabs’ Irokesen aus lauter überschwänglicher Spontaneität mit ihren grotesken Nägeln verschnitt.
„Letzte Woche“, gab Rocco wieder Laut, „hat ihn so ’ne Lütte jefracht, ob er een verkleideter Feuerrübel wär. Wisst ihr dit noch?“
„Wie könnten wir det verjessen, wa?“, war Gripsy wieder begeistert. „Da fühlte der Kur…, der Türke in Abschreg sich beleidicht. Kannst kein Deutsch du? Das heißen Feier Riebel doch! De halbe Halle hat jelacht.“
Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was hier los war, so wie die Gruftine den kurdischen Türken imitierte.
„Na endlich“, machte Grabs Meldung, „kommt’s Gedicht.“ Tatsache, der Enkel, der Hosenscheißer stand schon am Mikro. Ein aufgeregtes Kratzen in den Lautsprechern versprach Kultur.
„Du guter Weihnachtsmann du Lieber …“
„Heißt lieber guter, du lieber guter! Und ich nicht der Weihnachtsmann bin. Ich Nikolaus! Man, du weist nicht? Musst wissen doch, kleine Anhalter du. Schon groß du wie Flasche fünf Raki. Machen noch mal, du!“
Der arme Kerl, dachte ich mir. Doch der kleine fünf Flaschen Raki große Anhaltiner zog kurz und schmerzfrei durch:
„Lieber Weihnachtsmann du Guter,
ich steh hier bei dein Bruder.
Kannst holen du ihn schnell?
Der gerbt mir sonst mein Fell!“
Jetzt war Leben in der Bude, die Halle tobte. Zumindest was an Fußvolk um diese späte Mittagszeit da war. Ich selber war begeistert, mir tat mein Bauch weh vor Lachen. Spontan entschieden wir uns für Applaus, stehende Ovationen wenn man so will. Nur Gripsy lümmelte mit einer Arschbacke auf der einzig verfügbaren Sitzgelegenheit. Von diesem dreibeinigen Bambusbarhocker unterstützte sie mit Hilfe zwei ihrer Finger pfeifend unseren haltlosen Jubel. Doch so wie es aussah, mussten wir auf eine Zugabe verzichten. Die Oma zerrte ihren Enkel von der Bühne. Opa wurde vergessen, zog es ihn doch schon vor des Enkels Vortrag ein wenig nah in Richtung Bratwurststand, wo um diese Zeit bereits der Glühwein triumphierte. Gleich links zwischen Bühne und Grabs Unikaten-Zelt für Finger, Ohr und Hälse sah ich in weiser Voraussicht meiner Zukunft entgegen. Aber noch war ich bei Gripsy.
Der erste Kandidat für den heutigen Tag und für’n Kurden schon zu viel. Der Nikolaus ließ sich in einen museumsreifen Ohrensessel fallen. Ein lautes Ratzen verriet den Schwung, welcher den Sessel ein ganzes Stück gefährlich nah der hinteren Bühnenkante verschob. Mit einer Mischung aus Begeisterung und Unverständnis, dass solches zugelassen, brauchte es einen Moment, bis wir uns wieder beruhigt hatten. Ich sah noch in Richtung Bühne, als mir die Originalität dieses Nikolauses auffiel. Wer sonst schien geeigneter, als Abschreg mit seinem türkischen Teint, die Glaubwürdigkeit dieses osmanischen Nationalheiligen hoch zu halten. Nur schien das Niemandem aufzufallen. Bis auf den beiden Persern vielleicht, welche zwei Zelte weiter wie wild gestikulierten. Lautstark protestierten sie in einem Kauderwelsch nahostasiatischer Halsschmerzen, mit wüstem Gehüste, wie ich glaubte, gegen ihren heiligen Nik, belehrte mich der lautstarke Schlussspruch eines Besseren: „Und Allah richte deine Zunge!“ Dazu fuchtelte einer der beiden mit einem überdimensionalen Käsemesser in der Luft, als wolle er fünf Schafe mit einem Streich ihre Hälse verschneiden. Statt der imaginären Hammelhälse fielen diesem einseitigen Glaubenskrieg im kleinen Kreis so knapp zwei Dutzend Bommeln über ihrem Eingang zum Opfer. Dieses wiederum veranlasste seinen Mitstreiter, welcher sich mit einem Käsehobel bewaffnet hatte, den aufgebrachten Messerjückel in die Schranken zu weisen. Freiwillig ergab er sich dem Käsehobel, nachdem er trotz allem ein letztes Mal noch unkontrolliert seine Klinge durchzog. Zwei Ritsch und ein Ratsch ließen die linke Seite ihres Zelteinganges in Streifen zurück.
„Ich hab das Dönerzelt entdeckt.“
„Ja, die Knofifahne, die jriechst de nich wech“, bestätigte mir Rocco. „Du siehst se nich, aber du riechst se.“
Oh man Rocco, denk ich mir so, bei dir ist ja schon einiges kaputt. Hier riecht es eher nach altem Öl als nach Knoblauch. Außerdem spielte ich auf das Käsemesser an, welches doppelt so lang war wie eins von Gripsys Beinen. Oder sollte nur ich die Aktion mitbekommen haben?
„Nee“, versicherte mir Rocco: „dit iss bei denen Alltach.“
„Wohl doch eher Show!“, klärte Grabs auf und meinte, dass die wenigstens einmal die Woche ihre Zeltplane tauschten. Zumindest die Lappen um den Eingang.
