Читать книгу The Last Generation - Aufstieg der Rebellion (Teil 1) - V. R. Strong - Страница 4
Kapitel 2 – Der Fluchtversuch
ОглавлениеDie Menschen bewegten sich erschöpft in Richtung des großen Beckens, um endlich das lang ersehnte Wasser trinken zu können. Dabei wurde den Älteren der Vortritt gelassen, denn sie waren am stärksten mitgenommen von all den anstrengenden Arbeiten. Dann durften die Jüngeren zum Wasser und schließlich alle Anderen. Diejenigen, die genug getrunken hatten, machten sich an dem großen, plumpen Stoffsack zu schaffen, der direkt neben der großen Schale stand. Sie nahmen sich etwas trockenes Brot heraus und begannen, es genüsslich zu verschlingen oder setzten sich zu ihren Kameraden, um gemeinsam zu essen. Auch Alectis begab sich zu dem Trinknapf. Er war zwar erst 23 Jahre alt und gehörte somit noch zu den Jüngeren, aber er ging als einer der Letzten zum Wasser, damit die Kinder zuerst etwas abbekommen konnten. Die Bedingungen hier auf Diyu waren furchtbar unter der Aufsicht der Glanzhäute – doch wenigstens war die Gemeinschaft zwischen den Menschen gut. Der Gravianer nahm einen großen Schluck, dann ging er weiter zu dem großen Sack und nahm sich zwei große Stücke Brot heraus. Er war als Gravianer nicht nur kräftig gebaut, sondern hatte auch anstelle von Haut tausende Fasern aus einem eisenhaltigen Material, das eine besondere Härte aufwies. Diese Fasern, die kaum dicker als 5 Millimeter waren, zogen sich glatt und gleichmäßig über seinen gesamten kräftigen Körper und formten dabei ein individuelles Muster aus verschiedenen Rot- und Orangetönen. Nur im Gesicht waren diese Fasern dünner. Durch diese Formation hatten auch die Gravianer einen besonderen Schutz gegen hohe Druckverhältnisse, genau wie die Nyoma. Haare waren bei Gravianern ebenfalls zurückgegangen; dafür hatte Alectis mehrere dutzend einschüchternder, kurzer Hörner auf seinem Kopf, die sich über seinen Nacken bis hin zum Rücken zogen. An den Seiten seines großen Kopfes hatte er allerdings keine dieser spitzen Auswüchse. Seine >>Frisur<< ähnelte ein wenig einem Irokesenschnitt. Die Gravianer haben sich Anfang des 24. Jahrhunderts von den Terrianern abgegrenzt, nachdem Planeten mit immer höher werdender Schwerkraft bevölkert wurden. Wie die meisten dieser breitschultrigen Wesen auf Diyu, kam auch Alectis von Elysion. Die ersten Hinweise auf diesen massigen Planeten gab es im Jahr 2011, doch damals hatte er nur die simple Bezeichnung Gliese 667Cc. Später wurde Elysion zu der Heimat der Gravianer. Dort herrschte eine erdrückende Schwerkraft von über 5g, dadurch haben die Gravianer auch ihre große Widerstandsfähigkeit gegenüber jeglichen mechanischen Einflüssen erlangt.
Das hat sich in vielerlei Hinsicht auf diese humanoide Spezies ausgewirkt; Gravianer werden zum Beispiel über 200 Jahre alt und können sich selbst von schwersten Verletzungen in kürzester Zeit erholen, sogar verlorene Gliedmaßen wachsen innerhalb weniger Monate wieder vollständig nach. Auch Alectis hatte seinen linken Arm verloren, während der erste Angriff der Silizoiden auf Elysion gnadenlos zurückgeschlagen wurde. Er konnte den Feinden schon als dreizehnjähriges Kind Einiges entgegensetzen, als die Glanzhäute den Schutzbunker erreichten, in dem sich seine Familie und viele andere Zivilisten vor den Angreifern versteckten. Diese extraterrestrischen Bastarde hatten die mächtigsten Vertreter unter uns Humanoiden auf schreckliche Weise unterschätzt. Geschah ihnen Recht. Nur kehrten die Aliens leider einige Zeit später einfach mit einer zehnmal so großen Armee zurück und konnten Elysion trotz des starken Feindes in einem äußerst schweren Gefecht einnehmen. Zu dem Zeitpunkt des zweiten Angriffs auf die Heimat der großen Menschen war der Arm, den Alectis verloren hatte, jedoch schon wieder nachgewachsen. Der Gravianer erinnerte sich noch genau an die Angriffe. Und es machte ihn jedes mal wütend, wenn er sich daran erinnerte. Er schüttelte den Kopf. Er sollte nicht so häufig daran denken. Alectis ging nun also vorbei an einigen der dreibeinigen Stehlampen zu Charisa, die wie jede normale Terriani mehrere Köpfe kleiner war als der durchschnittliche Gravianer. Sie saß zwischen zwei Steinsäulen auf dem Boden vor einem der mit Leuchtdioden gespickten Ständer und malte irgendwelche Figuren in den staubigen Felsgrund, während sie auf ihren Freund wartete. „Hey.“, vernahm sie Alectis Stimme. Sie drehte sich zu dem Gravianer um, der daraufhin mit einer Bewegung andeutete, dass er eines der beiden Brote zu ihr werfen würde. Er warf, sie fing es auf. Dann setzte er sich schließlich zu Charisa auf den harten Boden, erleichtert, dass der anstrengende Tag vorbei war. Charisa lehnte sich mit ihrem Kopf gegen seine Schulter und sie fingen an, gemeinsam zu essen. „Guten Hunger.“, sagte Alectis. „Ebenfalls.“, entgegnete Charisa. „Wie geht’s Timeno?“, fragte sie etwas besorgt. „Besser. Er hat nur drei Schüsse von diesen Einzelschusswaffen abbekommen. Nicht so schlimm. Ich mache mir mehr Sorgen darum, was sie als nächstes mit ihm vorhaben...“ Charisa grummelte wütend. „Dabei wollte er nur helfen...“ „Ja. Und das wird sofort als Arbeitsverweigerung gewertet. Pah!“
