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Kapitel 1 Berliner Hitze

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Kurfürstendamm, Berlin, Juni 1935, Café Reimann. Drinnen herrschen Gedränge und Hektik, es duftet nach aufgebrühtem Kaffee und frisch gebackenen Schrippen, nach Kuchen. Von draußen dringt der Krach der vorbeifahrenden Straßenbahnen und Autos. Passanten winken, Droschken hupen. Im Reimann die gestikulierenden und schwatzenden Modeschöpfer, Vertreter, die Zwischenhändler, die Konfektionäre. Ein Bazar im Herzen Berlins. Das Reimann.

Die neuesten und wildesten Branchengerüchte über Auftragslagen, Lieferengpässe und billige Bankkredite. Um Geld geht es fast immer. Und über Spekulationen darüber, welcher Konfektionär welchem Konkurrenten die besten jungen Talente abwerben möchte. Wurde nicht über das Einkommen gesprochen, dann darüber, welcher erfahrene Konfektionär gerade wieder ein neues Auto gekauft hatte oder den Betrieb wechselte. Und der Tratsch: Wer hat gerade mit wem eine Affäre? Wer hat sich in einer der privaten Badeanstalten daneben benommen? Ehrenfried bestellte sich wie fast jeden Morgen seinen Kaffee im Reimann. Immer ohne Milch und Zucker, alle Kellner wussten das, die Bedienung war schnell, hier kannte man sich. Das Reimann war für Ehrenfried so etwas wie ein zweites Büro geworden. Was die Banken und die Wall Street für die Aktionäre waren, das war das Reimann für die Berliner Bekleidungsindustrie. Ehrenfrieds Firma Ehrenfried & Cohn in der Mohrenstraße war nur fünfzehn Autominuten vom Café entfernt; auf dem Weg dorthin besorgte sich Ehrenfried jedes Mal schnell die neuesten Zeitungen und Magazine. Die Mohrenstraße lag inmitten des Berliner Konfektionsviertels, das im Norden vom Prachtboulevard Unter den Linden, im Westen durch die Friedrichstraße, im Süden von der Kochstraße und im Osten durch die Jerusalemer Straße begrenzt wurde. Jedes Mal, wenn Ehrenfried im Reimann saß, hatte er das unbestimmte Gefühl, als hätten er und die vielen anderen jüdischen Cafébesucher ihr Reimann verteidigt und gehalten. Denn etwa vier Jahre zuvor, am 12. September des Jahres 1931, war das Reimann von Nazis überfallen worden. Kurt und Lore hatten an jenem Abend die Synagoge in der Fasanenstraße verlassen, wo sie mit vielen anderen Juden das Rosch ha-Schana, das jüdische Neujahrsfest begangen hatten. Als sie auf die Straße traten, erblickten sie mit Schrecken brüllende Nazihorden. „Prost Neujahr! Juda verrecke! Deutschland erwache!“, so scholl es durch die Straßen. Die Nazis prügelten auf Passanten ein, die sie für jüdisch hielten. Ein älterer Mann in Begleitung einer Dame wurde niedergeschlagen und am Boden liegend mit Fußtritten traktiert. Die Polizei schritt nicht ein. Sie hielt sich zurück. Einige Augenzeugen kommentierten solche Szenen kaltherzig und ungerührt: „Warum tragen diese dicken Jüdinnen auch Pelze und Blumensträuße?“, und: „Die Leute haben recht. Auf der einen Seite Not und auf der anderen Festtagskleider.“ Immer wieder hallten die Parolen über den Kurfürstendamm: „Juda verrecke! Schlagt die Juden tot!“. Die Nazitrupps schlugen die Scheiben des Reimann ein. Schüsse fielen. Einige Cafébesucher wurden schwer verletzt. Die Rädelsführer des Pogroms wurden später zu geringen Geldstrafen verurteilt. Vor Gericht waren sie von Roland Freisler und Hans Frank verteidigt worden. Jetzt, vier Jahre später, waren Ehrenfried und viele andere jüdische Konfektionäre noch immer Stammgäste in ihrem Café Reimann.

Schon während der Fahrt in seinem Mercedes Benz Richtung Reimann hatte Ehrenfried einen Blick auf die Zeitungen geworfen. Politik interessierte ihn, viel wichtiger aber waren die Wirtschaftsseiten mit den Devisenkursen. Obwohl er nun wirklich keinerlei Sympathien für die Nazis hatte, bewunderte Ehrenfried doch die Stabilität der Reichsmark. Nur zu gut konnte sich Ehrenfried an die Inflationszeit erinnern, die Deutschland im Jahre 1923 heimgesucht hatte. Damals hatten manche Händler das Geld nicht mehr gezählt, sondern gewogen: Es waren einfach zu viele Scheine gewesen. Cohn hatte irgendwo die Geschichte von dem Mann aufgetan, der eine Tasse Kaffee getrunken hatte. Sie kostete damals 5.000 Reichsmark. Als der Mann noch eine zweite Tasse bestellt und ausgetrunken hatte, bekam er eine Rechnung über 14.000 Reichsmark. Das Personal erklärte dem entgeisterten Gast: Während er den ersten Kaffee getrunken habe, sei der zweite eben schon wieder teurer geworden. Wer ins Ausland exportierte, für den mussten die Wechselkurse damals jeden Tag neu geschrieben werden. Feste Preise gab es überhaupt nicht mehr – das denkbar miserabelste Klima für alle Firmen, die ihre Produkte exportierten.

Erst mit dem energischen Auftreten von Hjalmar Greeley Schacht änderte sich alles zum Guten. Ehrenfried nannte Schacht immer „Greeley“ und niemals „Hjalmar“, aus voller Absicht und mit fast angelsächsischer Bewunderung. Die steile Abschussfahrt der deutschen Währung fand ein Ende. Die Finanzgrundlagen ordneten sich endlich wieder. Ehrenfried blickte auf Schacht mit Wohlwollen und Bewunderung: Ein erfahrener Banker mit Verstand und internationalen Kontakten, außerdem sprach er fließend Englisch und Französisch – kurz: Greeley hob sich aufs Angenehmste von den lärmenden NS-Propagandisten und einiger noch grobschlächtigerer Nazis ab. Außerdem war der Minister, und davon verstand Ehrenfried mehr als von Politik, stets vorzüglich gekleidet. Im Gegensatz zu Hitler und dessen anderen Ministern trug Schacht eher schlanke einreihige Anzüge, angefertigt von Londoner Schneidern. Oft und lange sah sich Ehrenfried die Pressefotos der offiziellen Empfänge mit Greeley an. Er bemerkte sofort die englische Qualitätsarbeit: an der klaren Linienführung der Kragen und daran, wie genau die eingesetzten Brusttaschen im Jackett bei den meist gestreiften Stoffen passten. Greeley hatte internationales Flair und sah manchmal sogar fast wie ein amerikanischer Politiker aus dem Senat aus. Nur zu gern hätte Ehrenfried die Gattin des Ministers, Manci Schacht, einmal ausgestattet. Aber die trug edelste Couture aus Paris, die trug keine Berliner Konfektion. Nahezu alle Konfektionäre hatten in den vergangenen Jahren schon einmal versucht, Frau Ministerin Schacht zu ihren Modenschauen einzuladen. Immer vergeblich. Wer es wenigstens einmal schaffte, zum Beispiel die Tochter eines Ministers für eine Präsentation zu gewinnen, der sorgte dafür, dass spätestens zwei Tage nach der Schau Fotos davon in den Zeitungen zu sehen waren. Das war blendend fürs Geschäft, für den Ruf— und es brachte manchmal Regierungskontakte ein, die die Händler natürlich nutzen wollten. Denn seit 1928 waren die Exporte von Textilien um mehr als zwei Drittel gefallen.