„Na gut, meinetwegen Show. Doch wieso stinkt dann deren Döner-Bu… Zelt nach vergessenem Ölwechsel?“ „Pommes!“, füllte Gripsy meine Wissenslücke. „Pommes unter enner eijenwillichen Knofitunke, mit extra Käse. Dazu reichen se, wechen dem Oche, wat wie bekannt mitessen tut, einjelechdit Jemise. Eene Peperoni und vier, fünf schwarze Oliven.“
Angewidert vom alten Altöl in türkischen Friteusen auf osmanischen Weihnachtsmärkten im Lande Anhalt, brachte der Gedanke an Knoblauchsoße auf Pommes, auch wenn die Oliven entsteint waren, nicht grad Besserung, wenn ich an den extra Käse dachte. Gripsy bot mir noch einen Tee an. Ich lehnte dankend ab und griff nach dem Glas, welches man mir nötigend vor den Bauch drückte.
„Aber diesmal ohne extra Zucker!“, wehrte ich den Brocken Kandis erfolgreich ab. „Zeig mir lieber Mal das Buch, da hinten.“
„Welches will’ste denn sehn, Alter?“ Zwischen all den gebrauchten Büchern, die die Gruftine hier, mehr schlecht als recht, versuchte unters Volk zu bringen, hatte ich bedenken, dass sie sich bei ihrer Größe zwischen den drei Regalen verlief. „Da oben, das Linke mit den roten Flecken. Hinter der verschimmelten Eidechse da“, zeigte ich auf das rechte Regal hinter ihrem kleinen Behelfstresen.
„Seltene Steine“, las sie vor. „Dit soll’s sinn?“
„Na, zeig erst mal.“ Grabs machte einen langen Hals, als Gripsy ihren Bruder bemühte: „Kannste ma, Bruderherz?“
„Na logo Lütte, ick kann.“ Und während Rocco nach meiner auserkorenen Lektüre griff, weil er’s wohl, auch ohne eine Bockleiter zu belästigen, konnte, veränderte Grabs ihr Gesicht ähnlich dem, dieser verschimmelten Eidechse.
Ich blätterte ein wenig die Seiten durch, wie ich es in Händen hielt. Seltene Steine, einfach erklärt – stand im Buch noch einmal als Titel. Unterteilt in mehrere Kapitel, fielen mir zwei zum Schrecken der Punkine besonders auf. Edelsteine im Handel – und das andere wurde – Wie erkenne ich Fälschungen – benannt. Mit dem Wissen, das mich Grabs skeptisch beobachtete, las ich letzteren laut, um erstaunt zu enden: „Was es alles gibt?“
Mit großen Augen und meinem breitesten Grinsen sah ich zur Punkine hoch, dass sie sich so sehr erschrak, dass selbst ihr Irokese sich sorgvoll krümmte.
„Und dit will’ste ham?“
„Was will’ste denn haben für die alte Schwarte?“
Gripsy überlegte kurz und kam zu dem Entschluss: „’Nen Fünfer, wenn de dit glei willst!“
„Will er nich!“, schaltete sich Grabs ein.
„Wie, will er nich? Woher willst’n du wissen, was er will und was nich?“
„Weil ich weiß, was er nicht will!“
„Un Alter, wes Grabs was’te nich willst?“
„Weiß sie nicht! Weil, ich will!“, zog ich meine Stirn in Falten und rieb mit den Fingern meine Ohrläppchen in Richtung Punkine
„Also, haste jehört, Grabs? Er will!“
„Er will nicht!“
„Jetzt erst recht!“
„Nein!“ „Na nu iss gut!“
„Noch lange nich!“
„Was geht dich das über…“
„’Ne ganze Menge!“
„Drei, zwei, …“, reichte ich Gripsy dann endgültig die fünf Euronen, lachte Grabs frech an und vollendete: „… eins und meins!“
„Wat für’n Jeschäft?“, stellte Gripsy fest und Rocco jubelte: „Du hast een Buch verkoft, een Buch!“
„Nun kriegt euch mal wieder ein!“, knurrte Grabs sauer und zu mir gewandt: „Verschissen! Du hast’s bei mir verschissen!“ Grabs drehte angepisst ab. Anscheinend hatte die Punkine echte bedenken, ich würde sie und ihre Unikate mit Hilfe dieses Ratgebers für Hobby-Zöllner zur Fahndung ausrufen lassen. Was natürlich nicht meine Absicht war!
Trotz allem hörte ich, wie es zweimal in meinem Glas klackte. Hatte sie doch tatsächlich noch zwei Stück von diesen klobigen Kandisbrocken in meinem Tee versenkt. Vier, fünf Spritzer dieses türkischen Aufgussgetränkes strandeten auf meiner Hand, dass ich nach unten sah. Doch was ich da sah, lies mich erstaunen. In meinem Teeglas befand sich offenbar der Grund manch oft vertuschten Fischsterbens. Der schwarze Tod im Apfeltee? In der Hoffnung, ich hätte mich geirrt, kniff ich meine Augen zusammen. Manchmal suggeriert uns ein einfacher Windzug seltsamste Erscheinungen. Nur wich diese akute Umweltkatastrophe nicht meiner Augen und schon gar nicht dem Glas.