Timeno war ebenfalls ein Gravianer. Er war eher ein ruhigerer Typ im Gegensatz zu Alectis und Charisa. Aber die Drei verstanden sich trotzdem. Ihr Freund hatte einen Tag zuvor einer geschwächten Terriani auf die Beine geholfen, nachdem sie zusammengebrochen war und dafür seine Arbeit für einen kurzen Moment unterbrochen. Und so etwas mochten die Glanzhäute gar nicht. Sie haben ihn einmal streng ermahnt und dann sofort das Feuer eröffnet. Zum Glück wurden sie dadurch von der Frau abgelenkt und haben bei der ganzen Aufregung vergessen, sie aus dem Weg zu räumen. Als Timeno dann vernünftigerweise wieder seine Arbeit aufnahm, ließen die Wachen ihn wieder in Ruhe. Vor allem in letzter Zeit kollabierten des öfteren Leute. Viele der gebeutelten Gefangenen erreichten langsam ihre Grenzen. Sie konnten nicht mehr, sie wollten nicht mehr. Fast zehn Jahre Zwangsarbeit war einfach zu viel für sie. „Guck dich um, Charisa.“ Sie guckte sich nicht um. Charisa brauchte sich nicht umsehen. Sie wusste genau, was Alectis meinte. „Ja. Niemand von diesen Leuten gehört hierher. Wir müssen hier endlich herauskommen.“, antwortete die Cibolani bedrückt. „Stell dir mal vor, wir würden es wirklich schaffen, auszubrechen und die Glanzhäute besiegen. Was wäre das erste, was du tun würdest?“, fragte der Gravianer neugierig. Charisa musste nicht lange nachdenken, was sie auf diese Frage antworten sollte. „Die Freiheit genießen. Das Universum erkunden. Zu neuen Welten aufbrechen...“ „Die Freiheit genießen, was... Zu neuen Welten aufbrechen... Unerforschte Orte, an denen noch nie ein Mensch gewesen ist... Wie so ein Ort wohl aussehen würde?“ „Komm mit. Wir finden es heraus. Gemeinsam. Irgendwann.“, sagte Charisa leidenschaftlich. „Ja, auf jeden Fall. Wenn der Tag unserer Freiheit gekommen ist... Ach, was würde ich nur ohne dich machen, Kleine.“, seufzte Alectis. Charisa war neben ihm selbst der einzige Mensch in Alectis´ Freundeskreis, der noch nicht die Hoffnung aufgegeben hatte. Es war schwer, in so einer Lage nicht selbst aufzugeben. Aber Charisa gab dem Gravianer neue Kraft, und umgekehrt. „Wenn wir jemals hier herauskommen... Will ich mit dir als erstes an diesen neuen Ort. Mit niemandem sonst.“, meinte Charisa und schmiegte sich mit ihrem Hinterkopf noch enger an seine Schulter, während Alectis seinen Kopf an Charisa´s blonde Haarpracht zu seiner Linken lehnte. „Da kannst du Gift drauf nehmen...“ Die Beiden sagten nun nichts mehr. Sie genossen es einfach, bei dem Anderen zu sein und aßen ganz entspannt ihr Brot. Wenn sie zusammen waren – das war der einzige Moment, in dem sie den erdrückenden Alltag vergessen konnten, all die schrecklichen Dinge ausblenden konnten. Charisa schloss lächelnd die Augen, Alectis Gesichtszüge waren völlig entspannt. So verweilten sie einige Zeit.
Währenddessen hatte auch Barrex sich etwas zu trinken aus der großen Schale einverleibt und etwas zu essen aus dem Stoffsack genommen. Nun traf er sich mit seiner alten Arbeitskollegin Jenny an dem gigantischen Aufzug, um zusammen mit ihr die ungenutzten Lampen in der Höhle einzusammeln. Er wollte nicht riskieren, dass die Leuchtdioden am nächsten Tag vergessen wurden. Jenny, ebenfalls eine Nyoma, war etwas kleiner als Barrex und wirkte etwas schwächer, was jedoch täuschte. Sie war genauso stark wie er. Bei ihr liefen die erhabenen Kämme nicht auf der erstaunlich glatten Stirn zusammen, sondern endeten jeder einzeln für sich an ihrem Vorderkopf, nachdem sie aus einer einzigen Erhebung auf ihrem Nacken entsprungen waren. Im Gegensatz zu Barrex hatte sie etwas hellgrünere Haut und die Farbe ihrer >>Frisur<< ging eher ins Gelbe. Sie wirkte ruhig und gelassen. Barrex erblickte vom Aufzug aus zwischen den zwei Säulen die glückliche Charisa, die mit ihren geschlossenen Augen an Alectis Schulter lehnte. Bevor er und Jenny zu den Lampen gingen, wollte er seiner neuen Freundin einen Besuch abstatten. Es gab etwas, das er ihr erzählen wollte. Also ging er zusammen mit seiner alten Kameradin zunächst zu dem jungen Mädchen hin. „Hey, Charisa.“ Die Cibolani öffnete die Augen und erblickte den Nyoma vor einem der Licht spendenden, rostigen Dreibeine. „Hey!“ Charisa freute sich, Barrex zu sehen, aber sie stand nicht von Alectis auf. Auch der Gravianer drehte nun seinen Kopf nach links zu Barrex und seiner Begleitung. „Hallo. Ich bin Barrex.“, stellte sich der einstige Polizist vor. „Ich bin Alectis. Freut mich.“, antwortete der Gravianer, ebenfalls, ohne aufzustehen. Doch selbst im Sitzen waren Alectis und der Nyoma fast auf Augenhöhe. Barrex war ein wenig irritiert, dass die Beiden am Boden blieben, aber er nahm es erst einmal nicht persönlich.