Geordnete Wirtschaftsverhältnisse. Die waren für Ehrenfried von enormer Bedeutung. In Deutschland und in seiner Firma. Mehr Umsatz, mehr Export! Die Geschäftspartnerschaft zwischen ihm und dem Konfektionär Simon Cohn versprach noch sehr viel. Cohn war der Mann, der in allen kreativen Stilen der Modebranche bewandert war. Gerade waren wieder einmal die Exportzahlen für Fertigkleidung aus dem Hause Ehrenfried & Cohn erfreulich gestiegen.

Schachts Wirtschaftsimpulse förderten eben nicht nur die Schwerindustrie, sondern auch die Konfektion. „Du und Dein Greeley“, so nahmen ihn manche seiner Kollegen ob seiner Bewunderung mitunter auf die Schippe. Die Schachts, so dachte sich Ehrenfried dann bisweilen, die bewiesen, dass es auch eine NSDAP der Marke „Noblesse oblige“ geben kann. Allerdings gab es da ein leichtes Unbehagen: Etlichen Artikeln aus der „Frankfurter Zeitung“ konnte Ehrenfried entnehmen, dass sein Greeley von der völligen Überlegenheit der christlichen Kultur und Weltordnung überzeugt war. Solche Ausrutscher, wie Ehrenfried sie nannte, waren ihm nicht völlig einerlei, aber er fühlte sich davon nicht gleich bedroht. Außerdem war es seit dem April 1933 in Deutschland fast normal, dass die Juden für die Inflation, für den verlorenen Krieg, schlechtes Wetter, Zugverspätungen, kurz: das gesamte Elend dieser Welt verantwortlich gemacht wurden. „Eine Zeiterscheinung, die wird vorbeigehen“, sagte er einmal in einem freilich etwas besorgten Ton.

Jetzt, im Reimann, hatte Ehrenfried auch einige Post aus dem Ausland vor sich liegen. Seine Sekretärin, die er, aber nur in ihrer Abwesenheit, „die dralle Perschke“ nannte, hatte sie ihm zurechtgelegt. Simon Cohn, der aus seiner Homosexualität kein Geheimnis machte, witzelte ständig über die so rechtschaffene Erika Perschke. Sie war ein Fels in der Brandung bei Ehrenfried & Cohn. Wenn es hoch herging im Geschäft, vor allem in der Sturm und Drang - Periode von Januar bis Februar und von August bis September, da blieb die dralle Perschke nicht selten 18 Stunden am Tag im Büro.

Vor sich sah Ehrenfried Korrespondenzen aus Australien, Brasilien, den USA und Kanada, England und Holland. Fast alle enthielten Bestellungen aus den Kollektionen der vergangenen beiden Modenschauen, die er und Cohn in der Mohrenstraße präsentiert hatten. Bestellungen aus Übersee trafen oft mit sechs bis zwölf Monaten Verspätung nach den ursprünglichen Modenschauen ein. Das war einfach so. Die meisten Konfektionsbetriebe nahmen diese Nachzügler zum Anlass, jene Bekleidungsstücke, die in Europa und vor allem in Berlin beim besten Willen nicht mehr verkauft werden konnten, an die Vertreter im Ausland dann doch noch abzusetzen. Was wussten die Käufer im 12.000 Kilometer entfernten Buenos Aires schon von den Mänteln und Kostümen, die seit einem Jahr auf den Kleiderständern der Berliner Lager hingen?

Kaum hatte sich Ehrenfried die Bestellungen aus Übersee angeschaut, wurde er von Max Graumann angesprochen. Ehrenfried und Graumann kannten sich seit gut acht Jahren. Er leitete die gleichnamige und eben auch konkurrierende Mantelfirma in der Taubenstraße. Ehrenfried hatte Graumann noch nie leiden können. Zum einen, weil Graumann unsäglich unmodische Mäntel herstellen ließ. Zum anderen, weil seine Verkaufszahlen viel höher lagen als die Ehrenfrieds. Jedoch: Man kennt sich, und man gehört zum gleichen Verein. Wenn Ehrenfried vom „Verein“ redete, dann meinte er damit die Jüdische Gemeinde zu Berlin. Max Graumann war dort sogar Schatzmeister. Ehrenfried hingegen zahlte seinen jährlichen Obolus mehr oder minder freiwillig; die Synagoge in der Oranienburger Straße kannte er besser von außen als von innen.

Heute war Max anders als sonst, vertraulicher, nicht von oben herab den großen Geschäftsmann spielend, dennoch bestimmt.

Er zog Ehrenfried ein wenig beiseite und deutete mit dem Finger auf eine kleine Meldung in der „Berliner Zeitung“. Ehrenfried las nur die beiden Titelzeilen und wusste, was gemeint war.

„Deutsche Mode“, so stand dort, „ist auf dem Weg nach vorn.“ Und darunter: „Artgemäße deutsche Kleidungskultur ist nicht mehr auf jüdische Produzenten angewiesen.“

Ehrenfried kannte solche Zeitungsmeldungen. Seit 1933 waren sie in ähnlicher Form immer wieder aufgetaucht. Graumann sah nun besorgt aus. So besorgt, wie ihn Ehrenfried nur zu Zeiten der Trennung von dessen erster Frau einige Jahre zuvor erlebt hatte. Die hatte das Weite gesucht, nachdem sie herausgefunden hatte, dass ihr Mann Max seit längerem gleich mehrere Affären gepflegt hatte. Max konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen, seine sehr jungen und hübschen Modelle für die eigenen Modenschauen nicht nur an-, sondern nach dem Dienst und schließlich sogar im Büro, auch auszuziehen. Als er schließlich begann, das eine oder andere Modell mit auf die zweimal jährlich in Paris stattfindenden Modenschauen zu nehmen, da blieb auch Max‘ Frau nicht länger verborgen, worüber das halbe Café Reimann längst Witze riss. Solche Gerüchte, solche Nachrichten ließen sich auf dem Bazar nie ganz verheimlichen. Die Konfektionschefs und die Modeschöpfer kannten sich schließlich bestens. Und der Hausvogteiplatz war für die Modelle, die meist frisch aus den Kunsthochschulen kamen, gerade ihr Studium abgeschlossen hatten und nach Gelegenheitsjobs suchten, eine Art inoffizieller Arbeits- und Kontaktmarkt. Viele junge Modelle starteten hier ihre Karriere, manche beendeten sie bereits nach dem ersten Probelauf.