„Was nich in Ordnung … Bruder? Sach ma, wie häßt du überhaupt?“
„Na ähm, wer bist ’n eijentlich?“, schloss sich Gripsy der Frage ihres Bruders an. Hätte ich in dem Moment nicht das Problem mit meinem Tee gehabt, hätte ich wahrscheinlich geantwortet: Roccos Bruder. Stattdessen gab ich ehrlich Auskunft: „Uwe. Ich heiße Uwe und ich habe ein Problem.“
„Hallo Uwe! Was ist dein Problem?“, bemühten sich die beiden Zentral-Brandenburger, ums einst wieder verlernte deutsche Wort. Was aber auch geschwisterliche Einigkeit verriet, aus welcher Rocco nachhakte: „Also doch wat nich in Ordnung?“
„Wat haste denn für ’n Problem, Uwe? Uwe iss aber och so’n Sammelbejriff, wa?“
„Jahaa …“
„Nu lassen doch ma, Lütte! Wat soll ’n icke da sachen?“
„Wie, du? Du heißt doch Rocco!“, musste ich auch mal interessiert nachhaken.
Rastarocco sah mich mit großen Augen an: „Dann fahr ma nach Spagezien!“
Ungläubig frag ich nach: „Du fährst extra nach Italien, um festzustellen, dass Rocco ein Sammelbegriff ist? Das glaub ich doch nicht?“
„Er nich“, klärte seine Lütte mich auf, „aber unsre Mutter, wa.“
„Eure Mutter?“ Mir schwante was.
„Mutter hat da sin Vater kenn’ jelernt. Nu darfst’e ma raten, drei ma, wie der häßt?“
Eine Idee hatte ich schon, nur kam Gripsy mir zuvor: „Rocko häßt’ er! Der häßt Rocko, nur mit CK.“
Ich befand mich im Zustand fragender Verblüffung: „Dann hast du deinen eigenen Vater?“
Gripsy sah mich mitleidig an: „Andre Jeschwister ham ihr eijenes Teeglas, wir ham eben jeder unsern eijenen Vater. Dit iss doch Klasse, iss dit doch!“
„Klasse? Ja, wenn ihr klar kommt, klar, Klasse. Aber apropos Teeglas?!“
„Sach doch ma wie dein Vater häßt, Nele?“
„Dat iss jetzt nich wichtig. Und nenn mir nich Nele! – Rocco! Uwe hatte ein Problem, du erinnerst dich?“
„Ich habe noch!“, warf ich ein.
„Ja, richtich, dein Glas“, erinnerte sich Rocco und schon hatte es Nele … Gripsy in der Hand.
„Ieh!“, quietschte sie mit verzerrtem Gesicht kurz auf, dass es selbst der Maus am Schädel ekelte: „Was ’n dit für ’n Siff?“ Rocco riskierte einen Blick über ihre Schulter und erklärte mit Fachkenntnis: „Ölpest, eindeutig die Ölpest! Man Bruder, als hätt’ dir ’n blasenkranker Busfahrer ins Glas jeschifft.“
Tatsächlich, auf meinem Tee drehte sich mittlerweile ein Schimmer in dreifarbig-verschwommenen Regenbogenfarben. Nur was war jetzt hier passiert? Drei ratlose Gesichter mit zuckenden Schultern grübelten über meinem Teeglas. Während Gripsy mit einem Finger ihren einen Zopf verleierte, zerscharrte Rocco sich seinen im Wachstum befindlichen Ziegenbart. Und ich selber dachte, wie geht denn so was, so bei mir. Da hatte Rocco eine erste Idee: „Fillei enne missjlückte Jernspaltung uf enner Kreuzberjer Appelplantage?“
„So wie de aussiehst Keule, da hat’tiste de Jernspaltung in deene Kopp, wa!“, zog Gripsy ihren Zopf straff: „Aber weeste wat? Ick weesit, jetzt wees ick dit. Hier warn’ doch ma de Türken vor so hunderte Jahre durchjekomm, oder so, wa. Un von den die Relikte, also wat den ihre Erm, un von dene widder die Erm un so …“
„Man Nele, nu komm ma zum Punkt nu!“
„… na die ham hier een Anschlag gemacht. Da steckt noch die janz olle Türkenmafia hinter.“
„So viel Fantasie wünsch ick mir in keen Trohm nich, wa Lütte. Aber guck dir dit ma an hier Bruder“, wieder zu mir gewandt, „als tut dein Kandis jrün rosten, wa.“
„Man Alter, dat is echdit Kino. Als ob da wat den die Beene wech ätzen tun tut. Det iss’ ja voll spooky wa. Der kurdische Kandiskiller. Huuu …“
„Den Kandis wollte ich ja gar nicht haben“, fiel ich Gripsy ins Geistertreiben. „Die Grabs hat den mir doch ins Glas geschmissen, weil sie sich doch wegen dem Buch so …“
„Grabs, na klar die Grabs. Die hatte doch die Packe-Pommes von die Dönerbude anjeschleppt, wa. Na klar Bruder, jetzt seh’ ick dit janz klar vor mir. Mit die bloßen Finger is die in die Pommes mit der ekelichen Knofisoße.“
„So recht wie de hast Keule, du musst dit jetzt aber nich ausmaln noch tun. Mir issis so schon iebel.“
„Und denn hat se sich de Finger abjeleckt.“ Rocco konnte es nicht lassen, seine Schwester, welche so schon dicke Backen machte, breit an zu grinsen: „Alle zehne! So!“ Dazu ploppte er einmal mit dem Finger aus dem Mund: „Ick hab recht! Und du wohl nicht. Dazu brauch ick nich ma Licht!“ Dazu ploppte er noch zweimal und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
„Du bist und bleibst een Schwein, Keule! Nur muss se dabei een Finger verjessen ham, wie wir dit hier im Glas sehn tun könn.“
„Nich verjessen Lütte! Die schafft dit nich bis nach neun mit den zählen. Sowie dit Zweestellich – aus die Maus!“
„Aus die Maus! Du sagst es. Ich muss langsam mal weiter, wenn ich es noch vor Weihnachten schaffen will.“
„Wie weit musste denn noch?“
„Bis hinter Düben.“
„Düben, wo iss’n ditte?“, wollte Gripsy wissen.