„Darf ich euch Jenny vorstellen: Wir waren damals in einer Einheit. Ich hab dir von ihr erzählt.“, stellte Barrex seine Kameradin vor. „Hallo. Schön, euch kennenzulernen.“ Jenny trat zu Charisa und Alectis und schüttelte ihnen freundlich die Hand. „Hallo.“, entgegneten die Beiden. „Dürfen wir uns zu euch setzen?“, fragte Barrex gezielt. Er wollte wissen, ob die Beiden sitzen blieben, weil sie ein Problem mit ihm hatten oder ob es einen anderen Grund gab. „Klar.“, antwortete Charisa ihm zu seiner Erleichterung lächelnd. Die beiden Nyoma setzten sich also zu den zwei äußerst guten Freunden. „Wie geht’s euch?“, fragte der ehemalige Polizist. „Gut. Vor allem jetzt, wo die Arbeit vorbei ist und wir morgen endlich einen Tag Pause machen können.“, antwortete Charisa erfreut. Barrex war positiv überrascht. Auf die Frage >>Wie geht es euch<< hatte er schon lange kein „Gut“ mehr als Antwort bekommen. „Wie sieht´s bei euch aus? Alles klar?“, fragte nun Alectis. „Ja. Wir freuen uns auch auf morgen.“, beantwortete Jenny seine Frage. „Es muss ungefähr ein Jahr her sein, dass wir den Standort gewechselt haben. Es wird Zeit für einen Tapetenwechsel.“, fügte Barrex entschlossen hinzu, „Und das meine ich genauso, wie ich es sage. Wir haben vorhin mit einigen Anderen gesprochen. Das ist unsere beste Chance, diesem ganzen Wahnsinn zu entkommen.“ Es war kurz still. Sowohl Charisa als auch Alectis haben schon des Öfteren an einen Ausbruch gedacht. Aber nun wurde ihnen langsam klar, dass sie während eines Standortwechsels vielleicht wirklich eine Chance hatten. Ein leises Lüftchen, das vom Schacht herkam, wehte eine frische Brise durch die Höhle. „Habt ihr einen Plan?“, fragte Alectis gespannt. „Ja, haben wir. Wir haben uns überlegt...“, fing Barrex in seiner professionellen Art an, zu erklären, „...wann der sinnvollste Zeitpunkt für einen kleinen Aufruhr wäre und sind zu dem Schluss gekommen...“, er zeichnete mit dem rechten Zeigefinger einen einfachen Lageplan in den Boden, auf dem sich der Staub von den Arbeiten gelegt hatte, „...dass der beste Zeitpunkt dann eintrifft, wenn wir am wenigsten kämpfen müssen. Die Silizoiden werden uns in die Türme bringen und dann einen kompletten Schichtwechsel vornehmen, weil sie sich sicher fühlen, wenn wir in den Zellen gefangen sind. Zu diesem Zeitpunkt sind also am wenigsten Glanzhäute draußen. Sobald dieser Schichtwechsel stattfinden wird, brauchen wir die Gravianer.“
Der Nyoma zeigte auf einen von den drei Kreisen, die er gezeichnet hatte und sah Alectis an. Die drei Kreise standen für die drei Türme an der Oberfläche, in die die Arbeiter gebracht werden sollten. Die Gebäude waren miteinander über Brücken verbunden, was Barrex durch einfache Linien im Staub dargestellt hatte. „Ihr müsst zunächst diese verdammten Halsbänder loswerden, sobald die Glanzhäute weg sind. Wenn ihr eure Kraft zu zweit zusammentut, könnt ihr die Schlösser der Elektroschocker vielleicht mit bloßen Händen aufbrechen. Und zwar – wenn es überhaupt geht – nur ihr. Die Gravianer sind die Einzigen, die genug Kraft dafür haben.“ Alectis griff mit beiden Händen an den Ring um seinen Hals. Er zog ein wenig daran, um die Stabilität des Elektroschockers zu prüfen. „Das könnte vielleicht funktionieren...“, sagte er nachdenklich, „Aber wie kommen wir dann aus dem Turm heraus? Da ist doch garantiert noch eine dicke Panzerstahltür im Weg, wie letztes Mal. Und die Mauern sind aus massivem Stein. Ohne Weiteres kommen wir da nicht durch.“ „Das ist richtig. Jetzt kommt der komplizierte Teil. Letztes Jahr waren auch während des Schichtwechsels Wachen vor den Türen stationiert. Ihr müsst es irgendwie schaffen, die Wachen in die Zelle zu locken, vielleicht mit einem kleinen Aufruhr... Und bevor die Silizoiden den Eingang wieder schließen können, müssen sie von euch ausgeschaltet werden. Dann könnt ihr unbemerkt Entkommen. Bei den Nyoma und den Terrianern gibt es wahrscheinlich nur eine einfache Eisentür, die könnt ihr als Gravianer dann einfach mit vollem Körpereinsatz aufbrechen. Ein Gewicht von 250 Kilogramm kann auch Vorteile haben... Als nächstes müsst ihr die Anderen ebenfalls von ihrem >>Halsschmuck<< befreien.“ Barrex zeigte nun auf ein Rechteck, das vor den Türmen stand – der Landeplatz der Aliens. „Schließlich müssen wir zwei oder drei der Wachen entführen und sie dazu zwingen, uns zu zeigen, wie man ihr Schiff fliegt. Das Fliegen lernen sie alle in der Ausbildung, das habe ich schon mehrfach ihren Unterhaltungen entnehmen können.“
„Die werden uns irgendetwas erzählen. Im schlimmsten Fall etwas, das uns zum Absturz bringt. Wie wollen wir das lösen?“, fragte Alectis. „Wir nehmen diese Wachen mit. Wenn das Schiff abstürzt, haben sie uns bestimmt doch noch etwas zu erzählen.“, beantwortete Jenny die Frage. „Wenn wir die Wachen kidnappen wollen, müssen wir sehr schnell sein und ihre Pistolen an uns reißen. Unter freiem Himmel haben wir keine Chance gegen sie. Die Glanzhäute können fliegen und wir haben sonst keine Waffen.“, bemerkte Charisa. Sie klang dabei jedoch nicht skeptisch; sie wollte eher sicherstellen, dass dieser Plan auch wirklich funktionierte. „Exakt. Unser Vorhaben ist extrem riskant und es kann gut sein, dass wir scheitern. Und das würde unser Todesurteil sein. Aber wir können nicht für immer in dieser verdammten Mine bleiben!“, bemerkte Barrex ernst und schlug wütend mit der Faust auf den trockenen Boden, „Die Leute sind am Ende ihrer Kräfte. Wir würden sowieso bald sterben. Aber so haben wir wenigstens eine Chance, am Leben zu bleiben.“ „Ich bin dabei. Diese ganze Arbeit kotzt mich an.“, sagte Charisa entschlossen. „Ich auch. Es wird Zeit für einen Tapetenwechsel, nicht wahr?“, stimmte Alectis ebenso entschlossen zu. Barrex und Jenny lächelten. „Sehr gut. Wir müssen weiter, die Lampen einsammeln und noch mehr Leute von unserem Plan in Kenntnis setzen. Am besten, ihr erzählt auch einigen Anderen, was wir vorhaben. Je mehr Leute Bescheid wissen, desto besser. Also dann... Man sieht sich.“, verabschiedete sich der Nyoma. Er und seine alte Arbeitskollegin standen nun also auf. „Bis später.“, antworteten Alectis und Charisa gleichzeitig.