Graumann fuchtelte nun mit der Zeitungsseite direkt vor Ehrenfrieds Nase herum. „Was soll‘s!“, wehrte Ehrenfried ihn ab.

„Die können doch gar nicht ohne uns. Wir wissen, wie man den Markt bedient, wir wissen, wo die besten exportfähigen Modellideen für unsere Klamotten herkommen.“ Um vor Graumann noch besser informiert dazustehen, warf er die neuesten Exportquoten ein.

„Der deutsche Textilexport lag vor einem Jahr bei knapp 52 Milliarden Reichsmark. Das ist verheerend, schlicht und einfach. Aber wir, wir kennen doch die Abnehmer, die richtigen Banken für Kredite, die Zulieferer. Wir zahlen hohe Steuern, und das alles nicht erst seit gestern.“

Er drehte den Kopf weg und beschäftigte sich wieder mit seiner Post. So ganz wohl war ihm nicht bei der Art und Weise, wie er Graumann angegangen war. Aber dieses ewige Gejammer über die Nazis und wie schrecklich möglicherweise alles noch werden würde – das konnte er nicht mehr hören. Außerdem hatten er und Simon Cohn schon mit den Plänen für die 1936er Olympia-Modenschauen begonnen. Das würde ein wahres Modefeuerwerk werden, es würde Berlin Reputation und der Firma neue Kunden bringen.

Es lief doch gut! Ehrenfried freute sich beim Lesen der Korrespondenz über reichlich eingegangene Bestellungen. Er würde mit der Perschke noch heute über eine neue Hilfskraft im Büro sprechen. Die Stellenanzeige könnte schon in der nächsten Ausgabe des „Konfektionär“ erscheinen. Mit dem Auftragsvolumen, was jetzt, im Juni, schon da ist und einer neuen Kollektion, dachte er freudig, würde er Graumann vielleicht schon bis zum Jahresende im Gesamtumsatz abhängen können.


Abbildung 2: Die letzte Kontrolle vor dem Warenausgang: Modelle helfen bei der Begutachtung von Pelzmänteln des Berliner Konfektionshauses Lindemann Am Hausvogteiplatz im Jahre 1930

Nach dem Kaffee legte er die Korrespondenzen in die Zeitung, eilte zurück in die Mohrenstraße in sein Büro, stellte sich neben die Perschke, um den Text und die Gestaltung der Stellenanzeige zu besprechen. Anschließend musste er sich mit drei seiner Betriebsangestellten unterhalten. Es waren die Schneiderzwischenmeister. Es war das übliche, sich in regelmäßigen Abständen wiederholende Ritual: Die wollten mehr Geld, und Ehrenfried wollte nicht zahlen. Er mochte solche Besprechungen nicht. Für ihn waren das nichts anderes als reine Erpressungsversuche. Nun ging ohne die Zwischenmeister aber gar nichts, weder in seinem noch in irgendeinem anderen Betrieb. Sie bildeten das Scharnier zwischen ihm und Cohn. Sie waren dafür verantwortlich, die Entwürfe in Schnittmuster umzusetzen. Sie waren verantwortlich, die Qualitätskontrollen und die Kalkulation haargenau einzuhalten und all dies mit klaren Anweisungen an die Schneiderwerkstätten mit ihren ameisenfleißigen Näherinnen weiterzugeben, die überall in Berlin zu finden waren.

Was Ehrenfried fast verachtete, das war die Attitüde dieser Leute, dieser Zwischenmeister. Er produzierte in Zeiten der Hochkonjunktur rund 20.000 Bekleidungsstücke pro Monat. Hochindustriell. Trotzdem, so glaubte Ehrenfried, hatte sich an der Haltung der Zwischenmeister seit 300 Jahren nichts verändert. Als ob solche Leute immer noch den Dunst der längst abgeschafften ständischen Handwerkerzünfte verströmten. Die Räume dieser Leute lagen meist im Erdgeschoss. Sie rochen muffig, sie durchwaberte besonders zur Mittagszeit der Geruch von aufgewärmtem Essen und kaltem Tabakrauch. Als Ehrenfried eintrat, saßen seine drei Angestellten bereits an einem fünf Meter langen Tisch, der sonst für Stofflieferungen reserviert war. Die Lehrlinge wurden hinausgeschickt. Kaum hatte Ehrenfried die Tür geschlossen, da stand auch schon Franz Windschild, mit 46 Jahren der älteste der Gruppe, auf und fing mit einer kleinen Rede bedeutungsvoll an.


Abbildung 3: In der Werkstatt der Zwischenmeister der Berliner Konfektionsfirma Lindemann am Hausvogteiplatz im Jahre 1930

Wir haben in den letzten Monaten fast täglich bis zu zwölf Stunden gearbeitet. Der Firma geht’s gut, und jetzt dachten wir daran, dass es an der Zeit wäre, auch unsere Gehälter zu erhöhen, um zehn Prozent.“ Windschild sprach mit diesem harten Berliner Akzent, den Ehrenfried schon bei seinen Kindern immer wieder durch beharrliche Korrektur und Verbesserung ins Hochdeutsche zu bekämpfen versuchte. Windschild setzte sich wieder und schaute Ehrenfried erwartungsvoll an. Ganz offensichtlich hatte er lange an diesem Satz gearbeitet, denn aus seinem Mund klang er wie auswendig gelernt. Ehrenfried nickte und schwieg. „Wie ungeschickt diese Leute doch sind!“, dachte er, ließ sich aber seine Missbilligung nicht anmerken. Der zweite Zwischenmeister, Gerhard Glasow, ein Mittdreißiger, druckste herum und machte eine Bemerkung, wie sehr sich die Zeiten doch geändert hätten. Und dass es jetzt, zusammen mit der Regierung, Grund gebe, sich auf die neuen Zeiten zu freuen. „Was für neue Zeiten?“, fragte Ehrenfried mit kaum überhörbarem ironischem Unterton. Glasow stand auf und legte eine Hand auf die Schulter von Windschild, als müsste er sich dort abstützen. „Wir sind“, sagte er und meinte Windschild und sich selbst, „der Partei und dem Reichsinnungsverband des Damenschneiderhandwerks beigetreten.“ Dann, etwas schärfer im Ton: „Wir wollen nicht mehr, dass wir von nichtarischen Chefs an der Nase herumgeführt werden.“

Ehrenfried war zunächst völlig verdutzt angesichts dieser stakkatohaft vorgetragenen Sätze. Darauf war er nicht vorbereitet. Er hatte von solchen oder ähnlichen Bemerkungen schon von anderen Fabrikanten gehört, aber dass so etwas nun auch in seinem Betrieb passierte, das war für ihn mehr als eine unwillkommene Überraschung. Sein Juniorzwischenmeister David Landauer verhielt sich unbeteiligt, saß stumm auf einem Hocker und schaute zu Boden. Die Zuschneider sollten Ehrenfrieds erste Sprachlosigkeit nicht bemerken. Er wollte keine Zeit verlieren und begann mit einer etwas zu hoch angesetzten Stimme zu sprechen. Er redete über die lange gemeinsame Zusammenarbeit im Betrieb, dass Politik doch Politik bleiben solle und dass es bei der “Ehrenfried & Cohn OHG” um Arbeit und Umsätze gehe, um sonst gar nichts.