„Uwe meent bestimmt Bad Düben? Hab ick recht oder hab ick recht?“
„Recht haste!“, gab ich Rastarocco recht. Was Rocco gleich nutzte, um seine Lütte zu ärgern: „Wenn de och ma so groß bist wie icke, wa, denn kannste det allit och sehn!“
„Und wenn de ma so alt bist wie icke nach Neujahr … Rocco! Denn tret icke dir dahin, wo de Sonne nich hin schein tut tun! Als ob ich nicht wüsste, wo dit iss, Keule. Dit iss im Wald! Sacht’er jedenfalls, dass’er aus’m Wald kommt.“
„Wald? Wie jetzt, Wald?“
„Na Wald eben! Kennst’e widder nich, wa? Dis iss eene jroße bebäumte Fläche, iss ditte! Hab ick recht oder hab ick recht, Uwe?“
„Recht haste, Grips!“
„’Ne bebäumte Fläche, wa?“, musste nicht nur Rocco grinsen. „Isse nich goldig, meine meja Lütte?“ Dazu klemmte er sich seine Schwester unter den Arm und grinste sie noch breiter von oben herab an. Nur fand das Gripsy gar nicht witzig: „Oooahch Keule, man eh. Weeste wie de muffst unterm Arm? Wie meene Ratte!“
„Is die nich schon drei Wochen tot, Nele?“
„Ähm, drum! Und nenn mir nich immer Nele, Keule!“
„Ja Nele.“
Schon knickte Rocco rapid rechts runter. Dank ihres unausgereift-vertikalen Körperaufbaus hatte Grips unter Mitwirkung ihres linken Ellenbogens Rastaroccos Niere um bestimmt (wenn ich mal bei der Maßeinheit bleiben darf) siebeneinhalb Keksen unterschlagen.
„Guck nicht so grimmig, Rocco! Neunzig Grad weiter rechts und du müsstest deine Familienplanung völlig neu überdenken“, versuchte ich den Kräuterexperten wieder aufzubauen.
„Familienplanung? Wat will Rocco da noch plan, wa? Dit löst sich doch eh allit in Roch uff bei Keule, wa. Un übberlech doch ma. Iss’it fillei nich och besser? Nachher kimmt so wat wie Rocco ans Licht. Meen’ste nich och, dat der hier is jenuch?“
„Könnte ja och schlimmer, wa Nele! Noch viel schlimmer!“, beschwor Rastarocco das nackte Grauen herauf: „Stell dir ma vor, ick kriech so wat wie meene Schwester. So wat nenn icke voll spooky“
„Rocco, Rocco“, schüttelte Gripsy sorgenvoll ihren Kopf, „davon wirrste wo ewig träum.“
„So, ihr beiden. Ich muss jetzt weiter“, mischte ich mich in diese Vermehrungsutopie. „Jetzt mache ich los, sonst wird das nie.“
„Na denn Alter. Denn machet ma jut, wa!“
„Jenau Bruder …“, war Rastaroccos Meinung, „… war klasse das de ma lang jekomm bist, wa Bruder! Denn fillei bis in det Nächste?“
„Wenn sich die Majanesen verrechnet haben gerne wieder.“
„Majanesen? Rechnen? Du globst doch wo nich diesen Unsinn? Die könn doch jar nich rechnen. Wat die konnten war Tetris am Hang.“
„Tetris am Hang?“ Ich kam einfach nicht weg. Rastarocco überstrahlte mich mit seinem Wissen: „Wenn man an eene völlig unmögliche Stelle wat ineenander baun tut. Und dit och so, das det och passt un hält. Und nich glei widder in sich zusammenfällt. Denn Bruder, denn iss dit Tetris!“
„Und bei den Majanesen ist das dann Tetris am Hang?“ „Jenau Bruder, Tetris am Hang. Du hast det ja glei bejriffen, wa.“
„Toll“, dankte ich für dieses, von Nutz befreitem Wissen, „das ich heute noch was lernen konnte! Echt klasse!“
In der Hoffnung, sich diesem Unsinn schadfrei entziehen zu können, schien Gripsy derweil den Derwisch anzubeten. Sie tat erschrocken, als ich: „Die Nacht werd ick von euch träum, von euch beede, wa!“, mich an der Berliner Schnauze probierte. Was Gripsy natürlich nicht unkommentiert lassen konnte: „Vorsicht Alter!“, lachte sie mich, mit erneut zielsicher am Auge angelegten Finger frech an. Dann warfen wir uns, aus gegebenen Anlass, noch ein paar Feiertagsfloskeln entgegen und ich zog weiter meiner Wege.