„Hat mich gefreut.“, lächelte Jenny, dann ging sie Barrex hinterher, der bereits vorgegangen war. Auch Charisa und Alectis standen nun auf. Sie gingen in Richtung der Lampen, um ein paar von ihnen einzusammeln, wie es die meisten Humanoiden nach dem Essen machten. „Wer war das eigentlich?“, fragte Alectis neugierig, während er eines der Dreibeine unter seinen linken Arm klemmte. „Die Bastarde haben vor ein paar Tagen doch schon wieder ein paar Leute getötet... Und das hat mal wieder die Reihenfolge verändert, in der wir an der Wand arbeiten. Barrex war heute mein neuer Nachbar.“ „Verstehe. Er scheint ja ziemlich in Ordnung zu sein.“ „Ja, ich glaube auch... Er macht einen netten Eindruck. Und Jenny war mal eine Arbeitskollegin von ihm... Sie waren beide in einer Spezialeinheit der Polizei.“ Der Gravianer schnaubte überrascht. „Na, das erklärt das Selbstbewusstsein der Beiden. Seine Stimme klang ja fast so, als wäre er sich sicher, dass wir morgen in die Freiheit gelangen. Und Jenny sah auch ziemlich überzeugt aus.“ „Irgendwann müssen wir hier ja mal heraus.“, entgegnete Charisa. „Da hast du verdammt Recht.“, sagte Alectis ernst, während er sich die nächste Lampe unter den linken Arm schob. Die beiden sehr guten Freunde sammelten noch eine halbe Stunde lang zusammen weitere LED-Ständer ein. Dabei erzählten sie einigen anderen Menschen von dem gefährlichen Plan, auch den Älteren, die zusammen mit den Kindern in einer vergleichsweise gemütlichen Runde in der Nähe des Wasserbeckens saßen. Die Älteren brachten den Kindern alles bei, was sie wissen mussten, auch Allgemeinwissen über die Galaxis. Sie erzählten den Kleinen von der Galaxie, dass sie zwei große Arme aus hunderten Milliarden Sternen besaß, dass auf der einen Seite der Milchstraße zwischen diesen beiden Ausläufern, direkt hinter dem Perseus-Arm, die zerstörte Heimat der Humanoiden lag und dass in den kompakten Galaxiearmen die Entstehung von Leben eigentlich unmöglich war.
Denn in einem solch sternenreichen Gebiet gab es viel zu häufig Supernovae, große Explosionen am Ende eines Sternenlebens, sowie einige andere Gefahren, wie zum Beispiel schwarze Löcher oder Neutronensterne. Die Silizoiden behaupteten zwar, sie würden aus einem solch gefährlichen Gebiet stammen, aber die meisten Menschen waren sich sicher, dass das eine dreiste Lüge war. Wo die Aliens jedoch tatsächlich herkamen, wusste niemand. Bekannt war nur, dass sie auf irgendeine Art und Weise Silizium-basierte Lebensformen waren. Die älteren Menschen erzählten den Kindern auch, dass weiter im Innern der Galaxis mehr Kohlenstoff entstand und deswegen dort eine Kohlenstoff-basierte Lebensform existierte, die Karbanoiden, die der Menschheit jedoch freundlich gesinnt war und dass es dort, im Innern der Milchstraße, viele andersartige Kreaturen gab. Es wurde auch von dem paradiesischen Ursprungsort der Menschen erzählt, der einst blauen Erde, die durch die Silizoiden jedoch in eine trockene Wüste aus Asche und Trümmern verwandelt worden war. Es gab dort noch Leben, das sich stark verändert hatte; aber es hätte Millionen Jahre gedauert, bis sich unser Ursprungsplanet von diesem Desaster erholt hätte. Die Kleinen hörten interessiert zu; die Erzählungen über die Erde waren wie eine Geschichte einer wunderschönen Fantasiewelt für sie, wie ein bezauberndes Märchen. Schließlich begannen die Älteren, den Kindern die seltsame Sprache der Silizoiden beizubringen, damit sie diese Sprache auch irgendwann beherrschten. Aber sie machten ihnen auch deutlich klar, dass sie diese Sprache auf gar keinen Fall sprechen durften, solange die jähzornigen Aliens in der Nähe waren. Wenn eine der Wachen mitbekommen hätte, wie ein Mensch ihre Muttersprache spricht, wäre dieser Mensch sofort auf grausame Weise erschossen worden. So verging der Abend, bis schließlich alle erschöpft schlafen gingen. Sie hatten einen großen Tag vor sich.