Keinerlei Sorgen müsse sich irgendjemand um den Betrieb machen, man werde in diesem Jahr den Umsatz wahrscheinlich um 30 Prozent erhöhen. Noch während Ehrenfried so redete, merkte er, wie seine Konzentration schwand. Die Sätze fielen eigentlich nur so aus seinem Mund heraus. Weil er aber wusste, dass er ein talentierter Redner war, konnte er hoffen, dass niemand seine Ungeschicklichkeit, vor allem seine Fassungslosigkeit, wahrnehmen würde. Fast war er über sich selbst erstaunt. Auf Dutzenden von Verbandsveranstaltungen hatte er schon geredet, und er wusste: Man hörte ihm gerne zu. Wenn ihn Kunden besuchten, war er der beste Unterhalter und als Verkäufer fast unschlagbar. Seine Frau Lore warf ihm manchmal sogar vor, er sei ein Schwätzer, vor allem, wenn er seinen Redefluss nicht kontrollieren konnte, um der leiben Verwandtschaft wieder einmal zu beweisen: Ehrenfried ist ein Mann von Welt. Doch Ehrenfried konnte wirklich intelligent und klug reden; er hörte genau auf das, was sein Gegenüber sagte, griff oft sogar den letzten Satz aus dessen Einlassungen auf und führte ihn dann mit seinen Gedanken fort. Das machte ihn beruflich und privat zu einem beliebten Gastgeber. Lore beobachtete diese Fähigkeit stets mit einem Gefühl von Amüsement und Erstaunen.

„Wenn es ganz hart kommt, “ schlug sie ihm einmal vor, „kannst du dein Geld ja als Rabbiner verdienen.“

Flüchtig dachte Ehrenfried an Lores lächelnd vorgebrachtes Lob seiner rhetorischen Fähigkeiten. Windschilds Bemerkungen arbeiteten in ihm – und er an ihnen. Es gab zwei Möglichkeiten, die Lage zu entschärfen. Ehrenfried könnte, natürlich nach Rücksprache mit Cohn, einer Gehaltserhöhung von etwa sechs Prozent zustimmen und auf die Reaktion seiner Zwischenschneider warten. Aber vielleicht, dachte er, wäre es sinnvoller, Windschild und Glasow als die beiden Hauptstützen im Betrieb sofort mehr in die Firma einzubinden. Das würde auch dieses Geschwätz von Ariern und Nichtariern unterlaufen. Wer im gleichen Boot sitzt, der wird es wohl kaum versenken wollen. Ehrenfried entschied sich intuitiv und ohne die Folgen bis ins Detail zu durchdenken für die Beteiligungsoption und die Gehaltserhöhung.

„Nun schön“, sagte er beschwichtigend und schien die Worte über die nichtarischen Chefs zu ignorieren. „Ich mache Ihnen“, dabei schaute er in die Runde und blickte Glasow, Windschild und auch Landauer der Reihe nach an, „einen Vorschlag. Nach Rücksprache mit meinem Partner Cohn werde ich mich dafür einsetzen, dass Sie alle prozentual am Gewinn der Firma beteiligt werden.“ Niemand antwortete. Also redete Ehrenfried weiter und machte gleich Reklame für seinen Vorschlag. „Sie müssen sich das so vorstellen“, erklärte er wissend und mit sicherer Stimme, „wir stehen mit unserer Geschäftsentwicklung kurz vor einem ganz großen Durchbruch. Wenn sich die Nachfrage aus dem Ausland weiter so gut entwickelt und wir unsere Produkte gut im Wettbewerb halten können, dann können wir bald zu den ersten zwanzig Produzenten der Berliner Damenkonfektion gehören. Die Gewinne, die wir da hereinfahren, werden anteilig unter allen Mitarbeitern verteilt.“ Ehrenfried konnte selbst kaum glauben, was er da an Ort und Stelle seinen Mitarbeitern vorschlug. Und doch verfehlten seine Worte keineswegs ihre Wirkung auf Windschild und Glasow. Nur David Landauer, mit vierundzwanzig Jahren der jüngste Zwischenmeister, verzog kaum eine Miene, zündete sich eine Zigarette an und ging in Richtung des Werkstattausgangs zur Mohrenstraße.

Windschild und Glasow waren offensichtlich perplex. Mit dieser Reaktion von Ehrenfried auf ihren Vorstoß hatten sie nicht gerechnet. Ihr Plan, Ehrenfried völlig kalt zu erwischen, war gescheitert. Sie hatten offenbar gehofft, so jedenfalls deutete Ehrenfried das Schweigen der beiden, dass er sich bedroht oder gar in die Zange genommen fühlte. Indirekt hatten sie ihm vorgehalten, dass er als jüdischer Chef wohl allzu gern einen schnellen Ausweg aus diesem Konflikt gesucht hätte. Natürlich ärgerte es Ehrenfried auch, als jüdischer Chef bezeichnet zu werden, das empfand er schon fast als eine Verunglimpfung seiner Person.

Windschild und Glasow also, die NSDAP-Parteimitglieder, nun plötzlich als Partner und Anteilshaber eines jüdischen Konfektionsbetriebs? Ehrenfried hörte im Innersten Max Graumann aufjaulen. Und Simon Cohn würde ihn für völlig verrückt erklären. Was dann aber geschah, das verwunderte selbst Ehrenfried, der inzwischen nicht einmal mehr den muffigen Essensgeruch in der Werkstatt wahrnahm. Glasow, der schon viele Jahre im Betrieb verbracht hatte und der vor wenigen Minuten noch von Ariern und jüdischen Chefs schwadroniert hatte, wurde ganz zugänglich.