Da erspähte ich direkt hinter dem Weihnachtsbaum, eine Vielzahl unterschiedlichster Teppiche. Große und kleine stapelten sich auf mehreren Haufen, beinah Bauchhoch, auf dem gesamten Boden. Nur ein schmaler Gang, rechts der Teppichhaufen, machte ein Vorbeikommen möglich. Am Ende saß auf einem bunten Stapel Fußabtreter, wie der kleine Muck im Schneidersitz, ein kleiner Junge, welcher als Milchreisbubi mit seinem Milchgesicht prima auf die Milchschokolade für Kinder passen würde. Wie er mich ansah, grüßte er knatzig: „Lanet yabancilar!“
Das hatte ich heute schon einmal vom Kartenabreißer des kleinen Kleinkindkettenkarussells gehört. Wirklich nette Leute die Leute, dachte ich, auf so übertrieben nette Leute nicht gefasst und grüßte ebenso freundlich, wie es mir grad eben möglich, zurück: „Recht haste! Alles andere wär gelogen!“
War ich gerade noch in der Absicht, diesen milchgesichten Bubi mit einer Frage zu erheitern, hielt mich ein selbstbepinseltes Plakat, welches in einer Reihe mit einer Auswahl an Gebetsteppichen von der Decke hing, von dieser Idee ab. Denn, was fragt man einen orientalischen Teppichhändler, wenn man meiner Zeit dem Herrn Hauff seine Märchen mit der Muttermilch hat förmlich aufgesogen? Genau!
Doch stand die Antwort auf meine nur gedachte Frage schon auf besagtem Plakat. Zu meiner Überraschung gleich in mehreren Sprachen. Bu sinek yok, gefolgt von einer Zeile voll von kyrillischer Schriftzeichen, welche ich vor Jahren aus Gründen von Desinteresse ignorierte. Die dritte Zeile überstrich eine reich verzierte Borde, dessen letztes Drittel den in Klammern gefassten Sing Sang la la tatir innehielt. In der vierten, der vorletzten Zeile offenbarte man dann der ganzen, weiten und modernen Welt. Carpets can not fly! Und zu guter Letzt, nur für mich, so schien es, die schon erahnte Auflösung. Teppiche können nicht fliegen!
Wenn jetzt noch die Reihenfolge dieser internationalen Aufklärung Beachtung findet, wird man wohl wie ich, ein wenig säuerlich. Im eignen Land bin ich das Letzte, stellte ich fest.
Der mit Teppich Handel treibende und auch sonst unwissende Milchreisbubi hockte immer noch reglos auf seinem Haufen.
„Was ist mit dein deutsch? Das ist doch falsch“, zeigte ich auf seinen von Hand beschmierten Hinweis: „Fliegen nicht können, muss es richtig heißen.“
Und Tatsache, er löste sich von dem aufgestapelten Bodenbelag, indem er sich wie ein Zollstock auseinanderklappte. Und eh ich mich versah, wurde aus dem kleinen Jungen ein Großer.
Na gut, dachte ich: Da müssen ’se die Schokoladentafeln eben etwas größer machen. Und dieser große Junge quälte sich in meine Richtung.
„Was nicht ist korrekt?“
Ich zeigte auf seine Eigeninitiative und wiederholte: „Fliegen nicht können! Nicht, können nicht …“
„Danke, ja. Ich hab’s ja, danke.“ Er schien genervt. Gelangweilt, mit den Händen in den Taschen, verschwand er hinterm Weihnachtsbaum in Richtung Grips und kam bewaffnet mit ihrer zweistufigen Bockleiter zurück. Gripsy lugte neugierig hinterm Baum hervor. Und von links gratulierten mir die beiden Glaubenskrieger zu meiner doch erstaunlichen Überzeugungskraft. Sie hätten wohl schon mehrfach versucht, Abschregs Stammhalter die deutsche Sprache näherzubringen. Abschregs wer? Na nu gucke ma an. Der Appel fällt nicht tief in Tee, oder so ähnlich. Und siehe da, der Appel reparierte zum Gespött einheimischer Kaufhausbesucher und seiner Nachbarn zur Linken.
Ich selber musste mich dieser Nachbarn erwehren. Wollten sie mich doch für diese Wohltat, mit einer extra Portion Pommes unter einer eigens kreierten Spezialsoße belohnen. Doch noch bevor man mir, unter Beihilfe eines überlangen Käsemessers, die unterforderte Qualität dieses Pappschalen-Brechreizes anpries, konnte ich entkommen. Vorbei am Stand mit türkischem Honig, welcher sich eigenartigerweise zur Hälfte das Zelt mit einer Fischbrötchenkerkäuferin teilen musste, trennten mich nur noch, wie man von der Seite sehen konnte, die für Hochkant versteiften Europaletten, die die anhaltinische Welt bedeuten, von meiner eigenen Weissagung.
Doch kreuzte noch Ungemach, in Form einer Mutter mit zwei Kindern an den Händen, meinen Weg. Völlig Rücksichtslos ungeachtet meiner mir zustehenden Vorfahrt, wenn man so will, eroberten sie zielstrebig die Bühne. Holpernd und polternd erklommen sie den vierstufigen Aufstieg, nachdem der etwas größere Junge beinah noch einen zusammengeklebten Stapel Geschenkpakete, welcher unterhalb dieses Podestes platziert, umgerissen hätte, wo sie Abschreg, den Nikolaus, man möge sich erinnern, wahrlich überfielen.
„Na iss’ es denn?“, konnte ich mich grad so spontan aufregen. Es wollte nur nicht wirklich irgendeinen hier im Saale ernsthaft interessieren. Schon gar nicht diese Mutter, diese Schreckschraube, welche mit zwei großen Schritten (sportlichen Ehrgeiz vortäuschend) die Stufen der hölzernen Treppe erklomm, aber von mir nicht die geringste Notiz nahm.
