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Vorspiel Der Schmerzensmann
ОглавлениеRegen prasselt auf das hölzerne Dach der kleinen bretonischen Kirche. „Welcome to the historic Church of Cléguérec“, begrüßt der Fremdenführer die kleine Reisegruppe in hörbar ungeübtem Englisch. Klackend fährt der Metallschlüssel in das Schloss, und die Tür zum Kirchenschiff öffnet sich. Durch die Fenster dringt fahles Licht. Kurt, ein weiterer Deutscher, zwei Engländer und zwei Iren treten zögernd ein. Albert, der Fremdenführer, beginnt seinen Vortrag über die Geschichte des im 15. Jahrhundert erbauten Gotteshauses. „Viel wird er in diesem abgelegenen Teil der Bretagne fast ohne Touristen nicht zu tun haben“, denkt Kurt.
Nach wenigen Minuten löst sich Kurt von der Reisegruppe und schlendert allein auf den Altar zu. Neben dem Abbild des gekreuzigten Jesus Christus, grob aus Granitfels geschlagen, entdeckt er eine hölzerne Figur. Ungefähr so groß wie ein zehnjähriger Junge. Der rötliche Kopf ist haarlos, die starr ins Nichts blickenden Augen haben keine Lider, der Mund hat keine Lippen. Die Zähne ragen hervor, fast wie bei einem Totenkopf. Die Nase ist durch zwei Löcher nur angedeutet. “Das ist unser Saint-Barthélémy, der heilige Bartholomäus“, hört er Albert sagen, der plötzlich hinter ihm aufgetaucht war. Kurt tritt einige Schritte näher an die Figur heran. Erst jetzt erkennt er, dass der kleine nackte Eichenholzkörper des Bartholomäus viele senkrechte Schnitte aufweist. Es sind tiefe Schnitte, Verletzungen. Als hätte jemand den Bartholomäus vom Kopf bis zu den Füßen absichtlich mit diesen Schnitten übersät, fast geschändet. Auf dem braunrötlichen Untergrund des Holzes der Skulptur war Kurt das zuerst nicht aufgefallen.
Fragend schaut Kurt Albert an. „Das sind doch Wunden, überall blutende Wunden, am ganzen Körper.“ Albert nickt und zeigt auf den rechten Arm der Figur. Halb abgewinkelt vom Körper hält Bartholomäus ein Messer in der Hand. Die scharfe Schneide ist dem Körper zugewandt. Über dem angewinkelten linken Unterarm, fest an den kleinen Holzkörper gedrückt, hängt eine Art grauer Stoff, so als trüge die Figur einen Vorhang oder ein Kleidungsstück mit sich. Auf diesem Tuch ist ein bärtiges Gesicht zu erkennen. Der Kopf hängt schlaff herab. Dort wo die Augen sein sollten, sind nur kleine Löcher. Ein flach gedrücktes Gesicht. Von der Taille abwärts hängt es in ordentlichen Stoffbahnen herab. Die Haltung dieser Figur ist Kurt seltsam vertraut. So hält auch er seinen Arm, wenn der Vater ihm Stoffe zur eiligen Lieferung an die Bekleidungsfirmen am Berliner Hausvogteiplatz mitgibt. Oder wenn die Mutter ihn bittet, Vorhänge in die Wäscherei zu bringen.
„Ja, mein Junge, das sind Wunden. Der Apostel Bartholomäus starb einen furchtbaren Tod. Aber kennst du denn diese Geschichte nicht?“ Kurt schaut. Dann schüttelt er seinen Kopf. „Soll ich sie dir erzählen?“ Kurt schaut noch immer. Dann nickt er „Bartholomäus hat Gottes Wort verkündet. Dafür haben sie ihn ermordet. Sie haben mit Knüppeln auf ihn eingeschlagen. Dann haben sie ihn auf einen Tisch gespannt und ihm bei lebendigem Leib die Haut abgezogen.“
Albert zieht aus seiner Hosentasche ein bretonisches Taschenmesser, wie es Kurt schon einmal bei den Fischern von St. Malo gesehen hatte, wenn sie die Köpfe der Fische abschnitten. Albert klappt es auf und deutet mit der Klinge kleine Schnitte auf seinem Jackenärmel an. „So ähnlich haben sie es mit Bartholomäus sicher auch gemacht.“ Kurt schwindelt bei dem Gedanken an die Schmerzen, und die Kälte im Kirchenschiff lässt ihn plötzlich frösteln. „Und daran ist Bartholomäus auch gestorben?“, fragt Kurt. „Nein“, antwortet Albert kurz und steckt sein Messer wieder in die Hosentasche. „Was hat er denn dann gemacht?“ „Er hat sich vom Tisch erhoben. Dann hat er seine Haut über den Arm genommen. So wollte er einfach davongehen.”