„Das ist ein faires und großzügiges Angebot“, sagte er mit fast gönnerhafter Miene und sah dabei Windschild an. Er wollte wissen, wie hoch der Prozentsatz denn werden könne und verfiel dabei gleich wieder in seine etwas devote Haltung, die er als Angestellter jahrelang wahrlich nicht nur gespielt hatte. Ehrenfried war das jetzt erst einmal einerlei. Es war überhaupt nicht seine Art, alle Karten gleich auf den Tisch zu legen. Noch wusste er ja nicht, welche Trümpfe er hatte.

Erst einmal hatte sein Angebot die Wirkung nicht verfehlt. Ehrenfried hatte Zeit gewonnen, die neuen Geschäftsmodalitäten auszuhandeln und musste nicht über die angeblichen Gräben zwischen Juden und Ariern reden. Das hätten Windschild und Glasow wohl gern so gehabt. Dabei hatten diese Unterschiede für den Aufstieg der Firma „Ehrenfried & Cohn“ überhaupt keine Bedeutung gehabt. „Gut“, sagte Ehrenfried lächelnd und wieder ganz der alte Arbeitgeber, „dann ist diese Versammlung ja jetzt beendet, und wir haben ein Ergebnis. Bitte denken Sie über das Angebot nach. In den kommenden Wochen werden wir konkrete Schritte einleiten.“ Mit der Aussicht auf dieses weitere Geschäftstreffen und dem Hinweis auf die zukünftige gute Zusammenarbeit verabschiedete Ehrenfried sich Richtung Werkstattausgang, vorbei an David Landauer, der im Türspalt stand und alles mit angehört hatte.

Als Ehrenfried in der warmen Sommerluft vor dem Firmengebäude in der Mohrenstraße 24 stand, schaute er auf seine Armbanduhr. Obwohl die Begegnung nur fünfzehn Minuten gedauert hatte, fühlte sich Ehrenfried erschöpft. Er atmete tief durch und sah Landauer an, der jetzt ebenfalls draußen vor der Tür stand. Als Ehrenfried noch ein Kind gewesen war, hatte ihm sein Vater Isidor manchmal Bilder gezeigt. Vergilbte Familienfotos aus Posen. Landauer erinnerte Ehrenfried an manche Gestalt auf diesen Fotos. Familien mit zehn oder gar mehr Kindern waren da zu sehen. Sein Vater, damals noch unverheiratet, hatte seine Familie und seine Heimat im Jahre 1896 auf dem Weg in die große und stürmisch wachsende Metropole Berlin mit ihren vielversprechenden Handelschancen zurückgelassen.

Die meisten Männer auf diesen Fotos trugen eine Kopfbedeckung. Sie sahen sehr biblisch und deshalb fast alle gleich alt aus. Die Männer aus Ehrenfrieds Familie waren in Posen seit gut 80 Jahren fast ausnahmslos im Altkleiderhandel beschäftigt. Denn nur der war den Juden erlaubt. Der Handel, die Herstellung und der Verkauf neuer Bekleidung unterlagen den strengen Bedingungen der Handwerkskammern. Die verlangten einen Gesellenabschluss oder sogar eine Meisterprüfung für die Herstellung von Bekleidung und die Ausbildung von Lehrlingen. Jüdische Schneider erhielten fast nie die Anerkennung der Handwerkskammern. Denn die fürchteten die Konkurrenz und die niedrigen Preise der jüdischen Schneider. Dennoch, das wusste Ehrenfried sehr gut: In den dörflichen und kleinstädtischen Provinzen Posens und Galiziens hatten die jüdischen Schneider in den vergangenen 60 Jahren meist eine ordentliche Ausbildung bekommen. Viele dieser Schneiderwerkstätten waren recht primitiv. Doch trotzdem ging eine große Zahl technisch sehr begabter junger Schneider aus dem Schtetl hervor. Wer von ihnen nach Berlin zog, weil er auswandern wollte oder vor Pogromen fliehen musste, der konnte sich oft gut behaupten. Diese Leute führten dann mitunter Betriebe mit bis zu 30 Arbeitern. Trotzdem hatten die wenigsten ein Interesse daran, sich bei den Handwerkskammern anzumelden. Man hätte sie dort wohl auch kaum als Mitglied haben wollen. Das wusste Ehrenfried von Schneidern, die es versucht hatten.

So siedelten sich im Ostteil Berlins zahlreiche jüdische Schneiderwerkstätten an. Für die Umsetzung der Schnittentwürfe der Berliner Konfektion wurden sie rasch unverzichtbar. Doch schon nach dem Weltkrieg, das hatte Ehrenfrieds Vater erzählt, gingen immer mehr junge Schneidertalente in die großen Firmen der Konfektion. Denn dort konnten sie sehr viel mehr Geld verdienen. Als Ehrenfrieds Vater in Berlin ankam, konnte er rasch ein gut gehendes Geschäft für Seiden und Stoffe in Moabit aufbauen. „Isidor Ehrenfried – Stoffe aller Art“, das stand auf dem Firmenschild über dem Laden, in dem er vier Verkäufer beschäftigte. Kurt Ehrenfried wuchs in Berlin-Moabit auf, ging dort zuerst auf die Grundschule und wechselte an ein Gymnasium in Charlottenburg.

Landauer also sah diesen Männern auf den alten Fotos aus Posen, die Isidor seinem Sohn manchmal gezeigt hatte, sehr ähnlich.

Ehrenfried mochte Landauer – aber er war für ihn auch die Vergangenheit, das Alte Testament, und beides passte, so meinte Ehrenfried, weder in die heutige Zeit noch in seine Lebenserfahrung. Landauer ging nicht ins Café Reimann. Er mied die Revuen und das Kino, er scheute vor den Tanzveranstaltungen der Konfektionsbranche zurück. Stattdessen ging Landauer jeden Freitag und überhaupt an allen jüdischen Feiertagen in die orthodoxe Synagoge. Obwohl gerade mal Mitte 20, hatte Landauer schon drei Kinder. Er lebte mit ihnen und seiner Frau in einer muffigen Wohnung am Prenzlauer Berg.

Ehrenfried wohnte in einem Haus in der Bleibtreustraße. Sieben Räume, neben der Küche ein Aufenthaltsraum und gleichzeitig der Schlafraum für Hertha, die Köchin und Haushälterin der Ehrenfrieds. An der Rückseite des Hauses ein kleiner Garten, um den sich Lore mit Hingabe kümmerte. Ehrenfried hatte sich diesen Wohlstand hart erarbeitet. Und genau deshalb war er oftmals entnervt und verärgert, wenn Landauer zu hohen jüdischen Feiertagen, etwa zu Pessach, Rosh ha-Schana oder Jom Kippur einen Tag frei haben wollte, weil er seinem Glauben nach nicht arbeiten könne – oder, da war sich Ehrenfried niemals ganz sicher, einfach nicht wollte. Ob Landauer nicht wollte oder nicht konnte, dieser Unterschied war Ehrenfried letztlich egal, weil die Wirkung im Betrieb die gleiche war. Landauer war viel öfter außerhalb der Firma als Glasow und Windschild, die höchstens zu Weihnachten einmal nach einem zusätzlichen freien Tag fragten.