Am nächsten Tag schließlich war es soweit. Die Glanzhäute kamen wieder mit der runden Plattform in die Mine hinunter gefahren, verteilten sich in der Menschenmenge und legten Allen, dieses Mal auch den Gravianern, die Fesseln aus stabilem Siliziumcarbid an. Dann brachten sie zunächst die Lampen, das Wasserbecken, den leeren Stoffbeutel, in dem das Brot gewesen war und die Kiste mit den Batterien auf den silbernen Aufzug. Als nächstes sortierten sie nach den Spezies. Zuerst wurden die kräftigen Gravianer nach oben gebracht, denn sie stellten die größte Gefahr dar, als nächstes die Terrianer und zuletzt die Nyoma, sehr zum Leidwesen von Charisa und Alectis. Aber ihnen war klar, dass sie nur bis zur nächsten schicksalhaften Nacht durchhalten mussten, dann würden sie sich wiedersehen. Nach etwa einer halben Stunde waren die Terrianer an der Reihe. Als Charisa zusammen mit den anderen Menschen auf der kalten, großen Plattform durch den dunklen Schacht nach oben fuhr, vorbei an der felsigen, harten Wand, aus der ab und an rote und violette Kristalle blitzten, hatte sie ein seltsames Gefühl. Vielleicht würde sich bald alles ändern. Es war merkwürdig, diese grässliche, staubige Mine mit einem Anflug von Freiheitsgefühlen zu verlassen. Als die Gefangenen oben ankamen, wurde Charisa zunächst von dem warmen Licht der beiden Sonnen geblendet, die gerade erst aufgegangen waren und nun nur knapp über dem Horizont standen. Das Mädchen hielt sich schützend die Hände vor die Augen wie die anderen Terrianer, doch man gewöhnte sich relativ schnell an das schwache Licht des jungen Morgens, das der felsigen und trockenen Oberfläche von Diyu ein mysteriöses Ambiente verlieh. Langsam wurden die Silhouetten der drei breiten Türme in der Versenkung, in der die Mine angelegt war, sichtbar, bis Charisa schließlich auch die Feinstrukturen der Bauten aus rotem Rhodonit erkannte. Der große, bedrohliche Raumkreuzer, der auf einem nicht einsehbaren Landeplatz aus hochreinem, metallischen Silizium am oberen Ende der Grube stand, war jetzt ebenfalls teilweise zu erkennen. Er sah aus wie eine fliegende Untertasse, die auf sechs Beinen stand und an deren Außenwand sechs große, konvex gebogene Tonnen angebracht waren. Neben dem großen Kreuzer, der mehrere, schwere Geschütze an seinen Seitenwänden aufwies, war noch Platz für ein einziges weiteres Fahrzeug derselben Größe.
Dieser ganze Komplex musste vor einem Jahr von den Arbeitern gebaut werden. Die glatten Wände der Versenkung verliefen steil nach oben und waren unmöglich für einen Menschen zu erklimmen. Dass das große Transportfahrzeug der Glanzhäute, die hässliche, fliegende Untertasse, außerhalb des großen Lochs direkt am Rande dieses Abgrundes, in dem die drei Türme emporragten stand, machte Barrex´ Fluchtplan ungemein schwieriger. Ohne technische Hilfsmittel hatten die Menschen keine Chance, dort hinaufzukommen. Die Wachen drängten die Terrianer weiter zu einem der drei klobigen Türme, auf dessen Dach wie bei jedem der Gebäude eine Art Plattform aufgelegt war. In dieser Plattform befand sich ein großer Raum, die Zelle, in der die Terrianer untergebracht werden sollten. Einer nach dem Anderen wurde erst durch das Treppenhaus des Turms und dann in dieses Gefängnis in der Turmspitze gedrängt. Es gab dort mehrere Fenster, vor denen sich Gitterstäbe befanden, aber weder Glas noch irgendetwas Anderes, um die trockene Luft oder den leichten Wind, der hier ohne Unterbrechung wehte, draußen zu halten. Wenigstens war die Durchschnittstemperatur auf diesem Planeten mit 21 Grad Celsius erträglich hoch – doch in der Nacht konnte es unangenehm frisch werden. Sah man aus dem Fenster neben der breiten Doppeltür aus Eisen, die in besagten Raum in der Plattform auf dem klobigen Bauwerk führte, so konnte man die Brücken sehen, die die Verbindung zwischen den drei roten Türmen darstellten. Die einzige Verbindung zu den anderen Humanoiden. Als alle Terrianer in den großen Raum gedrängt waren, wurden ihnen die Fesseln abgenommen, die Tür zugemacht und fest verschlossen. Die Glanzhäute blieben vor der Doppeltür stehen oder verharrten mit ihren wachenden Blicken im Raum, unterhielten sich oder patrouillierten auf den deprimierenden Brücken und Türmen. Geländer waren draußen nirgendwo zu sehen. Die Silizoiden konnten schließlich fliegen. Aber die Menschen mussten aufpassen, dass sie nicht in die tödliche Tiefe stürzten.