„Mit der Haut über seinem Arm?“ Verständnislosigkeit und Faszination mischen sich in Kurts Blick. „Oui, mein Junge. Natürlich haben sie ihn nicht gehen lassen. Sie haben ihn festgehalten. Dann haben sie ihm den Kopf abgeschlagen.“ „Das sind Legenden, nicht wahr?“
„Ja, mein Junge. Man nennt das Legenden. Ein Mensch ohne Haut, der Körper vereitert, ohne Schutz. So wurde Bartholomäus zum Schutzpatron der Aussätzigen, der Leprakranken. Sie haben seine Statuen und Bilder um Beistand und Hilfe angefleht. Aber die Leute hier sind auch praktisch. So wurde der Bartholomäus im 17. Jahrhundert auch zum Schutzpatron der bretonischen Gerber und Flachstuchhändler. Die Häute und Pelze von Füchsen, Kühen und Frettchen waren begehrt bei Pariser Schneidereien. Flachstücher aus der Bretagne gingen meist an die Hutmacher, für ihre opulenten Kreationen. Die Pariser Näherinnen bauten daraus auch Krinolinen für die hohen Herrschaften. Das brachte den Händlern der Bretagne Wohlstand, und so wählten sie den Bartholomäus als Patron aus.“
Albert zuckt die Schultern, als kenne er die ganze Geschichte auch nicht so genau. Für Kurt hört sie sich nachvollziehbar und trotzdem grausam an. Anschließend lässt der Fremdenführer Kurt stehen und beginnt, die Architektur der kleinen Kirche in Cléguérec zu erklären, während Kurt seinen Blick nicht von der Skulptur lösen kann. Es ist gut, denkt er, dass seiner in der Kirche gedacht wird. Und trotzdem versteht er nicht recht, dass in einem Gotteshaus solch grauenhafte Dinge dargestellt werden. In seiner Synagoge in Berlin, die er nach seiner Bar Mizwa selten genug besuchte, gab es solche Skulpturen nicht.
Vielleicht, sagt er sich, gehört es zum Christentum, solche Dinge den Gläubigen nahezubringen. Vielleicht haben Christen deshalb eine so große Angst vor ihrem Gott.
Er nimmt sich vor, sofort nach seiner Rückkehr nach St. Brieux seinem Vater von dem heiligen Bartholomäus zu berichten, ihn nach seiner Meinung zu fragen. Und Kurt ahnt, dass er diesen Ausflug in Erinnerung behalten, dass das Bild des Bartholomäus in ihm bleiben würde. Wieder draußen vor der Kirche verabschiedet sich Albert von der Reisegruppe, kassiert einige Francs und fährt mit seinem Auto davon. Während die beiden Engländer und die Iren in ein Gespräch vertieft sind, kommt der deutsche Tourist auf Albert zu.
„Na, wie hat dir denn dieser rohe Fleischklops gefallen, den du dir so lange in der Kirche angeschaut hast?“ „Oh, es ist … beeindruckend.“ antwortet Kurt. „Machst du Ferien hier?“ „Ja.“ Und mit einem Anflug von Stolz: „Mit meinen Eltern. Wir sind aus Berlin und mit dem Schiff hier hergekommen.“ „So, mit dem Schiff.“ Dann, plötzlich, mit scharfem Ton: „Jude, was?“ Kurt ist überrascht und auch verängstigt. „Ja.“ „Das habe ich sofort gesehen. Unsereins sieht das sofort. Dann merk dir mal eines, mein Junge. Das, was dieser Bartholomäus erlitten hat, das wird euch Juden auch noch passieren. Das ist die Strafe dafür, dass ihr unseren Jesus ermordet habt. Vergiss das niemals.“
Sechs Tage zuvor waren Kurt und seine Familie in die Ferien aufgebrochen. Die Abreise war wie immer chaotisch. Als sie endlich alle zusammen im Zugabteil saßen, war Kurts Vater Isidor völlig außer Atem. Seine Mutter suchte nun schon zum dritten Mal ganz nervös nach den Pässen, die sein Vater immer nur „Papiere“ nannte.