Ehrenfried machte Landauer nicht selten Vorwürfe. „Was interessiert es unsere Kunden in Dresden, in München, in Amsterdam, in Wien oder Sydney“, hatte er ihm noch im vergangenen Jahr beim Neujahrsfest vorgehalten, „ob du die Thora lesen oder beten musst?“ Landauer war für Ehrenfried eine stete und ungewollte Erinnerung daran, wo er selber herkam. Und Simon Cohn polterte manchmal: „Landauer ist ein aus dem Zeitrahmen gefallener Moses.“ Auch Ehrenfried hätte ihm das gerne oft gesagt, aber er wollte ihn nicht zu sehr kränken. Landauer war labil und sehr empfindlich. Außerdem war er ein guter Zwischenmeister und vertrat mit größter Sachkunde eine lange Familientradition von jüdischen Schneidern. Jetzt also stand Landauer in seinen ausgewaschenen Hosen vor Ehrenfried und rauchte. Das Rauchen war wohl seine einzige schlechte Angewohnheit, die er zuhause nicht ausleben durfte. Er hatte fast etwas Messianisches an sich.

„Herr Ehrenfried“, fing er sehr bedachtsam an zu reden, flüsterte fast und vermied aus Respekt vor Ehrenfried sogar jeden Anflug von jiddisch oder Berliner Dialekt, „meine Familie und ich werden in einigen Monaten nach England auswandern. Wir haben bereits unsere Papiere aus London bekommen. Ich kann nicht mehr lange für Sie arbeiten.“ Und dann, gleich nachsetzend: „Bitte behalten Sie das aber für sich, und sagen Sie niemandem etwas davon, vor allem nicht hier in der Werkstatt.“ Landauer blickte Ehrenfried nun ziemlich unsicher an. Beide hatten, seit Landauer vor vier Jahren begonnen hatte, für die Firma zu arbeiten, nur sehr selten private Worte miteinander gewechselt.

Einmal allerdings hatte Ehrenfried eher unfreiwillig gleich die ganze Familie Landauer kennen gelernt. Es war Mitte November 1933. Die Mutter von Landauers hochschwangerer Frau Irina rief völlig aufgeregt und fast atemlos in Ehrenfrieds Büro bei der Perschke an. Sie entschuldigte sich immer wieder für diesen Anruf. Im Hintergrund hörte die Perschke Kneipenlärm. Schließlich kam heraus, dass David jetzt sofort nach Hause kommen müsse. Sein drittes Kind würde heute noch zur Welt kommen, die Wehen hätten schon begonnen. So kam es, dass Ehrenfried sich großherzig bereit erklärte, Landauer sofort in seinem fast neuen Mercedes Benz 200 in die Schönhauser Allee 188 zu dessen Wohnung zu fahren.

Ehrenfried liebte es, seine Luxuslimousine zu steuern. Diese mächtige Maschine. Lore hatte ihn oft gebeten, einen Chauffeur zu engagieren. „Kurt“, so sagte sie, „wir können uns das doch leisten. Die anderen haben doch auch einen Chauffeur.“ Aber Ehrenfried wollte das nicht. „Es mag sein“, hatte er entgegnet, „dass Hitler den Staat lenkt. Aber meinen Wagen lenke ich immer noch selbst. Dafür brauche ich niemand anderen.“

Als Landauer in die Limousine einstig, bemerkte er einen missbilligenden Seitenblick Ehrenfrieds. Denn dem war der alte und abgetragene Wintermantel seines Zwischenmeisters aufgefallen. „Wohl vom Vater geerbt“, dachte Ehrenfried. „Furchtbar.“ Noch unangenehmer als diese verschmutzte Kleidung war für Ehrenfried der Anblick, als sich Landauer beim Verlassen der Zwischenmeisterei eine Kippa aufsetzte. Dann zündete er sich eine Zigarette an. Ehrenfried beschloss sofort, keinesfalls über den Hausvogteiplatz zu fahren. Nicht auszudenken, wenn ihn dort jemand aus der Konfektion sehen würde. Er, Ehrenfried, der Chef, chauffiert einen Kippatragenden Mann in einem abgewetzten Mantel. Die Fragen, ja die Missbilligungen, hätten vermutlich kein Ende genommen.

Im Wagen war es kalt. Die Heizung brauchte eine Weile, bis sie Wärme verströmte. Trotz der winterlichen Eiseskälte und des nun einsetzenden Schneefalls kurbelte Ehrenfried das Fahrerfenster hinunter. Lieber wollte er frieren, als den penetranten Zigarettengeruch ertragen zu müssen, den Landauers Kleidung ausdünstete. Ehrenfried beschloss, freundlich zu bleiben, aber das gelang ihm nicht ganz. Er ärgerte sich darüber, dass ein halber Arbeitstag nun so einfach verloren sein würde.

„Hat Ihre Frau denn noch nichts gemerkt, als Sie heute Morgen zur Arbeit gegangen sind?“, fragte er in fast vorwurfsvollem Ton.

„Eigentlich nicht“, antwortete Landauer. Jetzt verfiel er vor lauter Aufregung über die bevorstehende Geburt seines dritten Kindes doch ins Jiddische. Dieses osteuropäisch-jiddische Deutsch überwältigte Ehrenfried; einerseits dachte er an seinen Vater, und das wärmte ihm das Herz, andererseits drehte er seiner Herkunft lieber den Rücken zu und fühlte sich erst einmal als Deutscher und dann erst als Jude.

„Jetzt ist sie ein bisschen früher dran als geplant. Ich bin so aufgeregt! Aber bei den ersten beiden Kindern lief ja auch alles glatt. Außerdem ist Irinas Mutter seit ein paar Monaten bei uns. Die sorgt sich um alles. Die hat schon vielen Gören ins Leben geholfen. Und jetzt werden wir ja dann bald Chanukka mit unserer neuen Rebecca feiern.“ „Wieso Rebecca, woher wissen Sie denn, dass es ein Mädchen wird?“, entgegnete Ehrenfried erstaunt. „Weil die anderen Gören auch Mädchen sind“, erwiderte Landauer etwas rätselhaft und zündete sich schon wieder eine Zigarette an. Ehrenfried ließ das Fahrerfenster geöffnet.