Doch dann, endlich Gaumenfreuden, die Zukunft vom Grill, der Bratwurststand. Ich kramte schon nach Kleingeld in meinen Taschen. Mit zwei fünfzig wollte sich der Bratwurstmann die Bratwurst aus Thüringer Landen honorieren lassen. Ich wollte mich über den kurzen Brühwurstknuppel, dem jegliche Verbindung zu Thüringen gekappt, nicht aufregen. Doch als man mir diesen Wurstkrüppel in ein Fladenbrot deponierte und dem ganzen noch einen extra großen Löffel voll von Tsatsiki beilegen wollte, musste ich doch einmal fragend meine Stimme erheben: „Was stellt das dar?“
„Türünker Bratwurst, Brot, Soße. Du hier sehen!“
„Die Wurst hat Thüringen nie gesehen. Eher tragt ihr hier die Thüringer Esskultur zu Grabe!“
„Esskultur, zu Grabe? Du weißt nicht was ist Esskultur, Anhalter du! Macht alles ihr in Büchse. Wurst in Büchse, Fleisch in Büchse, Soße …“
„Was geht mich das an? Ich bin Sachse!“
„Was, du Sachse? Wo machen du Wurst hin, hä?“
Auch wenn mir unsere guten alten Einweckgläser in den Sinn kamen, kam ich mir doch ein wenig verscheißert vor. Diese Triumpf wollte ich diesem türkisch-thüringer Bratwurstmann nicht gönnen und lenkte zurück zum aktuellen Wurstunfall: „Und was soll das mit dem Brot? Und wieso kein Brötchen? Und untersteh dich das Tatzschikiz-Zeugs da drauf zu manschen!“
„musst nicht nehmen Soße, ja. Nur wenn willst du. Und Brötchen hat Frau letzte junge. musst nicht nehmen Brot, nur wenn willst …“
„Wie? Junge Frau!“
„Da, die da!“, zeigte der Bratwurstmann hinter mich in Richtung Grabs Kreolenzelt, an welchem ich meinen Rundgang gestartet hatte. Und wen seh ich da mir zuwinken? Nicht einfach nur winken, nein! Sie musste mir mit einem halben Brötchen zwischen den Zähnen zuwinken. Natürlich war es nicht irgendein Brötchen. Es war das Letzte!
Sie ist das Letzte, diese moderne Zelthexe, welche gleich bei stand und blöd dazu grinste. Dazu rührte sie mit ihren Fingern in einer Dönertasche und kaute anscheinend die Bratwurst mit Soße. Zumindest verriet es ihr Kinn, von dem es klebrig zu Boden tropfte. Stand nicht auf einem ihrer selbstgeklöppelten Plakate: Der Erste wird dein Letzter sein! Ich wünsch ihr noch viele Weltuntergänge. Jeden Tag mindestens zwei. Zwei – und die in Form von Durchfall, haltlosem Durchfall. Ich gönn es ihr und dieser Grabs gleich mit. Signalisieren mir doch ihre zwei rot und grün lackierten Mittelfinger Verachtung auf Dauer.
So recht kann ich mich nicht beruhigen. Der Wille ist da, doch irgendwie … geht nicht. Und so gebe ich auffordernd kund: „Senf!“
„Wie, du meinen?“
„Senf, ich nehm dann Senf!“
„Senf, nein, kein Senf! Soße ja, Senf aber …“
„Ist gut nun, ich hab’s ja. Oder hältst du mich für …?“
„musst nicht nehmen Soße. Nur wenn …“
„… wenn willst du! Richtig! Aber ich will nicht, ich will dann ohne nehm!“
„Gut. Dann ohne du nehmen, gut.“
Der Handel um diese Wurstkatastrophe hatte ein Ende. Endlich! Mit zwei Zwei-Euro-Stücken wollt ich diese Thüringer-Bratwurst-Schändung eigentlich bezahlen und hör mich doch allen Ernstes: „Stimmt so!“, sagen.
„Danke, oh danke, danke.“
„Wie, was? Ich, äh … Ja, äh … na gerne doch.“ Es schien nicht mein Tag, so wie das lief.
„Und Weihnachten frohliche! Frohliche Weihnachten, du guter Mann, du!“
Guter Mann? Der will mich doch verscheißern! „Ja, ebenso frohliche Fest, Herr Bratwurstmann.“ Was sonst auch? Heißt es doch nicht umsonst – Frohlocken!
Nur fällt mir die Frage ein, wieso nicht Frühliches? Diesem Grillmeister aus anatolischen Landen müsste doch so ein Einfaches „ü“ problemlos über die Lüppen schwüppen? Es kann natürlich aber auch sein, dass es ihm selber albern vorkäme, wolle er mit seinen Grillwurstkuriositäten frühlück…
„Ho, ho, ho!“, riss mich der Nikolaus aus meinen Gedanken. Nanu, den Keks verließ es wohl an Wirkung? Hat sich Rocco in seinem Mischungsverhältnis vertan? Zu viel Teig, zu wenig Kräuter? Oder verscherbelte Rastarocco doch vom aller Feinsten? Wenn das mal gut geht, Rocco! Kennt sich doch der gemeine Osmane aus mit Mohn und Gras und edlen Kräutern!