Der Tag verging, die erschöpften Humanoiden ruhten sich aus. Ab und zu unterhielt sich Charisa in dem Raum mit den rot-glänzenden Wänden mit einigen ihrer Freunde; aber sie verstand sich mit niemandem so gut wie mit Alectis. Einige Menschen blickten sehnsüchtig aus den Fenstern; die Freiheit schien zum Greifen nah, und doch so fern. Andere spielten einfache Spiele wie Pantomime. Es gab nicht viele Möglichkeiten in dem Turm, sich zu beschäftigen. Dementsprechend verlief der erholsame Tag ereignislos, bis am Abend während des Sonnenuntergangs ein zweiter, großer Raumkreuzer landete, der ebenfalls die Form einer fliegenden Untertasse aufwies und noch mehr der verhassten Glanzhäute brachte. Nun wurden die Menschen langsam aufmerksam, denn das bedeutete, dass die Ablösung der Aliens begann. Doch die Wachen, die noch im Dienst waren, verschwanden nicht aus den hohen Räumen der Menschen. Die Humanoiden warteten, fünf Minuten, zehn Minuten. Nichts änderte sich. Dann, nach etwa einer viertel Stunde, öffneten sich auf einmal die etwa einen Finger dicken Eingangstüren aus Eisen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Die Gravianer konnten es nicht sein, sie hatten keinen Schlüssel, aber die Tür wurde eindeutig aufgeschlossen, nicht aufgebrochen. Außerdem waren die anderen Wachen in der Zelle immer noch zugegen und hielten die Leute unter Beobachtung. Noch mehr der bewaffneten Aliens betraten den Raum und verteilten sich gleichmäßig, sodass sie jede noch so kleine Bewegung mitbekamen, dann trat der Hauptaufseher mit ernster Miene in die Mitte der Menschen. „Da es letztes Jahr zu mehreren kleinen Ausschreitungen gekommen war, werdet ihr dieses Jahr strenger überwacht.“, begann er, klarzustellen, „Die Wachen werden bei euch bleiben, bis die Umsiedlung vonstattengegangen sein wird. Und ich warne euch: Diese Leute sind gerade sechs Tage durch den Weltraum geflogen, um hier einen Monat ihrer Arbeit zu verbringen. Sie haben schlechte Laune. Ihr solltet ihre Geduld nicht auf die Probe stellen.“
Mit diesen Worten verließ der entnervte Hauptaufseher den Raum wieder und die Tür wurde erneut abgeschlossen. Vor dem Eingang standen zwei weitere Wachen, falls eine der Glanzhäute die Räumlichkeiten verlassen wollte. Die Menschen waren schockiert. Sie hatten gehofft, dass sie heute Abend in die lang ersehnte Freiheit gelangen würden. Aber wenn die Gravianer ebenfalls so akribisch überwacht wurden, konnten sie das vergessen. Gegen die gut bewaffneten Wesen hatten sie nicht den Hauch einer Chance, nicht einmal die widerstandsfähigen Gravianer. Nicht jeder der Humanoiden wusste über den geplanten Ausbruch Bescheid; aber viele von ihnen. Manche starrten mit leerem Blick in die Gegend, als ihnen die Aussichtslosigkeit ihres Vorhabens klar wurde, andere sackten traurig auf dem rot gefliesten Boden zusammen. Ihre einzige Hoffnung schwand dahin. Wann sollte dieser Wahnsinn denn endlich vorbei sein? Charisa blickte durch die Menschenmenge, bis ihr Blick bei einem kleinen Jungen vor einem der luftdurchlässigen Fenster stoppte. Ein kalter Hauch durchwehte den Turm von dort aus. Der Kleine war kaum älter, als Charisa selbst bei dem Angriff der Aliens vor 10 Jahren. Er muss also nach dem Ende des Krieges eingefangen worden sein, denn die ganz kleinen Kinder unter 8 Jahren wurden damals getötet. Sie waren den Silizoiden nicht von Nutzen. Das junge Mädchen ging zu dem Jungen vor dem Fenster, hockte sich neben ihn und legte ihm ihre Hand auf die Schulter. „Hey.“ Er hob den Kopf an, den er in den Armen vergraben hatte. Die Beine hatte er vor Verzweiflung krampfhaft angezogen. Der Kleine starrte der Cibolani mit seinem von Tränen und Trauer erfüllten Gesicht in die grünen Augen. Sie blickte ihn mitleidig an. „Du bist nicht allein.“ Mehr sagte sie nicht. Es reichte. Das Kind fing an, noch bitterlicher zu weinen und fiel Charisa um den Hals. Sie drückte ihn an sich und ihr harter Blick fiel zu Boden, als hätte sie die Steine mit ihren Augen durchbohren wollen. Sie hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben.
Unterdessen ging Alectis in der Zelle der Gravianer in die Mitte des Raums zu Timeno, der nervös auf und ab lief. Timeno war noch einen halben Kopf größer als Alectis und er hatte ein anderes Muster als Charisa´s bester Freund; Seine Brust war nicht durchgehend orange gefärbt wie bei dem selbstbewussten Gravianer, sondern war mit orangen Streifen auf rotem Hintergrund gefärbt, genau wie sein Rücken; Alectis Rücken dagegen war durchgehend rot bis auf einen großen, orangen, ovalen Fleck, der in seiner Mitte durch zwei gegenüberliegende Einkerbungen gespickt war. Wie die meisten Gravianer trugen die Zwei nichts weiter als dicke Stoffhosen. Nur die Frauen unter den großen Menschen, die Graviani, hatten Klamotten, um ihre Oberweite zu bedecken – die anderen Humanoiden hingegen trugen alle Hosen, kurzärmlige Oberteile und Schuhe, die aus Stofffetzen von alten Klamotten hergestellt waren. Auch Timeno´s Hörner waren anders geformt als die von Alectis; sie begannen im Mittelscheitel und bogen sich dann zu den Seiten hinweg, so ähnlich wie bei einem Wasserbüffel. „Was sollen wir jetzt machen?“, fragte Alectis seinen Kameraden angespannt, aber leise, „Die Anderen verlassen sich auf uns!“ Timeno, der nun stehenblieb, war sichtlich schockiert über die große Präsenz der Aliens. Die Gravianer wurden während diesem Standortwechsel ebenso hart überwacht wie die Terrianer und die Nyoma. „Ich weiß es nicht... Ich fürchte, wir können nichts machen...“ Alectis wurde energischer. „Wir können sie nicht einfach hängen lassen!“ „Mir gefällt das auch nicht, Alectis! Aber wenn wir jetzt angreifen, haben wir keine Chance! Wem helfen wir, wenn wir tot sind?“, flüsterte Timeno mit gepresster Stimme. „Und wem helfen wir, wenn wir nur herumsitzen und nichts tun?“, entgegnete Alectis ernst. „Vielleicht ergibt sich noch eine Chance. Noch sind wir nicht unter der Erde!“, argumentierte Timeno verzweifelt. „Ich verurteile deine Entscheidung nicht. Wir haben alle viel durchgemacht. Aber wenn wir noch länger warten, gibt es uns nicht mehr.“ Mit diesen Worten ging Alectis entschlossen fort.