Die Fahrt zur Schönhauser Allee führte über breite Kopfsteinpflasterstraßen in den Nordosten Berlins. Sie waren nur zum Teil vom Schnee geräumt. Immer wieder spritzte während der Fahrt Schneematsch auf. Ehrenfried begann, um seinen Mercedes Benz mit den schicken Weißwandreifen zu fürchten. Außerdem ärgerte er sich, dass Landauer seine Hilfsbereitschaft gar nicht wirklich zu würdigen wusste, sondern ihn über die Schönhauser Allee dirigierte, als befände sich Ehrenfried hier auf völlig unbekanntem Berliner Territorium. Je näher sie der Hausnummer 188 kamen, desto deutlicher hatte Ehrenfried das Gefühl, sich immer mehr von Landauer und seiner großherzigen Hilfe zu entfernen. Hier reihte sich jetzt Wohnblock an Wohnblock: graue, schrecklich aussehende Häuser. Als Ehrenfried den kleinen Turm auf dem Dach des S-Bahnhofs Schönhauser Allee erkannte, waren sie nur noch drei Minuten von Landauers Wohnung entfernt. Ehrenfried versuchte, unmittelbar vor dem Haus mit der Nummer 188 zu parken. Doch weil auf den Bürgersteigen Schnee aufgehäuft war, fuhr er in eine Toreinfahrt und stoppte dort. Landauer öffnete eilig die Wagentür, wollte offenbar sofort zu seiner Wohnung laufen, besann sich dann und wartete, bis Ehrenfried das Fahrerfenster hochgekurbelt hatte, ausgestiegen war und die Türen abschloss. Der nahm jetzt die schwere und drückende Luft der Kohleheizungen wahr. Er folgte Landauer durch den Hofeingang und dann noch durch zwei weitere Höfe, bis der eine Tür im vierten Hinterhof, nämlich die Tür zum Gartenhaus, aufschloss.

„Mit etwas Chuzpe haben wir hier die Wohnung gekriegt. Jetzt zeige ich Ihnen mal meine Mischpoke!“, hechelte er hustend, lief voller Freude die Treppe hinauf und nahm dabei immer zwei Stufen auf einmal. Ehrenfried fühlte sich wie an einem ganz falschen Ort, als hätte er sich verlaufen, und er achtete darauf, mit seinem neuen englischen hellbraunen Tweedmantel nicht das verschmutzte Treppengeländer zu streifen. Im vierten Stockwerk klopfte Landauer laut und energisch an seine Wohnungstür. Eine ältere Frau, wohl die Mutter von Landauers Gattin, dachte Ehrenfried, öffnete. Ihr Gesicht war überströmt von Tränen. Von Freudentränen. „En Meechen, David! ‚Ne Tochter!“, strahlte sie Landauer an und umarmte ihn heftig. Auf Ehrenfried warf sie nur einen kurzen und gleichgültigen Blick. Der fühlte sich, trotz des aufdringlichen und penetranten Kochdunstes von Schmalz, ausgelassenem Hühnerfett und gebratenen Kartoffeln, der aus der Wohnung drang, plötzlich nicht mehr so fehl am Platze.

Landauer löste sich aus der klammernden Umarmung seiner Schwiegermutter und ging durch den langen Flur ins Berliner Zimmer. Da lag seine Frau im Bett, unter dem einzigen Fenster des Raumes, das auf den Hinterhof schaute. Sie sah erschöpft aus, hatte einige Schweißperlen auf der Stirn. Im Arm hielt sie das Neugeborene. Landauer schaute dies neue Leben mit einem fast ungläubigen und erstaunten Blick an, strich vorsichtig mit seiner Hand über den kleinen Kopf und küsste seine Frau. „Mazel tov“, sagte er zärtlich und stellte Irina nun Ehrenfried vor. Der dachte für einen Moment an die Geburt seiner Kinder im Krankenhaus und nickte Landauers Frau gütig lächelnd zu. „Mazel tov“, hörte er sich nun etwas zögernd sagen: Ihm war, als ob eine fremde Stimme diese Worte spräche.

Nun hatte Landauer Tränen in den Augen. Er war ebenso gerührt wie glücklich. Ehrenfried hatte seinen Zwischenmeister so noch niemals erlebt. Seine beiden kleinen Töchter sprangen aufgeregt durch die Wohnung und fuhren mit einem kleinen Holzroller durch den Flur.

Erst jetzt fiel Ehrenfried auf, dass die Tapeten im Berliner Zimmer alt und vergilbt waren. Aus den Nachbarzimmern hörte er das Geräusch von Nähmaschinen und blickte sich um. Landauer bemerkte dessen leicht fragenden Blick. „Die Leute gehören alle zu unserer Mischpoke. Die bessern mit dem Schmatter unsere Pinunse auf.“

Auf einem kleinen Beistelltisch lag eine Ausgabe des „Völkischen Beobachters.“ „Sie lesen das?“, wunderte sich Ehrenfried. „Ja, ich lese das manchmal. Ich will wissen, was diese Schufte über uns denken.“ Dann drehte Landauer den Kopf zur Seite, als ob er sich schämte, allzu vertraulich zu Ehrenfried gesprochen zu haben. Landauer ging hinaus und öffnete die Tür zu einem der Zimmer, die vom Flur abgingen. Ehrenfried, der ihm gefolgt war, sah vier Frauen an Nähmaschinen. Sie blickten nicht hoch; sie nähten weiter Kittel und Bordüren. Für sieben Pfennig die Stunde arbeiteten sie auch für die Konfektion von Ehrenfried & Cohn. Sie nähten hier auch die kleinen Namensschilder ins Innenfutter der Damenmäntel von Max Graumann. Es war einer von hunderten Berliner Heimbetrieben, die die Produktion der Konfektion in der Stadt möglich machten.

An einer Wand erblickte Ehrenfried ein kleines Bücherregal.

„Ein lesender Zwischenmeister“, dachte er ein wenig amüsiert. Einige der Bücher steckten mit dem Schnitt nach vorn zwischen den anderen. Ohne auf Landauer zu achten, trat er auf das Regal zu und zog eines dieser Bücher heraus. Es war August Bebels „Die Frau und der Sozialismus“. Ehrenfried steckte das Buch mit dem Schnitt nach vorn zurück in das kleine Regal. Flüchtig dachte er an Gerüchte, Landauer habe früher häufig Versammlungen der KPD besucht. Einmal sei er dort angeblich sogar als Redner aufgetreten. Ehrenfried war diesen Gerüchten nie nachgegangen. Sie waren ihm nicht so wichtig. Wichtig war die Arbeit. Zum Beispiel hier, in Berlin-Mitte, in der Schönhauser Allee 188. Große Kisten mit Kunstblumen, mit Hüten und Schürzen stapelten sich in den anderen Zimmern. Auch sie würden zum Hausvogteiplatz transportiert werden. Landauer beschäftigte in seiner Wohnung mindestens acht Heimarbeiter. Sie schliefen in Stapelbetten in den fünf Zimmern der Wohnung, hier, im vierten Hinterhof.