Ein zweites „Ho, ho, ho“ verriet Begeisterung. Abschreg lobte ein kleines Mädel, welches von ihrem Bruder an der Hand gehalten und von ihrer Mutter, der Schreckschraube, lautstark in den Himmel gehoben wurde. Sie könne wohl eine weihnachtliche Weise performen, dass dem Nikolaus die Spucke weg bliebe. Die Kleine selber wusste nicht, wie ihr geschah. Alles was sie in dem Moment konnte, war ängstlich den Kopf einziehen. Ihr Bruder, welcher ungefähr zwei Jahr älter, schob sie fies grinsend zum Mikrofon. Auch wenn das Mädel quengelte und versuchte, sich dieser Tortur zu entziehen, pries ihrer beider Mutter das Kind als nächsten deutschen Superstar: „Wenn schon nicht mehr in diesem, dann vielleicht im nächsten Jahr …“
„… Tausend bestimmt!“ Der Bratwurstmann sprach laut aus, was ich leise dachte. Was Abschreg dazu veranlasste, durch seinen künstlichen Gesichtspullover mit der Mutter liebäugelnd, streng um Ruhe zu bitten. Und schon setzte die Kleine, welche auf den Namen Lena reagierte, an. Nur als nächster Superstar nicht einfach so. Das Kind performte, wie von der Mutter versprochen, ihre festliche Weisheit. Performte! Kein Mensch scheint in der heutigen Zeit noch ein Lied zu singen oder gar ein Gedicht aufzusagen. Man performt! Was für ein neudeutscher Unsinn!
Zu meinem Erstaunen erhob Lena ihre beiden Hände, als wollte sie nicht nur das kleine Kleinkindkettenkarussell segnen, überflog ihr ernster Blick die Anwesenden. Und dann endlich, Lena setzte an: „Lieber, guter Weihnachtsmann! Schau mich …“
Ich muss das jetzt nicht vervollständigen. Doch wie sie diese traditionelle deutsch-weihnachtliche Belästigung schmetternd unters Volk brachte, möchte ich fast meinen, war beängstigend! Mit vollem Körpereinsatz … (ja, ich gab mich geschlagen) … performte sie diesen festlichen Hörsturz. So, wie diese kleine Lena diesen Vierzeiler hier zum Besten gab, genau so könnte ich mir Katharina Thalbach vorstellen Schillers Taucher zu zelebrieren. Das fiel mir bei weitem leichter, als dem Mädel hier auch nur eines meiner Ohren zu schenken. Das hätte was! Aber das? Das geht ja mal gar nicht! Auf Lob und warme Worte hoffend, starrte die Mutter den Nikolaus an. Doch kein Bravo, kein Applaus, kein gar Nix wollte Abschreg über seine Lippen kommen. Eher wich er nach hinten zu einer, auf einer Staffelei stehenden Tafel, von wo er dann doch noch, erkennbar genervt, kundtat: „Ja, danke! Ganz schön war das schon, ja.“
Er schien seinem Namen alle Ehre zu machen. Als Gesamtprodukt schien die Summe aus Kind und Vortrag abschreckend auf Abschreg zu wirken. Dazu machte er noch zwei Schritt zur Tafel, nahm ein Stück Kreide und machte einen Strich hinter einer Vielzahl von schon aufgekreideten Zaunsfeldern, um knurrig seine Enttäuschung nicht nur der Lena zu offenbaren: „Du bist schon Nummer sechsundsechzig für mich! Aber…“, schüttelte er ungläubig seinen Kopf, das es beinah seine Mitra verschob, „… keine Sprachfehler du haben! Das gut, ja? Du erste ohne stottern heute, ja! Dafür ich dir eine Überraschung … eine besondere Überraschung will ich dir schenken! Gleich lassen ich Bombe platzen!“ Dazu griff er Spannung verbreitend in das Inlett seines schweren Mantels. Mit großen Augen verfolgten die drei und ein paar neugierige Passanten, Bratwurstmann und mich inbegriffen, Abschregs Treiben wie Groupies direkt am Bühnenrand. Dann endlich, jetzt drehte er richtig auf: „Oh, ich kann schon fühlen. Gleich ich haben Überraschung! Oh ja! Oh wie ich fühle.“
Ich weiß ja nun nicht, mit was diese Mutter von diesem zukünftigen Superstar gerechnet hatte, was Abschreg, dieser Nikolaus da so fühlte. Völlig außer sich klatschte sie beinah apathisch, ihre dem Anschein nach geistesabwesende Tochter lockend, in die Hände. Der zukünftige Superstar hätte sich doch bitte gefälligst zu freuen, wenn der Nikolaus sich schon so mühte! Doch wie er die Überraschung, die Bombe, aus seinem Mantel zog, zog sich der Mutter Gesicht derart nach innen, das ihre aufgespachtelte Gesichtsstraffung akut drohte zu splittern.
„Tataah! Die Überraschung für kleine Lena! Bittescheen!“
Kann es sein, dass Türken, vielleicht auch Kurden oder der Osmane schlechthin, im Besitz von seltsamem Humor? Falls das so, sollte man den einheimischen Ureinwohner aufklärende Worte zukommen lassen. Zumindest hätte es uns allen besser getan, wär diese Familie davon in Kenntnis gesetzt worden. War die Kleine doch echt überrascht, wie sie nach dem bunten Umschlag griff, welchen Abschreg ihr reichte. „… D…da… Danke“, fing sie dann doch noch das Stottern an.
„Was ist das?“, riss Mutter das Papier an sich und zog eine Art von Urkunde ins Licht. „Ein Gutschein?“, konnte sie ihre Enttäuschung nicht unterdrücken.
„Nicht irgendein Gutschein, Frau. Ein Besondere!“
„Ein Besonderer? Was soll der Quatsch?“, begehrte sie lautstark auf. Woraufhin die Lena sich meldete: „Mama, nicht schreien, bitte!“
„Ich schrei ja gar nicht“, wedelte sie mit neuneurologischem Knacks und dem Gutschein in der Luft. Dass sie nah der Hysterie schrie: „Für’n Dönerstand?!“ Mehr Feststellung als Frage, musste sie, auf eine vielleicht doch erhoffte Antwort, diese sich selber geben. Abschreg selber übermannte die Neugier: „Na, wie ist schön? Wie sich freut kleine Lena da?“
Was die kleine Lena veranlasste, lauthals loszuheulen.