„Nun hör doch endlich auf, alles immer wieder auszupacken“, fauchte er sie an. „Ich habe alles bei mir, die Papiere, Fahrkarten, die Reservierungen“, versuchte er seine Frau zu beruhigen. Kurt ertrug das Gezänk seiner Eltern nur schwer, obwohl es ihm seit seinen frühesten Kindertagen vertraut war.
Schon Wochen vor dem Ferienanfang waren seine Eltern fast nur noch mit den Reisedokumenten beschäftigt. Sobald sie Berlin verließen, waren sie besorgt. „Wenn ein Jude verreist“, sagte Isidor Ehrenfried immer wieder, „muss er dafür sorgen, dass er besser als andere vorbereitet ist. Wir wissen ja nie, was so alles passieren kann.“ Kaum kam Kurts Mutter auch nur in die Nähe der Schublade mit den Reisedokumenten, bat sein Vater sie, die Papiere ja nicht anzurühren. Kurt verstand den angeblichen Zusammenhang von Ferienreisen und jüdischer Herkunft nicht. Er hielt diese Ängste auch für völlig übertrieben. Sie belustigten ihn fast. Denn schon vor Kriegsbeginn 1914 fuhren die Ehrenfrieds im August regelmäßig von Berlin nach St. Malo in die Sommerfrische. Dabei war noch niemals etwas Schlimmes passiert. Im Gegenteil, Kurt hatte viele gute Erinnerungen an die Bretagne, an die Strände, die Crêpes mit Zucker, die Tartes aux prunes und die alten Pensionen, die Chambres d‘hôte, in denen die Familie übernachtete. Die heimkehrenden und zerschundenen Soldaten aus den Schlachten im Frankreich des Weltkriegs, die kannte er zwar von den Straßen in Berlin und aus den Zeitungsberichten. Da sein Vater nicht als Soldat gedient hatte, ging das aber weitgehend an ihm vorbei. „Die Bretagne“, sagte Isidor Ehrenfried immer wieder ganz undeutsch und den verlorenen Krieg ignorierend, „das ist ein guter Ort, es gibt dort kaum Juden, und wir haben da nicht die Sorgen, die wir hier in Berlin haben.“
Kurt wusste fast nichts von den Sorgen, die seinen Vater so bewegten. Und warum sollte es gut sein, keine Juden um sich zu haben? Schließlich machte sein Vater einen großen Teil seines Umsatzes mit jüdischen Geschäftsleuten. Er traf sich jeden Tag mit Berliner Juden, mit Posener Juden, um Geschäfte im Stoffhandel und mit Schneidereizubehör zu betreiben.
Kurt kannte diese Begegnungen seit seiner Kindheit, die er zu einem nicht geringen Teil im Geschäft seines Vaters verbracht hatte. Kurt half beim Abmessen der Stoffbahnen, beim Einwickeln der Bestellungen in festes Packpapier. Und manchmal lieferte er selber kleinere Bestellungen mit dem Fahrrad in die Konfektionsfirmen am Hausvogteiplatz, der Krausenstraße und der Mohrenstraße. Erst als er immer mehr für sein Abitur arbeiten musste, blieb er dem väterlichen Geschäft fern.
Abbildung 1 : Die Kürschnerei-Werkstatt der Konfektionsfirma Lindemann in der Berliner Mohrenstraße 44 im Jahre 1930
Dieses langwierige Feilschen um Preise. Diese ständigen Versuche, den Geschäftspartner zu übervorteilen. All dies in jiddischer Sprache, die Kurt zwar verstand, aber nicht sprechen konnte und auch nicht sprechen wollte. Die immer neuen Händler, die versuchten, seinem Vater neue Waren aufzuschwatzen, all dies ging ihm, je älter er wurde, immer mehr auf die Nerven. Insofern verstand er sehr wohl, dass sein Vater sich nach Ruhe sehnte. Plötzlich hörte er draußen am Bahnsteig den scharfen Pfiff auf der Trillerpfeife des Zugschaffners. Der Zug ruckte beim Anfahren, und dann ging die Reise los, von Berlin nach Hamburg. Kurt hatte sich einen Fensterplatz im Abteil ausgesucht, das hatte er sich schon bei der Buchung zusammen mit seinem Vater im Reisebüro der Deutschen Reichsbahn in der Fasanenstraße gewünscht. Dort buchte sein Vater immer die Urlaubsfahrkarten, jedes Jahr die gleiche Reise. Zuerst nach Hamburg, dann auf das Schiff in Richtung Saint-Malo in der Bretagne.