Timeno blieb regungslos stehen und schluckte. Er wusste, dass sein Kamerad Recht hatte. Aber er hatte Angst. Er wollte weder sterben noch weggebracht werden. Die Menschen, die sich gegen die Glanzhäute auflehnten, wurden im Regelfall an einen anderen Ort verschleppt; doch niemand wusste, wohin sie kamen oder was dort mit ihnen gemacht wurde. Wenn sie nicht in der Mine getötet wurden, mussten ihnen ungeheuer schreckliche Dinge an jenem Ort widerfahren. Alectis ging in der Menschenmenge umher und redete mit anderen Gravianern. Einige willigten ein, den riskanten Plan trotz der vielen Wachen durchzuziehen. Als er ein paar Leute zusammengetrommelt hatte, hockten sie sich auf den Boden und blieben so hinter ihren Artgenossen versteckt, dann versuchten sie, sich jeweils zu zweit mit aller Kraft die elektrischen Halsbänder vom Körper zu reißen, damit die Wachen ihnen keine lähmenden Stromschocks mehr verpassen konnten. Alectis und ein weiterer Gravianer zogen in entgegengesetzte Richtung an dem Halsband, das eng an der Haut einer ihrer Kameraden anlag. Sie zogen mit aller Kraft, die sie hatten; die Halsbänder wehrten sich vehement gegen den Zug der Kraftprotze. Doch auf einmal zersprang der Ring in seine beiden Einzelteile und der Gravianer war davon befreit. Die gehärteten Stahlstifte in den zwei gegenüberliegenden Schlössern des Elektroschockers waren mit einem gedämpften Knirschen zerbrochen. Sie hatten es geschafft! Nun waren auch die Anderen dran, zuerst Alectis.
Nach kurzer Zeit waren alle Kämpfer dieses kleinen Trupps ihre Halsbänder losgeworden. Sie schlichen sich behutsam durch die dichte Masse aus Gravianern zu der dunkelgrauen Tür zur Außenwelt. Ihre Herzen klopften so laut wie nie zuvor. Die Zeit schien langsamer zu vergehen, sich geradezu dahin zu schleppen. Der Weg zum Ausgang kam ihnen wie ein unendlicher Ozean aus unzählbar vielen Sekunden vor. Doch schließlich erreichten sie die Stahltür. „Jetzt!“, rief Alectis. Die fünf Gravianer begannen ihren Angriff. Sie bauten sich gegenseitig Räuberleitern und sprangen einer nach dem Anderen auf die unvorbereiteten Wachen am Ausgang zu, die mit keinem so plötzlichen Überfall gerechnet hatten. Die Angreifer klammerten sich an die Aufseher, schlugen ihnen ins Gesicht, griffen sich ihre Flügel und brachen ihnen mit bloßen Händen das flexible Exoskelett, während die Silizoiden durch das schwere Gewicht der Gravianer zu Boden gedrückt wurden. Die Glanzhäute schrien auf, während die Gravianer wieder auf den Füßen landeten und die stabförmigen Waffen der Aliens an sich rissen. „Das ist heute unsere einzige Chance auf die Freiheit!“, rief Alectis seinen Artgenossen mit deutlicher Stimme zu, „Wenn wir jetzt nichts unternehmen, bleiben wir vielleicht für immer gefangen!“ Die Leute blickten zu ihm, doch sie waren unentschlossen, ob es so eine gute Idee war, jetzt einen Angriff zu starten. Alectis wollte das Feuer auf eine der Wachen eröffnen, die ihren Kameraden zu Hilfe eilte, doch die fremdartige Waffe feuerte nicht. Es musste irgendeine Form von Schutzmechanismus geben, so wie die Sicherung eines Revolvers. Stattdessen schnappte der Gravianer sich nun die benommen durch die Luft schwebende Wache, die er zuvor attackiert hatte und nutzte sie eiskalt als lebendes Schild. Seine mutigen Mitstreiter taten es ihm gleich und die anderen Silizoiden blieben entrüstet stehen. Das letzte, was sie erwartet hatten, war eine Geiselnahme. Sie hatten generell nicht mit sehr viel taktischem Vorgehen bei den Menschen gerechnet.
„Is C´hkâsdîl Mroswnal, Karoîl ûkno Chwat, uso Rekraswil Sak!“ - „Wenn sie weiterleben sollen, macht ihr jetzt besser, was wir euch sagen!“, forderte er in der Sprache der Silizoiden, „ Ajrîwil Pwra~m ôsia Arsrac´hil Sac´haria~ Porksajen! Nosrûmil Sak Torjab uda Hjrimaw, Kil Titronen Hradsâr, iar Maêsronal Baw ihâ Srikjang!“ - „Öffnet die Tür und nehmt den anderen die Halsbänder ab! Ich gebe euch genau 10 Sekunden, ihr seid genug Leute, um das in der Zeit zu schaffen!“, drohte Alectis. Zuerst wollten die Glanzhäute den außer Kontrolle geratenen Menschen mit einer Art Fernbedienung für die Elektroschocker an den Hälsen der gereizten Gravianer drohen, doch als die Aufseher merkten, dass die Meuternden gar keine Halsbänder mehr trugen, ließen sie die Fernbedienungen langsam und schockiert sinken und steckten sie wieder in die dunkelbraunen Taschen an ihren Gürteln, die an einer Schnalle um ihre Schultern herum befestigt waren. „Lasst sie sofort los!“, verlangten die Aliens in der Sprache der Menschen. „Iôc´h uso? Uso kardil maronal, iâ?“ - „Oder was? Was willst du tun, hä?“, setzte Alectis der Wache ungehalten entgegen, während er seiner Geisel den Daumen in den Hals drückte, mit voller Kraft. Die Wache schrie auf, dann kam nur noch ein Fiepsen aus ihrem Hals, denn der Gravianer hatte seinen Finger so tief von der Seite hineingedrückt, dass er ihr die Luft abschnitt. „Uda Hjrimaw fil tetris. Kardel baw unka...“ - „Die 10 Sekunden sind um. Ihr habt es nicht anders...“ Mehrere Schüsse unterbrachen Alectis. Die Tür hinter ihnen war geöffnet worden und die Glanzhäute, die draußen Wache standen, hatten das Feuer mit Explosiv-Geschossen eröffnet. Die Meuternden schrien auf, ließen ihre Geiseln vor Schmerz los und sanken verkrampft zu Boden. „Ramîpril iala Tîrab Gâmenchk Bakrhan ôsia Trejhiab Prisam! Îak!“ - „Wir brauchen bei den großen Menschen Verstärkung und medizinische Hilfe! Sofort!“, forderte einer der Silizoiden gehetzt über ein Funkgerät. Alectis´ Geisel war schwer verletzt; sie hatte nicht nur mehrere Brüche in ihrem Exoskelett an Kopf und Flügeln, sondern ihr Äquivalent einer Luftröhre wurde von Alectis Finger durchbohrt. Sie musste in Lebensgefahr schweben.