„He, was nicht richtig? Was nicht ist korrekt, hä?“
„Wie, was nicht korrekt? Das woll’n wir nicht, du Knusperkopp. Wir woll’n das da!“ Lenas Bruder hatte seinen Auftritt, den Mutter so einfach nicht stoppen konnte oder im ersten Moment auch nicht wollte. Doch als der Bengel: „Dich machsch kaputt!“, rief, erkannte sie ihre Pflicht und korrigierte Justin, so dessen Name, von der Bühne. Justin reagierte prompt: „Komm glei!“
„Nein, sofort Justin!“
„Erst wenn ich was aus dem Sack hab! Ich will was aus dein Sack, Nik!“, grölte er Abschreg an, das dieser zur Seite und noch weiter nach hinten wich. „Eh man, hörst du mich nicht, du Weihnachtsmann du? Ich will was aus deinem Sack!“
Justin, seines Zeichens minderbemittelt, schnallte natürlich nicht, dass dieser Sack nur Deko. So war es ihm egal und er pochte auf den Inhalt. Er fuchtelte mit seinen dürren Armen in der Luft, dass der Mikrofonständer dem ersten Schlag schon erlag und zu Boden stürzte. Dazu stapfte der Bengel mit dem Fuß auf, das es nur so aus den Boxen schepperte. Die Mutter, die mit ihrem verkannten Superstar schon unterhalb der Bretter die die Welt bedeuten, versuchte noch einmal ihr Glück: „Komm Justin, lass ihn in Ruhe. Wir wollen besser mal gehen!“
„Ich geh nicht ohne den Sack!“
Oha, jetzt wollte er den ganzen Sack. Schon stand er wieder vor Abschreg, welcher abwehrend den Justin zur Ordnung rufen wollte. Da holte der doch allen Ernstes dieser mit seinem Schnürstiefel beschuhtem Fuß aus und wollte dem Nikolaus mit voller Wucht gegen das Schienbein treten. Doch machte Abschreg noch einen Schritt nach hinten. Es ging auch nur noch einer, denn da stand schon der alte Sessel. Und so wurde dieser Rücktritt sein letzter. Er fiel in den Ohrensessel mit so viel Schwung, dass dieser nicht nur nach hinten kippte, nein, denn dadurch, dass er schon gefährlich weit an der Kante stand, stürzte der Nikolaus mit seinem alten Ohrensessel von der Bühne in den bestimmt einen Meter tiefen Abgrund. Unschön ist, wenn man, wie in dem Fall der Nikolaus, sich noch das Kabel vom Mikro um Fuß gefitzt hat, sodass es ungewollt dem Untergang überlassen und als Gesamtpaket, Mikro plus Ständer, mit in die Tiefen dieses Dilemmas gerissen wurde. Und so konnte ein jeder, und nicht nur im weihnachtlichem Atrium, das letzte Wort von Abschreg dem neuanhaltinischen Nikolaus hören: „Pislik!“
Das hatte dann wohl ein Jeder verstanden, selbst Justin. Leicht verdattert wegen Abschregs vorzeitigem Bühnenende, den Sack vergessend, schlich er von der Bühne seiner besorgten Mutter hinterher. „Kannst du nicht einmal hören, wenn ich dich rufe? Was da hätte passieren können! Zur Strafe isst du meinen Döner mit!“
„Wie, du willst die Döner holen?“ Angewidert verdrehte er seine Augen. Doch war Mutter der Meinung: „Einem geschenkten Gaul, guckt man nicht ins Maul! Und jetzt gib Ruhe, Justin!“
Wer da nun wessen Döner nicht essen tat wollen tun, wollte mich nicht mehr interessieren. Ich drehte ab und sah noch einmal in diese weihnachtliche Runde. Gripsy und Rastarocco ablaudierten noch wie verrückt. Dazu zeigte mir Gripsy ihre Daumen, welche mir, auch wenn nicht unbedingt die größten, als echte Siegertypen entgegen strahlten. Grabs hatte noch immer denselben Krampf an Händen. Dafür signalisierten mir zwei Finger an der Rechten des Mediums mit den Kalkresten am Pendel: Man sieht sich!
Na wie schön, hab ich wohl ein wenig Eindruck hinterlassen.
Die beiden Dönertürken halfen derweil Abschreg aus den Katakomben, direkt wieder ans Licht. Waren sie doch gleich geeilt, um die Blamage so gering wie möglich zu halten. Dann saßen sie alle drei am Bühnenrand, baumelten mit den Beinen und schienen über den Sinn eines Weihnachtsmarktes zu sinnieren. Auch Abschregs Milchbubi hatte mir und den Nachbarn zum Spaß seinen grammatikalischen Fehlschlag mit Hilfe von übertapeziertem Klopapier und Fettstift korrigiert.
Jetzt stand da zwischen all den internationalen Schriften in roten Lettern:
– Teppich-Fliegen nicht können fliegen –
Dass dieser nicht tut nachzudenken! Doch darüber sollen sich andere mit Abschregs Setzling streiten. Setzling, kann man ja so sagen, sitzt der Junge doch schon wieder auf seinem Stapel Abtreter wie auf ’nem Abtritt. (Wenn jetzt einer hier nicht weiter weiß? – Wortspiel! Eine Stelle wo man kann einem kurzen Gelächter frönen. Falls wer für solches anfällig ist.)