Die Schiffskabine der Ehrenfrieds würde ein Außenfenster haben, darauf hatte seine Mutter bei der Reservierung bestanden.
„Wenn ich nicht rausschauen kann, werde ich seekrank“, behauptete sie einfach. Isidor war nichts anderes übrig geblieben, als diesen Grund zu akzeptieren. Das hektische Familientheater ums Koffer packen und Geld umtauschen war vor jeder Reise das Gleiche. Kurt kannte das schon. Seine Mutter nahm immer eine Reisetasche mit Proviant und einen kleinen Koffer mit einer Art von Picknickgeschirr mit. Noch bevor sie in Hamburg ankamen, hatten er und sein Vater mehr als die Hälfte der belegten Brote gegessen und die Thermoskanne mit Kaffee geleert. Als Zuglektüre diente seinem Vater ein deutsch-französisches Wörterbuch. Leise murmelte er die Vokabeln vor sich hin und wiederholte jedes Wort gleich mehrmals, als ob das seine Französischkenntnisse verbessern würde. Noch bevor die Ehrenfrieds dann im Hamburger Hafen ankamen, hielt Isidor eine kleine Ansprache an seinen Sohn: über den Sinn von Fremdsprachen und wie sich die Jugend damit ganz neue Berufsaussichten schaffen könne. In diesen wenigen, aber lästigen Minuten der Belehrung betrachtete Kurt seinen Vater mit etwas mitleidigen Augen. Ahnte er doch, und seine Mitschüler hatten es ihm im Gymnasium oft genug gesagt: Ein Jude kann niemals zu einem anderen werden, selbst wenn er fremde Sprachen fließend spricht. „Der Jud bleibt Jud“, hatte selbst sein Lateinlehrer ihm einmal gesagt, „egal was er tut“. Dabei hatte er das letzte „t“, ganz bewusst betont und die vier jüdischen Mitschüler in seiner Klasse dabei provozierend angeschaut.
Kurt wusste, dass sein Vater oft versuchte, seine so sichtbare jüdische Herkunft zu verbergen. Vor allem dann, wenn er mit nicht jüdischen Berliner Kaufleuten zusammen war. Kurt war das nicht etwa unangenehm. Vielmehr störte ihn, dass seine Mutter meinte, er sähe doch dem Vater sehr ähnlich. Und so tat er Vieles im Schulalltag, um genau diesen Eindruck zu vermeiden. Er war modern, er war nicht der „Jud“, sondern lebte im 20. Jahrhundert, kannte die Musik der Zeit, sprach zwar etwas Berliner Dialekt, aber immerhin fast perfektes Hochdeutsch, er zwang sich dazu. Das Jiddische war ihm zuwider. Was wollte er schon von der Herkunft seines Vaters und der Großeltern wissen?
Die Frankreichreisen sollten Kurt vor allem helfen, sein Französisch fürs Abitur zu verbessern.
Seine Mutter, die er liebte, aber niemals als besonders gebildet wahrnahm, wünschte sich, dass Kurt Lehrer würde. Er sollte es zu etwas bringen. Als Vorbild dienten ihr viele andere Berliner jüdische Familien in Charlottenburg, die meistens eine französische Haushälterin oder ein Kindermädchen hatten und die dann die Kinder gleich in zwei Sprachen erzogen.