Auch die anderen Wachen waren schwer mitgenommen und konnten sich vor Schmerz kaum rühren, hatten zum Teil das Bewusstsein verloren. Es dauerte nicht lange, bis die angeforderten Silizoiden vor Ort waren, den meuternden Gravianern erneut Hand- und Fußschellen anlegten und sie unter Aufwand all ihrer Kraft wegbringen wollten. Für jeden einzelnen Gravianer brauchten die Wachen dabei mehrere der ihren, denn trotz der blutenden Wunden wehrten sich Alectis und seine Kameraden vehement und konnten kaum gebändigt werden – bis einige Aufseher Nutzen von ihren leistungsstarken Tasern machten und so die aufmüpfige Truppe in einen Zustand der Bewusstlosigkeit versetzten. Nun wurden schnell die verletzten Wachen geborgen, auf die Krankenstation der fliegenden Untertasse gebracht und dort versorgt. Es kamen weitere Truppen zur Verstärkung in die Zelle, falls noch mehr Gravianer meuterten und schließlich wurde die gepanzerte Stahltür wieder verriegelt. „Alle hinlegen! Sofort!“, befahl der Hauptaufseher den Gravianern streng. Doch keiner rührte sich. Die Leute hatten die Situation genau beobachtet. Wenn Alectis und seine Komplizen die Metallringe vom Hals abreißen konnten – warum hätten die anderen Gravianer das nicht auch können sollen? Offensichtlich hatten sie ja doch noch eine Chance gegen die Glanzhäute. „Zwing uns doch.“, sagte Einer selbstbewusst und legte beide Hände bedrohlich an sein Halsband, um es zu zerreißen. Der Hauptaufseher erschrak, zückte hektisch seine Fernbedienung und verpasste allen Gravianern quälende Elektroschocks. „Sofort, hab ich gesagt!“, schrie er aufgeregt. Seine Stimme überschlug sich fast. Er und die anderen Gravianer fuhren mit krampfenden Zuckungen zu Boden und konnten sich kaum noch bewegen.
„Aeletil Sac´h Sarûker Sralâf! Ôsia Atreîsil Gad ilûe oiou!“ „Legt ihnen allen Fesseln an! Und bringt ihn hier auch weg!“ Der Vorgesetzte der Wachen zeigte auf den Menschen, der eben noch versuchte, sich den Elektroschocker vom Körper zu reißen. Die Silizoiden hatten zwar keine Augen in dem Sinne, die ihre Gefühle widerspiegelten, sondern nur die drei dreieckig angeordnete Felder aus jeweils tausenden, hellblauen Pigmenten in der oberen Hälfte ihres Gesichts; doch auch in diesen Sehorganen konnte man genau erkennen, was der Hauptaufseher fühlte. Angst. Er hatte Angst vor den Gravianern. Die drei Pigment-Felder waren auseinander gesträubt und dehnten sich in alle Richtungen aus, so ähnlich wie bei einem Menschen, der seine Augen weit aufgerissen hatte. Nun, wo alle Gravianer nahezu bewegungsunfähig auf dem Boden lagen, entspannte sich seine Mimik wieder ein wenig. „Eil Tarjab, uchi Ramîpril Chinap Basrukec´h iloi Bak... ic´ha Nrakratîl Bak Harûker, Hak Hujrukef...“ - „Seid froh, dass wir starke Arbeiter wie euch brauchen... Sonst würde ich euch alle erschießen, ihr Monster...“, murmelte er, immer noch erschrocken. Den alarmierenden Lärm des Aufruhrs konnte man in der gesamten Anlage hören, auch bei den Nyoma und Terrianern. Einige der Menschen wollten zu den Fenstern laufen, um zu sehen, was draußen vor sich ging, so auch Charisa. Doch die schwer bewaffneten Aliens, die die Terrianer bewachten, ließen sie nicht durchkommen. „Was ist da draußen los?“, fragte einer der Leute besorgt. „Braucht euch nicht zu interessieren. Und jetzt weg von den Wänden!“, befahl einer der Silizoiden aufgebracht. Die Menschen wurden wieder zurück in die Raummitte getrieben, sodass sie keine Chance hatten, auch nur einen einzigen Blick aus den vergitterten Löchern in der Mauer zu werfen. Ein verunsichertes Raunen ging durch die Menschenmenge; sie spekulierten, was draußen vor sich ging, ob die Gravianer vielleicht trotz der Präsenz der Glanzhäute einen Angriff gewagt hatten und ob sie vielleicht doch noch den Wind der Freiheit zu spüren bekamen. Die Leute warteten gespannt; Doch nichts geschah. Nach einiger Zeit schließlich waren sich die meisten sicher, dass sich diese Nacht nichts mehr zutragen würde und sie gingen erschöpft schlafen.