Ehrenfried sah auf die Uhr. „Ich muss nun zurück.“, sagte er zu Landauer. „Bleiben Sie doch heute bei Ihrer Frau und Ihrer Tochter.“ Er lächelte, und Landauer schaute ihn, ohne zu antworten, dankbar an. „Morgen sehen wir uns in der Werkstatt wieder.“ Eilig verließ er das Haus. „So kann man also leben. Auch so kann man leben!“, dachte er kurz, als er die Treppe hinabstieg. Flüchtig fiel ihm die Nazizeitung auf dem Tischchen und das Sozialistenbuch aus dem Regal wieder ein. „Ich werde aus manchen Leuten einfach nicht schlau!“, murmelte er. „Ist vielleicht doch nicht so schlecht, wenn sie fortgehen. Vielleicht.“

Er durchquerte die drei Hinterhöfe und ging zu seinem Wagen. Um den standen gut dreißig Kinder herum, und jedes von ihnen versuchte, die anderen beiseite schubsend und drängelnd, ins Innere der Limousine zu schauen. „Verschwindet, ihr verkratzt mir noch den ganzen Lack!“, rief Ehrenfried den Gören zu. „Meesta, können Se mir nich ´n Stick weit mitnehmen? Ick müsste da noch ins KaDeWe, für meine Mutter ‘n paar Kartoffeln koofen!“, hörte er eines der Kinder rufen. Gelächter scholl durch die Einfahrt. Ehrenfried stieg ein. Das Fahrerfenster ließ er dieses Mal geschlossen. Als er losfuhr, starrten die Kinder ihm nach.

Als er in der Mohrenstraße angekommen war, begegnete er vor der Eingangstür zum Geschäft Simon Cohn. Der hatte gesehen, wie Ehrenfried mit Landauer am Vormittag davongefahren war. „Was war denn das, Kurt?“, fragte er mit einem verwundert-spöttischen Blick. „Hast du mit Landauer einen kleinen Betriebsausflug gemacht?“ „Nein“, entgegnete Ehrenfried gereizt. „Es war eine kleine Reise, nach Galizien und Posen.“ Und dann, schon versöhnlicher: „Lass‘ mich jetzt mal in Ruhe.“

Gleich darauf saß er wieder in seinem Büro. In seiner Welt. In der Welt, die er kannte. Er wollte nichts gemein haben mit dieser Welt, aus der er hergekommen war. Er wollte diesen Schtetlgeruch nicht in seinem Büro, nicht in seinem Zuhause, nicht in seinem Leben haben. Er wollte nicht wie sein Vater ständig an diese Herkunft denken und womöglich noch stolz auf sie sein. Mochten die Landauers leben, wie sie wollten – das hatte mit seinem Leben nichts zu tun. Er wollte das nicht.

Landauer hatte inzwischen begriffen, dass seinem Chef das Judentum nicht wichtig war. Was nicht hieß, dass Ehrenfried nicht auch großzügig zu seinen jüdischen Angestellten sein konnte. Sonst hätte er Landauer wohl kaum in seiner Limousine in die Schönhauser Allee gefahren und ihm anschließend für den Rest des Tages freigegeben. Doch inzwischen war Landauer klar geworden, und das heutige Treffen mit Windschild und Glasow hatte dies mehr als deutlich gemacht, dass er nicht länger bei „Ehrenfried & Cohn“ arbeiten konnte. Es war ihm seit gut einem Jahr immer schwerer gefallen, täglich zehn und mehr Stunden die Redensarten und die Gemeinheiten von Windschild und Glasow hinzunehmen.

Landauer erduldete seine Arbeit nur noch. Was er früher so gern, ja sogar mit Leidenschaft getan hatte, eben genau zu kalkulieren, auf Sparsamkeit im Verbrauch zu achten, kreative Umsetzungen für die neuen Kollektionen zu berechnen und zu entwerfen, all dies wurde ihm seit 1934 immer mehr zur Qual. In der Zwischenmeisterei von Ehrenfried & Cohn regierten jetzt Windschild und Glasow. Das gesamte Arbeitsklima hatte sich verändert. Die Anspielungen und Angriffe gegen Landauer wurden heftiger. Seitdem Glasow ihm erst vor wenigen Monaten höhnisch offenbart hatte, er habe ihm schon seit Monaten immer wieder in seinen Essenstopf gepinkelt und den Topf anschließend mit Schweinebauch in die richtige und unverdächtige Geruchslage gebracht, seit dieser Zeit verzichtete Landauer auf seine Mittagspause.

David Landauer fühlte sich unwohl angesichts dessen, was er Ehrenfried da preisgab. Er wollte ihn nicht in Schwierigkeiten bringen, aber jetzt musste er es ihm sagen. Windschild und Glasow veranstalteten seit 1934 ein wahres Kesseltreiben gegen ihn. Wann immer Landauer in die Werkstatt kam, begrüßten sie ihn nur noch mit Ausdrücken wie „Judenlümmel“ oder „Ostjude Abraham“. Landauer hatte genau darüber nachgedacht, wie angreifbar er geworden wäre, wenn er diese Dinge aus der Werkstatt Ehrenfried oder auch Cohn schon früher berichtet hätte. Immerhin brauchte er seinen Lohn, um seine drei Kinder zu ernähren, vor allem jetzt und in den kommenden Wochen vor der Abreise nach England. Außerdem hätten weder Ehrenfried noch Cohn verstanden, davon war Landauer überzeugt, worum es ihm wirklich ging. Vielleicht lag das auch daran, dass er sich nicht imstande fühlte, ganz genau zu erklären, was mit ihm gerade geschah. Trotzdem fühlte sich Landauer, als er da draußen seinen baldigen Abschied angekündigt hatte, erleichtert über sein Geständnis. Er wusste nur nicht genau, was es wirklich war, das ihm dieses Gefühl beschert hatte.

Für Ehrenfried kam Landauers Erklärung und Kündigung einfach nur als ärgerliche und zusätzliche Belastung daher. Genau das hatte ihm jetzt noch gefehlt! Jetzt, vor dem geschäftlichen Aufbruch, musste er einen neuen Zwischenmeister von einer anderen Firma mit viel Aufwand und Geheimnistuerei abwerben.

Ehrenfried wusste aus Erfahrung, was er für solch diskrete Aktionen benötigte: Zeit und Nerven, beides hatte er nicht. Obwohl die Abwerbung von guten Zwischenmeistern in der Branche gang und gäbe war, brachte so etwas fast immer lästige Fragen der Kollegen mit sich und schließlich neue Feindschaften und neues Misstrauen. Ehrenfried ging zurück in sein Büro und polterte die fette Perschke mit lauten Worten an, ob sie denn endlich den Text für die Stellenanzeige geschrieben hätte. Anschließend fuhr er ins Café Reimann. Ein bisschen horchen. Vielleicht war etwas in Erfahrung zu bringen über Zwischenmeister, die hoch qualifiziert waren und sich verändern wollten. „Aber bloß keinen von Graumann“, dachte er, „ich mache garantiert keine Reise von Posen nach Galizien.“

Ehrenfried & Cohn

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