Kurt war im guten Mittelschnitt seiner Klasse, obwohl während der letzten Kriegsjahre der Unterricht oft ausgefallen war. Ihm war es ziemlich egal, welche tieferen Beweggründe seine Eltern mit dem Urlaub verbanden. Er hatte sich dieses Mal besser auf die Reise vorbereitet. Nur nicht ganz so, wie seine Eltern es wollten. Kurt hatte zum ersten Mal seinen eigenen Koffer mit, und er hatte ihn vollgepackt mit sportlicher und legerer Bekleidung, die ihm seine Mutter noch kurz vor der Abreise im Kaufhaus Nathan Israel nach einigem Bitten und Drängen gekauft hatte. Kurt, eher hager, für seine 17 Jahre aber immerhin schon 175 cm groß und etwas schlaksig, hatte in der Herrenabteilung des Kaufhauses einige Anzüge anprobiert, schließlich einen dunkelblauen Leinenanzug und gleich mehrere Hemden mit weiß abgesetztem Kragen und umschlagbaren Ärmeln mit Manschetten ausgewählt. Denn endlich wollte auch er Manschettenknöpfe tragen, und die abendlichen Restaurantbesuche boten sich dazu bestens an. In der Freizeit- und Sportabteilung des Kaufhauses Wertheim hatte er schon im Juni zwei Paar Wildlederschuhe gekauft, außerdem englische Loafers für den Strandspaziergang. Ein ebenso elegantes wie praktisches Schuhwerk, ohne Schnürsenkel, einfach zum Hineinschlüpfen. Dazu aus der Sportabteilung bei Nathan Israel eine schwarze Badehose mit weißen Streifen an der Seite – genauso ein Modell, wie er es in einer Modezeitschrift in einem Bericht über britische Schwimmer auf einem Foto gesehen hatte. Kurz, Kurt fühlte sich bestens ausgerüstet für die Abende auf der Fähre, vor allem für den Dinnersaal und fürs Flanieren in der Altstadt von Saint-Malo am Nachmittag. Kurt mochte gute Bekleidung und konnte sich niemals satt sehen an den exzellent gekleideten Frauen, die er auf dem Schiff genauestens zu beobachten pflegte. Aber genau das war nun etwas, was seinem Vater völlig unsinnig erschien. Für ihn waren die eleganten Abendempfänge pure Zeitverschwendung. Auf den vergangenen Reisen hatte sich Isidor Ehrenfried schon meistens um 20 Uhr in die Familienkabine verzogen und schnarchend bis zum Morgen durchgeschlafen. So war es auch diesmal. Kaum hatten die Ehrenfrieds von der Bordbesatzung ihre Kabine zugewiesen bekommen, legte sich Isidor erst einmal hin und schlief sofort ein.
Für Kurt waren die Minuten vor dem Ablegen des Schiffs im Hamburger Hafen die spannendsten. Während seine Mutter die kleinen Schmuck- und Parfümläden auf dem vierten Zwischendeck aufsuchte und nach französischen Parfums durchstöberte, stand Kurt hoch oben an der Reling und wartete auf das Ablegen des laut tutenden Dampfers, dessen drei hohe und fauchende Schornsteine den dicken Dieselrauch in den Himmel bliesen. Mit ihm standen dort noch viele Passagiere, einige winkten wohl Verwandten und Freunden zu, die nicht in Ferien fahren konnten, andere waren einfach fasziniert von dem Lärm der Motoren, die das Schiff bei den engen Wendemanövern im Hafen auf dem Weg in die See erzittern ließen. Abschied, so dachte Kurt, das ist auch ein schönes Gefühl.
Das Fährschiff nahm jetzt Kurs auf die offene See. Der Hamburger Hafen wurde am Horizont immer kleiner. Zielhafen der Fähre war Bilbao. Das war auch der Grund, warum so viele spanische Passagiere an Bord waren. Laut palavernd und aufgeregt liefen die meisten von einer Seite des Schiffes auf die andere, und kaum waren sie dort angekommen, rief irgendjemand wieder etwas von der gegenüberliegenden Seite, und fast alle rannten wie fröhliche Kinder zurück. Fast pausenlos machten sie Fotos, und auch Kurt hatte seine Leica-Kamera mitgenommen. Ihm gefiel das Spektakel, und er machte am Oberdeck auch schnell die Bekanntschaft mit einem spanischen Mädchen. Er schätzte es auf 16 Jahre, und es war sicher auch mit den Eltern auf der Reise nach Bilbao. „How do you like the Ferry?“, fragte Kurt ein wenig unbeholfen. Und mit einem Strahlen, als wäre es ihr eine große Freude, mit Kurt ins Gespräch zu kommen, antwortete sie mit spanischem Akzent, ohne seine Frage offenbar verstanden zu haben: „How do you do? My name is Maria.“ Auch Kurt stellte sich vor, lächelte Maria an und verabschiedete sich. “See you later, Maria“, sagte er und stieg die Treppen zu den Unterdecks hinab, um nach seiner Mutter Ausschau zu halten. Obwohl die Begegnung nicht länger als eine halbe Minute gedauert hatte, hoffte er, Maria während der zwei Reisetage nach Saint-Malo wieder zu sehen. Draußen auf den engen Gängen der Fähre wurde es etwas ruhiger, dafür erklang nun aus dem Schiffsrestaurant Musik. Die Klänge der Swing-Band drangen leise und zart bis in die Kabine der Ehrenfrieds. Kurt war glücklich. Er freute sich auf die Ferien.