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Statt eines Vorworts
ОглавлениеAm 1. Juli 2003, neunundfünfzig Jahre nach meiner Verschleppung nach Auschwitz-Birkenau, kehrte ich aus eigenem Entschluss dorthin zurück. Ich war damals achtundsiebzig Jahre alt. Danach wollte ich das Unsagbare aus mir »herausschreiben«. Mithilfe des Zuspruchs und der Unterstützung meiner Familie und meiner Freunde schrieb ich das Buch Anima rerum. A Dolgok Lelke1, das 2005 in Ungarn erschien. Es hat mittlerweile die dritte Auflage erlebt und damit einen recht großen Leserkreis erreicht. Darüber freue ich mich sehr, und ich möchte allen, die es gelesen haben, dafür danken.
Schon vor 1947, dem Jahr, in dem das vorliegende Buch den Erzählfaden aus Die Seele der Dinge wieder aufnimmt, erlebten nicht alle von uns das, was uns widerfuhr, auf die gleiche Art und Weise. Das gilt auch für die Jahre danach. Aber auch wenn Schmerz, hilflose Wut, Erniedrigung und Hass nicht für jeden das Gleiche bedeuten, so gibt es doch viele Erfahrungen, die wir teilen. Und wir haben eben – abhängig vom Datum unserer Geburt – nach 1947 eine Reihe von Jahren gemeinsam erlebt.
Mit dem Titel meines Buches, Lieben und geliebt werden, möchte ich keine falschen Hoffnungen wecken. Ich schreibe über den ungarischen Sozialismus, und zwar so, wie ich ihn ganz persönlich erlebt habe. Es geht mir nicht um die Schilderung politischen Geschehens. Ich liebe es, über Menschen zu schreiben, bisweilen ein bisschen scharfzüngig, und nicht immer kann ich mir meinen Hang zur Ironie verkneifen. Schon so oft hat man mich gefragt, was ich für gut und was für wichtig halte, was ich tun würde, wenn … Man kann in der Tat viele Lehren ziehen aus etwas, was geschehen ist. Diese dann auch in die Tat umzusetzen, ist eine andere Sache.
Éva Fahidi schreibt an ihrem Buch (Foto: Zoltán Madácsi)
Die für mich wichtigste Lehre aus der Geschichte möchte ich an dieser Stelle deutlich herausstreichen: Es braucht ungefähr zweihundert Jahre, bis man wissen kann, was tatsächlich passiert ist. Denn nach dieser Zeit ist niemand mehr am Leben, der ein Interesse daran hätte, die historischen Tatsachen zu verdrehen. Diese allgemeingültige Weisheit stammt nicht von mir, sondern von Anatole France, den ich hier sinngemäß zitiere. Vor dem Hintergrund seiner Aussage kann ich denen, die die Geschichte heute verfälscht darstellen, nur prophezeien, dass die Nachwelt sie entlarven wird. Was sind schon zweihundert Jahre?
Eine persönliche Antwort auf die Frage, welche Konsequenzen ich aus dem, was geschehen ist, für wichtig halte, fällt mir leichter: Ich wünsche mir, dass sich die Welt in dem, was von grundlegender Wichtigkeit ist, einig ist. Aber was ist »grundlegend wichtig«?
Zum einen natürlich das LEBEN. Noch nie ist jemand von der »anderen Seite« zurückgekehrt. Hier, auf »dieser Seite«, sollte man human, anständig und mitfühlend sein, denn wir können ein einmal verlorenes Leben niemals ersetzen. Wer das in Abrede stellt, ist zynisch und unmenschlich.
Zum anderen die FREIHEIT. Eine Freiheit, die man nicht zu erklären braucht. Die Freiheit, in der sich der Wille der nicht manipulierten Mehrheit manifestiert – was zuweilen eine Zeitlang gelingt, wenn auch nicht perfekt, und was man dann Demokratie nennt.
Wir alle wissen aus Erfahrung, dass uns diejenigen Menschen am nächsten stehen, die in uns Gefühle erwecken, die uns glücklich machen oder auch manchmal schmerzlich sind. Menschen, von denen wir hoffen, dass wir ihnen wichtig sind, weil sie uns ihrerseits sehr wichtig sind. Menschen, denen wir vertrauen, denen wir alles sagen können, die wir lieben und die wir glücklich wissen wollen. Menschen, die unserem Alltag einen Inhalt geben, um derentwillen wir nach Hause eilen, um etwas Feines zu kochen.
Mit solchen Menschen habe ich in der Zeit des ungarischen Sozialismus gelebt. Mit ihnen teile ich die Erfahrungen jener Jahre. Diese Menschen sind das Wichtigste in meinem Leben. Über sie schreibe ich. Und ich danke ihnen dafür, dass sie stets für mich da waren und da sind.
12011 in der Übersetzung von Doris Fischer unter dem Titel Die Seele der Dinge erschienen im Lukas Verlag, Berlin.